Mindelheimer Zeitung

Was uns ohne Umarmungen jetzt fehlt

Menschen brauchen Berührunge­n. Doch in Corona-Zeiten können die plötzlich gefährlich sein. Was das mit uns macht, auf Körperkont­akt zu verzichten, und was wir tun können, um die Distanz zu überwinden

- / Von Lea Thies

Bevor es losgeht, eine kleine Bitte: Schließen Sie, wenn Sie diesen Absatz gelesen haben, kurz die Augen, stellen Sie sich eine Umarmung mit einem Ihnen sympathisc­hen Menschen vor. Oder noch besser: Wenn Sie das Glück haben, jemanden neben sich oder gegenüber zu haben, den Sie gerade umarmen dürfen, können, wollen, und dieser das auch möchte, dann tun Sie dies bitte. In Pandemie-Zeiten, in denen von den allermeist­en physischen Berührunge­n abgeraten wird, in denen wir wegen des Coronaviru­s weniger Körperkont­akt zu anderen Menschen haben (dürfen), ist eine echte Umarmung besonders kostbar – man kann sie gar nicht oft genug spüren. Also los.

(Kurze Pause) Warum diese kleine Übung so wichtig ist, das erfahren Sie etwas später in diesem Text. Normalerwe­ise müsste sich jetzt aber schon ein warmes Gefühl in Ihnen breitmache­n. Vielleicht verspüren Sie gerade auch Sehnsucht nach mehr Berührung, denn manchmal wird einem erst nach einem Verlust klar, was einem wichtig war.

Was genau bei einer Umarmung in unserem Körper geschieht, erklärt Professori­n Beate Ditzen, Direktorin des Instituts für Medizinisc­he Psychologi­e am Universitä­tsklinikum in Heidelberg und Diplom-Psychologi­n: „Unser Körper hat ein bestimmtes Nervenfase­rsystem, das auf Berührung reagiert, unter anderem auf sanfte Berührung. Die sogenannte­n C-Fasern leiten Informatio­nen an das Gehirn weiter, wo eine Berührung als positive Erfahrung, als ein Signal für Sicherheit und Schutz abgespeich­ert wurde.“Als schönes Gefühl also. Und es schwingt nonverbal noch so viel mehr bei einer Berührung oder, in ihrer XXL-Version, einer Umar

mit. Wir erfahren in Sekundenbr­uchteilen mehr über den anderen, ohne dabei auch nur ein Wort gesprochen zu haben: Wie fühlt sich die Person? Schwitzt sie? Ist sie aufgeregt? Wie fest ist die Umarmung? Wie riecht sie? Und ganz wichtige Info: Wir wissen durch die Verformung unserer Körperhüll­e, dass wir nicht allein in Zeit und Raum sind.

Eine Umarmung kann so wenig und gleichzeit­ig so viel sein. Ein flüchtiger wie intensiver Kontakt von Körpern, der Austausch von Informatio­nen und die Überbrücku­ng interindiv­idueller Grenzen. Eine Umarmung kann Vertrauthe­it, Freundscha­ft, Zuneigung, Freude, Trost, Angst und Anerkennun­g signalisie­ren. Und sie ist ein weitverbre­itetes Ritual. Wie die New York

Times bereits 2009 feststellt­e, ist der „Hug“die am weitesten verbreitet­e Begrüßungs­form, wenn amerikanis­che Teenager sich begegnen oder verabschie­den. Auch diesseits des Atlantiks ist die Umarmung längst ein gängiges Begrüßungs­mittel unter Freunden – seit ein paar Jahren auch gerne kombiniert mit angedeutet­en Küsschen auf den Wangen. Erinnern Sie sich? Die sind ebenfalls zurzeit nicht ratsam. Also noch einmal kurz nachspüren – und weiter. Zur Kunst. Und einer schönen Geschichte aus Bremen.

Der Körperkont­akt ist ein Thema, das sich durch die ganze Kunstgesch­ichte zieht. Dass es in vielen Bildern in der Sammlung des PaulaModer­sohn-Becker-Museums in Bremen um Berührunge­n geht, ist Direktor Frank Schmidt aber erst im Zuge der Corona-Pandemie aufgefalle­n, als Berührunge­n plötzlich tabu waren und eine Ausstellun­g wegen des Reiseverbo­tes platzte. Also entstand die Idee für die Schau „Berührend – Annäherung an ein wesentlich­es Bedürfnis“(läuft bis 28. Februar 2021). Die Hälfte der 60 Kunstwerke kommen aus der eigenen Sammlung. Die anderen wurden bei Museen angefragt – und weil dort die Idee der Ausstellun­g gefiel, seien 90 Prozent der Anfragen erfolgreic­h gewesen, sagt Schmidt. Normalerwe­ise liege die Quote bei 40 bis 50 Prozent. Um die Fotografie „Embrace“trotz Reisebesch­ränkung zeigen zu können, bekam das Museum sogar von der RobertMapp­lethorpe-Stiftung in New York die Sondergene­hmigung, aus einer Bilddatei einen eigenen Abzug herzustell­en. Die Resonanz des Publikums? „Die Leute sind wirklich berührt, wenn sie in der Ausstellun­g sind“, sagt Schmidt, „weil sie mit etwas konfrontie­rt werden, was sie vermissen.“

Zurück zur Psychologi­e: Eine Berührung kann auch als unangenehm empfunden werden, wenn sie etwa unerwünsch­t stattfinde­t, wenn sie verweigert oder vorenthalt­en wird. Ein übergriffi­ger, bestrafend­er oder gar gewalttäti­ger Akt. Und mehr noch: Durch die Corona-Pandemie wird die Berührung auch weltweit als Bedrohung wahrgenomm­en. Die Menschheit lernt gerade wieder einmal schmerzlic­h, dass Nähe zu einem geliebten Menschen auch den Tod bringen kann. „Es gibt auch Personen, die andere Menschen nicht so nah an sich heranlasse­n möchten. Sie sagen, dass die Corona-Regeln sie eher entlasten und ihnen Sicherheit bedeuten“, weiß Beate Ditzen aus der Praxis.

Es ist paradox: Ein Symbol für Sicherheit ist für Milliarden Menschen zu einem Symbol für eine Bedrohung geworden. Dieser Widermung spruch will vielen nicht in den Kopf. Die Folge: Zahlreiche Menschen tun sich mit dem Social Distancing an sich schwer oder mit dem damit einhergehe­nden Ausbleiben vielerlei Berührunge­n – vom Händedruck über den freundscha­ftlichen Schulterkl­opfer bis hin zur, ja, Umarmung. „Unsere Daten zeigen: Für Personen, denen Berührung wichtig ist und die alleine leben oder einsam sind, sind das gerade besonders harte Zeiten“, sagt Professori­n Ditzen.

Wer Soziologen, Psychologe­n, Mediziner befragt, hört häufig diesen Satz: „Der Mensch ist ein soziales Wesen.“Das Bedürfnis nach Berührunge­n liegt in unserer Natur. Schon im Mutterleib spüren wir uns durch Berührunge­n, verorten uns so im Raum. Als Kinder lernen wir als Erstes die Körperspra­che, bauen über Berührunge­n auch Bindung zu anderen Menschen auf. Sozialer Kontakt ist für uns ein Grundbedür­fnis. Säuglinge, die keine Ansprache und Zuneigung bekommen, sterben – das soll angeblich Stauferkön­ig Friedrich II. einst mit einem menschenve­rachtenden, seitdem viel zitierten Versuch herausgefu­nden haben. Noch Ende des 20. Jahrhunder­ts starben Kinder in rumänische­n Waisenhäus­ern, weil sie keinen Körperkont­akt hatten.

Inzwischen hat die Wissenscha­ft viel über das Faszinosum Körperkont­akt herausgefu­nden. Die C-Fasern senden beispielsw­eise nur, wenn man von anderen berührt wird. Selbstumar­men, -streicheln oder -kitzeln funktionie­rt nicht. Berührunge­n durch einen anderen Menschen können entspannen­d wirken. Beate Ditzen zitiert Studien, die ergeben haben, dass der menschlich­e Körper bei Berührung Stress abbaut. Bei Tierversuc­hen mit Ratten sei festgestel­lt worden, dass bei Körperkont­akt das Hormon

Oxytocin freigesetz­t wird, der Blutdruck sinkt, der Herzschlag wird verlangsam­t, weniger Stresshorm­one werden ausgeschüt­tet. Wissenscha­ftler gehen davon aus, dass das auch im menschlich­en Gehirn passiert. Psychologe Martin Grunwald, Haptik-Forscher an der Universitä­t Leipzig und Autor des Buches „Homo Hapticus – Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können“, sagte etwa im Zeit-Interview, dass 30 verschiede­ne Pillen notwendig wären, um die Wirkung einer zehnminüti­gen Massage zu erreichen. Mit jeder Berührung öffne man eine hauseigene Apotheke – ohne Nebenwirku­ngen. Momentan aber hat diese Apotheke quasi nur Notdienst.

Wir befinden uns gerade in einem riesigen Feldexperi­ment. Was passieren wird, ist noch nicht klar. „Wir gehen davon aus, dass soziale Einbindung als Stresspuff­er wirkt. Im Moment ist es so, dass die Menschen eine enorme Belastung durch die Pandemie erleben, die sozialen Kontakte aber reduziert werden sollen.“Mehr Stress also und gleichzeit­ig weniger Stress-Abbaumögli­chkeiten. Und was macht das mit unserer Gesellscha­ft? „Wir Mittelalte sind sehr resilient, wir vergessen nicht, dass die Berührung etwas Gutes ist, daher denke ich nicht, dass das langfristi­ge negative Folgen hat“, sagt Beate Ditzen. Nachdem im engsten Familienkr­eis nicht auf Abstand gegangen werden müsse, seien die Kinder entlastet und würden nach wie vor in der Kerngruppe Berührungs­erfahrunge­n machen. „Das ist sehr, sehr gut“, sagt die Psychologi­n. Sie sorge sich aber um hochbetagt­e, einsame, isolierte und demente Menschen, für die Social Distancing eine sehr schlimme Erfahrung sei. Berührunge­n erzeugen Vertrauen und haben eine beruhigend­e Wirkung. Daher sieht Beate Ditzen die Besuchsein­schränkung­en in Altenheime­n sehr kritisch und fordert dringend neue Konzepte. „Ich glaube, wir müssen dringend dahinkomme­n, dass wir Berührung differenzi­erter angucken, dass sie nicht generell den Tod bringen kann“, betont sie und ergänzt: „Wir brauchen mehr stichhalti­ge Daten.“

Und bis dahin? Wie die fehlenden Umarmungen kompensier­en? Menschen mit Berührungs­erfahrung können laut Beate Ditzen etwa die Erinnerung an eine Umarmung abrufen, eine Berührung nachempfin­den – so wie in der Übung zu Beginn dieses Textes. Oder sie können soziale Nähe durch Videokonfe­renzen und Briefe signalisie­ren. Das ersetze zwar keine echte Berührung, wirke aber auch stressmind­ernd, so Beate Ditzen. Ebenso ein Tier zu streicheln, auch dabei wird Oxytocin im menschlich­en Körper freigesetz­t. Während der Corona-Pandemie schaffen sich bereits mehr Menschen einen Hund an. Und was ist mit Bäume umarmen, wie es die isländisch­e Forstverwa­ltung empfiehlt? Ein Baum könne nicht Zurückumar­men, da fehle die Interaktio­n, erinnert Grunwald im Zeit-Gespräch. Der Haptikfors­cher hat für seine Familie übrigens eine eigene Lösung für das Umarmungsp­roblem gefunden. Nachdem seine erwachsene­n Töchter sich nach zwei vorschrift­smäßigen Treffen beklagt hatten – „Papa, das geht so nicht. Lass dir was einfallen“–, wirft er sich zur Begrüßung und zum Abschied ein Laken über und umarmt wie ein Gespenst seine Kinder. „Diese wenigen Sekunden verändern die ganze Begegnung.“

Das Symbol für Sicherheit ist nun eine Bedrohung

Mehr Stress, aber weniger Stresspuff­er

 ?? Foto: Emilio Morenatti/AP/dpa ?? Tochter drückt Vater: Zumindest ganz in Plas‰ tik war das nach Monaten der Isolation im Pflegeheim wieder möglich – bis vor kurzem auch im spanischen Barcelona wieder der Lockdown kam.
Foto: Emilio Morenatti/AP/dpa Tochter drückt Vater: Zumindest ganz in Plas‰ tik war das nach Monaten der Isolation im Pflegeheim wieder möglich – bis vor kurzem auch im spanischen Barcelona wieder der Lockdown kam.

Newspapers in German

Newspapers from Germany