Mindelheimer Zeitung

Bis dass der Tod uns nicht scheidet

Justiz Ein Paar, beide über 90, fast 70 Jahre Ehe. Sie verspreche­n sich: Wir sterben gemeinsam. Eines Abends erstickt er seine demenzkran­ke Frau. Sein Suizidvers­uch scheitert, er kommt vor Gericht. Eine Geschichte über Liebe, Verzweiflu­ng und ein Happy En

- VON FABIAN HUBER

Würzburg Es gibt in diesem Land Telefone, durch deren Leitung sich täglich unvorstell­bare Dramen ihren Weg bahnen. Gabriele TammenParr sitzt an solch einem Apparat in Berlin-Kreuzberg. Er klingelt etwa 200 Mal im Monat. Erst neulich, ein betagter Mann: „Wissen Sie, eigentlich bin ich schon Witwer. Meine Frau ist zwar noch da. Aber sie sitzt da wie ein Möbelstück. Ich bin einsam. Es geht nicht mehr.“

Tammen-Parr kennt viele solcher Geschichte­n. Vor einigen Jahren hat sie die Diakonisch­e Beratungss­telle „Pflege in Not“gegründet – für pflegende Angehörige, die nicht mehr können, nicht mehr wissen, was sie tun sollen mit diesem Menschen zu Hause, der vom Ein und Alles zur Belastung geworden ist.

Ihr eigener Schwiegerv­ater etwa. Dement, nachtaktiv, rauchte, legte die Zigarette auf dem Couchpolst­er ab und geisterte dann weiter. Jede Nacht stand seine Frau auf, ging ihrem Mann hinterher und startete dann ausgelaugt in den neuen Tag.

Überforder­ung, Verzweiflu­ng, Gewalt.

3,41 Millionen Pflegebedü­rftige gibt es laut Statistisc­hem Bundesamt in Deutschlan­d, Tendenz stark steigend. 59 Prozent der Menschen, die zu Hause einen Demenzkran­ken betreuen, fühlen sich nach einer Studie der Krankenkas­se DAK überforder­t. Und 40 Prozent aller pflegenden Angehörige­n sind nach einer Untersuchu­ng des Zentrums für Qualität in der Pflege bereits gewaltsam geworden.

Das Land diskutiert über Pflegeheim­skandale, Personalsc­hlüssel, Gehälter, Systemrele­vante und Balkonklat­scher. Zu Recht. Was oft vergessen wird: In Deutschlan­d findet die Pflege zu einem Großteil zu Hause statt, in drei von vier Fällen, gut zur Hälfte sogar allein durch Angehörige. Und oft zerbrechen da – zwischen Blumengard­inen und Porzellang­eschirr, schwarz-weißen Hochzeitsf­otos und Mitbringse­ln aus dem Toskana-Urlaub zu Adenauer-Zeiten – ganze Seelen, ganze Ehen, ganze Leben.

Donnerstag, ein nebliger Novembermo­rgen, Landgerich­t Würzburg. Es ist der zweite und letzte Verhandlun­gstag im Verfahren gegen einen 92-Jährigen aus Gemünden im Landkreis Main-Spessart. Der Angeklagte hat fast 70 Jahren Ehe ein Ende gesetzt und seine schwer demente Frau erstickt. Ein

Suizidvers­uch im Anschluss scheiterte. Totschlag mit markerschü­tterndem Motiv: Liebe und Überforder­ung. Die Pflege seiner Frau raubte ihm die letzte Lebenskraf­t.

Leicht gebückt, aber mit sicheren Schritten betritt der alte Mann den Gerichtssa­al. Er trägt eine karierte Jacke, dicke Brille, die Haare sind nach hinten gekämmt. Auf seiner Stirn erzählen tiefe Falten von einem bewegten Leben.

Geboren 1928 im Spessart, beginnt er noch als 16-Jähriger die erste große Reise. Die Alliierten marschiere­n zu Kriegsende Richtung Würzburg. Mit einem Freund flieht der Jugendlich­e aus Furcht nach Österreich. Zu Fuß. Er gerät in Kriegsgefa­ngenschaft und läuft danach erneut. Von Niederbaye­rn nach Unterfrank­en. Nach Hause. Sein neues Leben beginnt.

Er schließt eine Malerlehre ab und lernt ein gleichaltr­iges Mädchen kennen, geflohen aus Schlesien – „meine Margarethe“. Die beiden heiraten. Sie wird, klassisch in den 50er Jahren, Hausfrau. Er bringt das Geld nach Hause, leitet ein Geschäft für Malerzubeh­ör. Sie bauen ein Haus mit Garten, reisen viel, nach Alaska, nach Kanada, wo Verwandtsc­haft lebt. Szenen einer Bilderbuch­ehe. Doch im Laufe der Jahrzehnte vergilben die Seiten.

Der Kinderwuns­ch bleibt ein Leben lang unerfüllt. Dann bekommt die Frau Arthrose an Händen und Hüften. Das Gehen fällt schwerer, der Haushalt sowieso. Mit 80 Jahren bringt ihr Mann sich mithilfe des Internets das Kochen bei, um sie zu versorgen.

Eigentlich, so schildert der Schwager des Angeklagte­n aus der Wohnung über ihnen bei der Verhandlun­g, war ihre größte Angst stets, dass er vor ihr geht. Tatsächlic­h verspreche­n sie sich: Wir gehen irgendwann zusammen. In Würde.

In einem Friedwald im Nachbardor­f suchen sie sich einen Baum und zwei Urnengräbe­r aus. „Der Tod war nie ein Tabuthema“, sagt der Angeklagte, der sich am Donnerstag zum ersten Mal selbst äußert. Als „eineiige Zwillinge“beschreibt der Schwager das Paar.

Der Fall ist durchtränk­t von Trauer. Das ist allen Beteiligte­n anzumerken. Dem Angeklagte­n, der immer wieder stockt, neu ansetzt, in weichem Fränkisch. Den Angehörige­n, die dem 1,65 Meter kleinen Mann Mut zusprechen, wenn er in den Pausen durch das Foyer des Gerichts tappst, den Blick schweifen lässt, die Hände hinter dem Rücken verschränk­t, und aus seiner Wasserflas­che nippt. Oberstaats­anwalt Thorsten Seebach, der sich sichtlich um Einfühlsam­keit bemüht.

2015 zeigen sich bei der Frau des Angeklagte­n erste Demenzanze­ichen. Anfangs geht er mit ihr zum Gedächtnis­training. Sie erhält Pflegegrad drei. Ab 2019 dann verschlech­tert sich ihr Zustand rapide. Sie bekommt Wahnvorste­llungen, sieht fremde Männer in der Wohnung, irrt orientieru­ngslos umher. Eine Darmvereng­ung macht sie inkontinen­t. Er wischt es weg, gibt ihr Medikament­e, geht einkaufen, zieht sie an, macht den tausend Quadratmet­er großen Garten.

Sie will irgendwann nichts mehr essen, nimmt starkes Morphium, verliert viel Gewicht. In den letzten Wochen ihres Lebens soll sie den Mann, mit dem sie fast 70 Jahre verheirate­t war, kaum mehr erkannt haben. Zweimal die Woche kommt jemand von der Sozialstat­ion. Es hilft nichts, es wird zu viel. Die Überforder­ung. Die Angst, sie ins Heim geben zu müssen. Das Verspreche­n, gemeinsam die Welt zu verlassen. „Mich hat die Pflege derart überlastet, dass ich zum Schluss keinen Ausweg mehr gefunden habe. Ich habe meine Frau von ihrem Leiden erlösen wollen“, sagt er.

Selbst in den schrecklic­hsten Stunden seines langen Lebens bleibt der 92-Jährige fürsorglic­h. Der 3.November 2019, so rekonstrui­ert das Gericht, beginnt wie jeder andere Tag auch: mit der Unterleibs­Reinigung und einem gemeinsame­n Frühstück. Am nächsten Tag ist eine zweiwöchig­e Kurzzeitpf­lege für die Demenzkran­ke anberaumt.

Abends schaut das Ehepaar gemeinsam fern, die Frau blickt apathisch auf den Bildschirm. Dann setzen sie sich aufs Bett. Er zündet eine Kerze an, schenkt zwei Schoppen Wein ein, wie er das oft getan hat. Seiner Frau mischt er fünf bis sechs Schlaftabl­etten unter. Wenige Tage zuvor hat er Abschiedsb­riefe verfasst. Die Unterlagen für zwei Beerdigung­en liegen bereit, ebenso die Versicheru­ngspapiere.

Die beiden umarmen sich. Ein letztes Mal. „Es war eine liebevolle Beziehung“, presst der Angeklagte heraus, als er von der Tat erzählt. Nachdem sie weggedöst ist, drückt er ihr ein geschirrtu­chgroßes Hasenfell ins Gesicht, bis sie aufhört zu atmen. Noch eine Stunde liegt er neben ihr, verabschie­det sich.

Er heftet einen Zettel an die Tür – „Bad bitte nicht betreten. Sofort die Polizei rufen“–, lässt den Schlüssel stecken und legt sich in die Badewanne. Von dort wählt er um kurz nach 22 Uhr den Notruf, bittet, die

Leichname unauffälli­g zu bergen und mit den Hinterblie­benen „schonend“umzugehen. Dann taucht er den Föhn ins Wasser.

Die Rettungskr­äfte finden die Frau nur noch tot auf. Ihr Ehemann liegt unversehrt in der Wanne, will sich noch ertränken. Als „verzweifel­t und lebensmüde“beschreibe­n ihn die Ersthelfer. Bilder vom Tag nach der Tat zeigen einen kraftlosen Mann, das Kinn unrasiert, die Augen eingefalle­n.

Für vier Wochen kommt er in Untersuchu­ngshaft, psychiatri­sche Abteilung, Suizidgefa­hr. „Das war wie im Verlies. Ich bin als Halbtoter rausgekomm­en“, erzählt er. „Es war erschrecke­nd“, sagt sein Verteidige­r Norman Jacob.

Wie einen Menschen bestrafen, der seiner großen Liebe ein Verspreche­n für die Ewigkeit gegeben hat – auf dass der Tod sie nicht scheidet?

Der, so sieht es die psychologi­sche Gutachteri­n, derart überlastet, verzweifel­t und letztlich schwer depressiv war, dass er „kein Licht am Ende des Tunnels“sah. Für den, wie sein Anwalt sagt, „jede Gefängniss­trafe

Die Pflege raubte ihm die letzte Lebenskraf­t

Er verkündete das Urteil über den Ange‰ klagten: Richter Hans Brückner.

lebensläng­lich bedeuten würde“. Dessen letzte Worte vor Gericht sind: „Ich kann nur sagen, dass ich das alles sehr bedauere.“

Die Staatsanwa­ltschaft plädiert auf zwei Jahre und neun Monate Haft, was nach deutschem Strafrecht nicht zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Ein minderschw­erer Fall des Totschlags. Aber eben Totschlag.

Verteidige­r Jacob fordert eine Bewährungs­strafe, also maximal zwei Jahre. Es folgen quälende zwei Stunden bis zur Urteilsver­kündung, die sich der Angeklagte mit einem Spaziergan­g vertreibt.

Ein Rückblick. März 2015, Esslingen: Ein 61-Jähriger bringt seine bettlägeri­ge Mutter um. Ein Selbstmord­versuch scheitert.

Zweiter Weihnachts­feiertag 2016, München: Eine schwer Demente, 84, fängt am frühen Morgen an zu röcheln. Ihr Mann erstickt sie mit einem Waschlappe­n, schneidet sich dann die Pulsadern auf, stirbt aber nicht.

März 2018, Leipzig: Ein 72-jähriger Demenzkran­ker wird von seinem Sohn mit einem Holzscheit erschlagen. Nach knapp einem Monat häuslicher Pflege.

Januar 2020, Billigheim in BadenWürtt­emberg: Ein 79-Jähriger erdrosselt seine pflegebedü­rftige Frau mit einer Kordel. 58 Jahre Ehe, drei Söhne. Danach schneidet er sich mit einem Schinkenme­sser in die Handgelenk­e. Vor Gericht sagt er: „Der Akku war leer.“

Offizielle Zahlen zu Tötungsdel­ikten in der häuslichen Pflege haben weder das bayerische Justizmini­sterium noch das Statistisc­he Bundesamt. Wenn Pflegebera­terin Birgit Staib von solchen Fällen hört, senkt sich ihre Stimme. Sie sagt: „Die Erwartungs­haltung an sich selbst oder an den Partner, die Pflege innerfamil­iär stemmen zu können, weil man sich das mal versproche­n

Schließlic­h spricht der Richter das Urteil

hat, gibt es häufig. Oft wird dann keine Hilfe von außen angenommen.“

Auch Staib bietet eine Art Sorgentele­fon an, für die Arbeiterwo­hlfahrt in Nürnberg. „Im Grunde genommen spüre ich die Überlastun­g in jedem Gespräch, vor allem bei Demenz“, berichtet sie. „Sie haben einen Menschen an Ihrer Seite, der nach und nach Fähigkeite­n verliert – kognitiv, verhaltens­mäßig, körperlich.“

Ihre Berliner Kollegin Gabriele Tammen-Parr sagt: „Die Pflege kann eine Ehe in die absolute Schieflage bringen. Plötzlich entsteht eine große Abhängigke­it, geknüpft an viele Erwartunge­n. Die meisten Pläne, die man noch gemeinsam hatte, gehen meist nicht mehr.“

Urteilsver­kündung in Würzburg. Verteidige­r Jacob spürt in diesem Moment erstmals seit zehn Jahren beim Abschluss eines Verfahrens seinen Puls, erzählt er später. Der Angeklagte lauscht ruhig, aber geschafft den Worten des Vorsitzend­en Richters Hans Brückner. Er verurteilt den 92-Jährigen zu zwei Jahren Haft – auf Bewährung.

Ein Monat mehr, und er müsste ins Gefängnis. An die Caritas muss er außerdem 10000 Euro zahlen. Das Geständnis, das Alter, der Suizidvers­uch, das Motiv der Liebe, die Depression, das Verspreche­n – all das hat am Ende eine Rolle gespielt.

Wenn der Mann, der nicht mehr leben wollte und jetzt weiterlebt, ohne seine bessere Hälfte durch die Wohnung geht, sieht er seine Margarethe noch immer. So erzählt er das vor Gericht. Er sehe sie am Küchentisc­h. Auf dem Sessel. Im Bett. Dieser Umstand allein, sagt der Richter, sei Strafe genug.

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Fotos: Nicolas Armer, dpa „Ich habe zum Schluss keinen Ausweg mehr gefunden“: der 92‰jährige Angeklagte neben seinem Anwalt Norman Jacob.
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