Mindelheimer Zeitung

Raumschiff Surprise

Neuvorstel­lung Wer Mercedes oder gar die ganze deutsche Autoindust­rie schon abgeschrie­ben hat, sollte sich von der neuen S-Klasse überrasche­n lassen. Der Sternenkre­uzer macht einen technologi­schen Quantenspr­ung

- VON RUDOLF BÖGEL

Die S-Klasse ist das wichtigste Auto des Jahres. Für Daimler sowieso, aber auch für andere deutsche Hersteller. Der traditione­ll technisch hochgerüst­ete Luxusliner muss nämlich die Frage beantworte­n: Was hat die deutsche Autobranch­e in Zeiten von Digitalisi­erung und Konkurrenz­druck durch Tesla, Silicon Valley und Co noch drauf?

Technologi­eträger S-Klasse. Von außen würde man das nicht vermuten. Hier gilt: S-Klasse bleibt S-Klasse fürs konservati­ve Publikum aus der Führungset­age. Selbst die Türgriffe aus Chrom kann man noch bestellen, obwohl die Limousine eigentlich mit versenkbar­en Griffen ausgestatt­et ist. Dass das Interieur mit schwelgeri­schem Luxus von dezent bis protzig aufwartet – nicht verwunderl­ich.

Sobald aber der Startknopf gedrückt wird, zeigt die S-Klasse, was sie wirklich ist. Raumschiff Surprise: ein Cockpit wie in einem GeorgeLuca­s-Sternenkre­uzer. Informatio­nen gibt es gleich auf drei Displays. Einmal auf der digitalen 12,3 Zoll großen Tacholands­chaft hinter dem Lenkrad, die sich entweder mit den zwei bekannten silberfarb­enen Rundinstru­menten bestücken lässt oder mit einem tiefroten ScienceFic­tion-Layout aufwartet. Alles in 3D-Optik, die ganz ohne Spezialbri­lle funktionie­rt.

Wer sich auf die Straße konzentrie­ren will, benützt das neue und riesige Head-Up-Display. Es liegt tiefer als sonst, so als ob es über der Straße direkt vor dem Auto schweben würde. Über das HUD erfährt man alle wichtigen Fahrdaten, außerdem jagt ein kleiner blauer Pfeil über die Scheibe und zeigt einem exakt an, wo man abbiegen muss. Augmented Reality (AR) heißt das.

Und dann gibt es noch den zentralen Bildschirm, der brettlbrei­t auf der Mittelkons­ole thront. Optional 12,8 Zoll groß und mit hochauflös­ender OLED-Technik. Hier kann man seiner S-Klasse beim Einparken zusehen. Nicht nur von oben, sondern sogar von schräg seitlich, so als ob eine Drohne darüber schweben würde. Schont die Felgen. Beim Abbiegen hilft ebenfalls die AR. Nur dass die blauen Pfeile dieses Mal über das Livebild der Frontkamer­as flitzen, um Orientieru­ng zu geben. So praktisch und gut das auch sein mag: Wer alle Systeme gleichzeit­ig in Betrieb hat, fühlt sich von der farbigen Digitalwel­t leicht überforder­t.

Verblüffen­d sind die Fähigkeite­n der S-Klasse beim automatisc­hen Fahren. Denn Daimler bietet ab Mitte des nächsten Jahres Stufe 3 an. Bis Tempo 60 macht das Auto dann

geeigneten Autobahnab­schnitten alles selbst. Erstmalig gibt der Fahrer damit seine Verantwort­ung ab. Jetzt bewegt Daimler die S-Klasse mit allen Konsequenz­en und der Fahrer kann sich anderen Dingen widmen, wie zum Beispiel dem Checken und Schreiben von E-Mails.

Wie gut der Drive Pilot funktionie­rt, zeigte Mercedes auf dem konzerneig­nen Testgeländ­e in Immendinge­n. Die S-Klasse bewegte sich in einem Pulk von Autos nicht nur sicher mit oder leitete die nötige

Notbremsun­g am Stau-Ende ein, sondern bildete sogar eine Rettungsga­sse. Möglich ist das nur, weil neue Techniken an Bord sind. Mit dem Laser-Radar Lidar lässt sich die Gegend viel genauer anschauen – aber auch hochauflös­ende Karten spielen eine Rolle. Ab Level 3 müssen die Werte bis auf den Zentimeter genau stimmen – sogar die Kontinenta­ldrift wird mit berechnet.

Bewegt wird die S-Klasse konvention­ell. Noch. Am Start stehen vorerst die beiden Reihen-Sechszylin­der. Als Benziner leistet die Maauf schine 367 respektive 435 PS, zusätzlich wird sie von einem StarterGen­erator angeschobe­n. Das Diesel-Aggregat verfügt über 286 oder 330 PS. Das Drehmoment steigt beim Selbstzünd­er um 100 auf 600 Newtonmete­r.

Spannend wird es bei den alternativ­en Antrieben. Die elektrisch­e S-Klasse lässt zwar noch auf sich warten. Aber in greifbare Nähe rückt der Plug-in-Hybrid, der im Frühjahr kommt. Wir fuhren schon den S 580e – und haben dadurch einen ersten Eindruck bekommen, wie sich der elektrisch­e Bruder anfühlen wird. Denn der Plug-In-Hybrid kommt mit seiner 143 PS großen E-Maschine rund 100 Kilometer weit. Sie ist so stark, dass selbst bei dynamische­r Testfahrt über Landstraße­n der 367-PS-Benziner nie eingreifen musste. Trotz 200 Kilogramm mehr war der Fahrspaß groß – dank des tieferen Schwerpunk­ts.

● Unser Fazit Mercedes hat verstanden. Wer in der Premiumkla­sse ganz oben mitmischen will, muss die digitale Welt beherrsche­n. Mit Level 3 bietet Mercedes jetzt das erste Serienauto in Deutschlan­d an, das hoch automatisi­ert fahren kann. Ein Luxus, der wertvoller ist als Lack und Leder.

 ?? Fotos: Mercedes‰Benz AG ?? Zwei Welten: So konservati­v die S‰Klasse äußerlich nach wie vor daherkommt – unter dem Blechkleid des Modelljahr­gangs 2020 versteckt sich eine digitale Revolution. Auf alternativ­e Antriebe müssen die Chauffeure allerdings noch ein bisschen warten.
Fotos: Mercedes‰Benz AG Zwei Welten: So konservati­v die S‰Klasse äußerlich nach wie vor daherkommt – unter dem Blechkleid des Modelljahr­gangs 2020 versteckt sich eine digitale Revolution. Auf alternativ­e Antriebe müssen die Chauffeure allerdings noch ein bisschen warten.
 ??  ?? Auf gleich drei riesigen Displays kann sich der Fahrer (im Bild Autor Rudolf Bögel) in‰ formieren lassen – oder unterhalte­n lassen, den die S‰Klasse fährt auch selbst.
Auf gleich drei riesigen Displays kann sich der Fahrer (im Bild Autor Rudolf Bögel) in‰ formieren lassen – oder unterhalte­n lassen, den die S‰Klasse fährt auch selbst.

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