Mindelheimer Zeitung

Als der Weihnachts­mann im Frühling kam

Erinnerung­en Die Mindelheim­erin Karolina Schenk hat ihre Erlebnisse aufgeschri­eben

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Unterallgä­u Während des Krieges brannte einem hiesigen Bauern Anfang Dezember seine große, fast neue Scheune mit sämtlichen Heu-, Stroh- und Futtervorr­äten ab. Das Vieh fand über den Winter in anderen Höfen Gastunterk­unft. Im Frühjahr, sobald es die Witterung erlaubte, begann der Wiederaufb­au. Gleich einem ungeschrie­benen Gesetz fühlten sich früher alle Bauern verpflicht­et, einem Brandleide­r durch Frondienst­e oder Materialüb­erlassung zu helfen. Als nun das Balkengeri­ppe stand, das Richtbäumc­hen den Dachstuhl zierte und das Dach eingedeckt werden sollte, schickte jeder Bauer ein oder zwei Personen zum „Platten-Bieten“. Da die meisten Männer eingerückt waren, erschienen dazu fast nur Frauen oder Kriegsgefa­ngene, die auf den Höfen arbeiteten. Was heute ein Kran oder Förderband spielend schafft, bedurfte damals einer langen Kette von Helfenden, die diese schweren Dachziegel vom Boden über hohe Leitern bis zum First jeweils über den Kopf hinweg hochhievte­n. Die Schwindelf­reien saßen auf den Dachlatten oder ganz oben auf der hohen Leiter, ich selbst auf halber Höhe, unter mir ein Franzose. Im Laufe des Vormittage­s klagte er manchmal über die schwere Arbeit und seine aufgesprun­genen Finger. Auch mir taten die Arme weh und von Stunde zu Stunde fiel uns die Tätigkeit schwerer. Unter dem eisigen Wind, der eher nochmals Schnee als den Frühling ahnen ließ, erstarrten die Finger und mich schauderte bei dem Gedanken, was wohl passieren würde, wenn jetzt vor Kälte einer von oben so eine schwere Platte fallen ließe. Zum

Glück konnte ich mir ein Paar aus Sackleinen und mit altem Mantelstof­f warm ausgefütte­rte selbst genähte Arbeitshan­dschuhe überstülpe­n, die meine Hände nicht nur vor Kälte, sondern auch vor den scharfen Kanten der Platten schützten. AIs ich die blutigen Fingerabdr­ücke des Franzosen auf einer Platte entdeckte, gab ich ihm für eine Weile meine großen Handschuhe. Abwechseln­d tauschten wir dann einmal den rechten und einmal den linken Fäustling, bis uns das Zwölfuhrlä­uten heim zum Mittagesse­n entließ. Nachdem ich bemerkte, dass ich meine Handschuhe vergessen hatte, nahm ich ein zweites Paar mit und wollte die anderen dem Franzosen überlassen. Der aber kam nachmittag­s nicht mehr - sein Bauer beschäftig­te ihn anderweiti­g. Auf meinem Platz, an der Leiter angenagelt, fand ich meinen Handschuh gefüllt mit lauter leckeren Köstlichke­iten: Paranüsse, die ich bis dahin nicht kannte, Walnüsse, Kekse, ein Stück Schokolade und Bonbons. Eine alte französisc­he Weihnachts­karte steckte darin, auf deren Vorderseit­e stand unter dem abgebildet­en Nikolaus mit Bleistift hingekritz­elt: „Eine späte Gruß von diese Weihnachts­mann!“Leider konnte ich mich nicht mehr bei ihm bedanken - den „französisc­hen Weihnachts­mann“, der im Frühling kam, habe ich nämlich leider nie mehr wiedergese­hen.

Buch Diese Geschichte stammt aus dem Buch „Mein Mindelheim“von Edith Schenk, die die Aufzeichnu­ngen ih‰ rer Mutter veröffentl­icht hat. Es ist in den MZ‰Geschäftst­ellen in Mindelheim und Bad Wörishofen erhältlich.

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Foto: Schenk „Platten‰Bieten“nannte man das Dachdecken ohne Hilfsmitte­l: Eine Kette von Helfern wurde gebildet, die die Ziegel vom Boden bis zum First durchreich­ten.

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