Gnade für den Priester?
Kirche Ein Geistlicher des katholischen Bistums Würzburg wurde wegen sexuellen Missbrauchs einer damals Zwölfjährigen verurteilt. Doch frühere Gemeindemitglieder akzeptieren das nicht. Sie wollen den Bischof dazu bringen, dem Mann eine zweite Chance zu geben
Würzburg Der 43-jährige katholische Priester K., der Pfarrer der Pfarreiengemeinschaft „Heiliges Kreuz Bad Bocklet“in Unterfranken war, ist wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt worden – im Namen des Volkes. Doch ein Teil des Volkes ist damit nicht einverstanden. Dass Gemeindemitglieder in einer ersten Reaktion nicht glauben wollen, dass sich ihr Pfarrer schuldig gemacht haben könnte, kommt durchaus häufig vor. Doch was gerade im Norden Bayerns geschieht, ist ungewöhnlich. Dort, in Bad Bocklet mit seinen gut 4500 Einwohnern und Umgebung, verurteilen einige Katholiken K. nicht. Im Gegenteil: Sie wollen ihn wiederhaben als Pfarrer. Sie haben Angst um ihn. Machen sich Sorgen, dass er zerbricht.
„Wir beten jeden Tag zu Hause für ihn und in der Kirche einen Rosenkranz“, sagt eine Frau, die sich seit Monaten für K. starkmacht. Sie gehört zu einem Unterstützerkreis, der sich für ihn gebildet hat. Momentan besteht er aus rund 50 Personen. Die meisten möchten anonym bleiben. Eine der Initiatorinnen, Ulla Dempsey, äußert sich dagegen ganz offen. „Wir lassen ihn nicht fallen“, sagt sie kämpferisch.
K., muss man wissen, hat vor Gericht eingeräumt, mit der jungen Frau, die ihm den sexuellen Missbrauch vorwarf, eine Beziehung eingegangen zu sein. Aber erst, als sie 18 Jahre alt gewesen sei, wie er erklärte. Dass er seine einstige Ministrantin missbraucht haben soll, als sie zwölf war, gab er nicht zu. Es existiert kein Geständnis. Weder eines aus einem ersten Prozess im Sommer 2020 vor dem Amtsgericht Bad Kissingen noch eines aus einem zweiten Prozess vor wenigen Wochen vorm Landgericht Schweinfurt.
Dafür existieren Briefe. Bereits nach dem ersten Prozess wurde der Würzburger Bischof Franz Jung von K.’s Unterstützern angeschrieben. Zurzeit läuft eine Unterschriften-Aktion. Und Bernd-Theo Hansen, der als „Vorsitzender der Pfarreienkonferenz Bad Bocklet“firmiert, hat schon einen weiteren Brief an den Bischof vorbereitet, den er ihm Anfang nächster Woche zusenden will. Hansen sagt, er erkenne das Urteil an. Dennoch solle sich Jung für K. einsetzen und ihm die Chance geben, sich an anderer Stelle als Priester zu bewähren.
In dessen früheren Gemeinden werden gerade Unterschriftenlisten herumgereicht. Auf einer heißt es einleitend: „Wie auch Sie, so bedauern wir zutiefst, dass Kinder Opfer von Missbrauch durch Priester und Personen im kirchlichen Dienst geworden sind.“Im Fall von K. handele es sich jedoch nicht um Missbrauch. Er habe vor Gericht und in vielen privaten Gesprächen seine Unschuld beteuert. „Wir glauben ihm, auch wenn das Gerichtsurteil anders lautet“, betont Dempsey.
Die Gemeinden von Pfarrer K. wurden vor etwa einem Jahr darüber informiert, dass die Staatsanwaltschaft Schweinfurt gegen ihn ermittelt und der Bischof ihn vom priesterlichen Dienst suspendiert habe. Seither sitzt der Schock tief. „Wir waren über die kühle Art und Weise tief betroffen, wie es uns gesagt wurde. Und auch darüber, dass der Mann vom Bistum schon schuldig gesprochen wurde, bevor überhaupt der Prozess begonnen hat“, kritisiert sein Unterstützerkreis. „Er ist ein guter Pfarrer“, sagt Ulla Dempsey aus Steinach, einem Ortsteil von Bad Bocklet.
Die heute 23-Jährige, die K. laut rechtskräftigem Gerichtsurteil in einer anderen Pfarreiengemeinschaft missbrauchte und später mit ihr liiert war, kennen die Gemeindemitglieder nicht. Sie haben aber eine Meinung über sie: Sie habe Zuwendung gesucht, und der Pfarrer habe sich nicht wehren können. Überhaupt sei er viel zu gutmütig. Eine Unterstützerin mutmaßt: „Unglückliche Umstände haben ihn in diese Situation gebracht.“
Der Fall K. ist komplexer als manch anderer Missbrauchsfall, in dem es einen Täter und – oft – traumatisierte Opfer gibt, die ihr Leben lang an den Folgen der sexualisierten Gewalt leiden. Nicht von ungefähr bezeichnen sich Betroffene als Überlebende und den Missbrauch als Seelenmord.
K. wird nicht als Täter verachtet, sondern als tiefreligiöser Mensch verehrt, regelrecht in den Himmel gehoben. „Viele Menschen sind wegen ihm gerne in die Kirche gegangen“, heißt es. „Seine ökumenischen Gottesdienste waren immer sehr gut“, sagt selbst ein evangelischer Christ. „Alle mögen ihn“, ist sich eine Frau sicher, „auch die Kinder in der Gemeinde; sie fragen nach ihm, sie vermissen ihn“.
Auch die heute 23-Jährige hat ihn offenbar sehr gemocht. Sie belastete ihn, fühlte sich zugleich aber – wie sie in den beiden Prozessen ausführte – nicht von ihm missbraucht. Wenige Tage vor der ersten Verhandlung in Bad Kissingen im Sommer 2020 schickte sie ihm noch Liebesbotschaften. Der Angeklagte gab dem Richter sein Handy, und der las die Nachrichten laut vor. Inzwischen sind K. und die junge Frau kein Paar mehr. Er habe die Beziehung beendet, sagte er.
Viele Zeugen waren im ersten Prozess geladen. Darunter die Gemeindereferentin, die das Bistum Würzburg im Jahr 2011 über die angebliche Nähe des Priesters zu dem Mädchen informiert hatte. Die Mutter, die sich wenig wunderte über den Kontakt ihrer Tochter zu dem erwachsenen Mann. Die Lehrerin, die von psychischen Problemen ihrer ehemaligen Schülerin aufgrund schwieriger Familienverhältnisse erzählte. Die Religionslehrerin, die sich vehement für K. aussprach.
Das Gericht verurteilte ihn schließlich zu einer Haftstrafe von einem Jahr und vier Monaten – auf Bewährung. Die Wahrheitsfindung sei nicht einfach gewesen, sagte der Amtsrichter in seiner Urteilsbegründung und verwies darauf, dass die junge Frau K. bei ihrer ersten polizeilichen Vernehmung entlastet und dann ihre Aussage revidiert habe. Für den Priester sprach dem Richter zufolge, dass er sich zum Zeitpunkt des Prozesses seit zehn Jahren nichts zuschulden habe kommen lassen. Mit der Situation, dass ein Mädchen seine Nähe gesucht habe, sei er überfordert gewesen. Er sei kein Kinderschänder. „Er hätte die Situation bereinigen müssen, das hat er nicht getan, sondern er hat sie eskalieren lassen.“Dabei habe er die Verantwortung gehabt. So die Worte des Richters.
Die Verteidigung K’.s hatte auf Freispruch plädiert und die junge Frau, die als Zeugin geladen war, als unglaubwürdig dargestellt. Sie habe ihn nur deswegen des sexuellen Missbrauchs bezichtigt, weil er dann kein Priester mehr sein könne, sondern frei wäre – für sie. Die Anklage hatte eine Haftstrafe ohne Bewährung gefordert. Für eine Bewährungsstrafe fehlte aus ihrer Sicht die Voraussetzung: ein Geständnis und Reue. Beide Seiten legten Berufung ein. Damit keimte bei einigen seiner Unterstützer die Hoffnung auf, dass K. in seine Pfarreiengemeinschaft zurückkehren könnte. Ein weiterer Prozess werde es richten.
Es kam anders. Der Richter in der Berufungsverhandlung vorm Landgericht Schweinfurt stellte der Zeugin viele Fragen. Wann ist es passiert, was, wo, wie oft? Die junge Frau blieb bei ihrem Vorwurf, schilderte Details, bejahte Zungenkuss, Berührungen, sexuelle Handlungen. K. schaute immer wieder verwundert in ihre Richtung, einige Male schüttelte er leicht den Kopf. Verteidigung und Anklage zogen ihre Anträge auf Berufung zurück. Das Urteil von Bad Kissingen wurde somit rechtskräftig.
In Paragraf 176, Strafgesetzbuch, steht: „Wer sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen lässt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft.“Einvernehmlichkeit spielt keine Rolle.
Einige von K.’s Unterstützern wollen das Urteil nicht akzeptieren. Um den erhofften Freispruch doch noch erreichen zu können, müsse erneut verhandelt werden. „Ein Wiederaufnahmeverfahren ist nur möglich, wenn neue Beweise vorliegen, die dem Gericht zum Zeitpunkt des Urteils nicht vorgelegen oder nicht bekannt waren – oder wenn die Zeugin ihre Aussage revidiert“, erläutert der Rechtsanwalt des
„Er ist ein guter Pfarrer“, sagt eine Unterstützerin
Der Bistumssprecher mahnt, die Fakten anzuerkennen
Priesters. Warum sein Mandant in beiden Prozessen keine Aussage machte und lediglich auf seine Angaben im Zuge der Ermittlungen verwies, dazu will er nichts sagen.
Das Schweigen K.’s beschäftigt seine Unterstützer sehr. Sie meinen: Er hätte sich verteidigen, vor Gericht aufstehen und sagen sollen: „Ich bin unschuldig!“Dass er stumm blieb, ist das Einzige, das sie ihm vorhalten. Eine Frau sagt, K. habe sich wohl als gläubiger Christ an Jesus orientiert, sein Schicksal in die Hände Gottes gelegt. Und dass er den Zölibat, die priesterliche Ehelosigkeit, gebrochen habe – „das wird er seinem Herrgott schon gebeichtet haben“. Damit sei ihm vergeben.
Vergebung erhoffen sich die Unterstützer auch vom Würzburger Bischof. K. erwartet ein kirchenrechtliches Verfahren, bei dem die Öffentlichkeit ausgeschlossen ist. „Die Akten des staatlichen Verfahrens wurden nach Abschluss dieses Verfahrens beantragt. Wenn diese Akten vorliegen, wird die kirchliche Voruntersuchung fortgesetzt“, sagt Bistumssprecher Bernhard Schweßinger. Dass Bischof Franz Jung einen wegen sexuellen Missbrauchs verurteilten Priester in seine Gemeinde zurücksendet? Unvorstellbar. Da können K.’s Unterstützer sogar mit ihrem Kirchenaustritt drohen. Trotz des Urteils sind sie der Überzeugung: „K. ist ein Bauernopfer.“Die anderen, die wirklich Kinder missbraucht, Gewalt angewendet und ihre Opfer bedroht hätten, das seien doch die Schlimmen – nicht K.! Der Richter im Berufungsprozess sei gegen ihn gewesen, meinen sie. Es stehe Aussage gegen Aussage. Eine Frau sagt, dass sie Papst Franziskus einen Brief geschrieben habe, mit der Bitte um Gnade für K.
Der Papst jedoch könnte ihn aus dem Klerikerstand entlassen. Zuletzt war das im Bistum Würzburg im Januar 2020 der Fall. Damals wurde ein suspendierter Priester laisiert – viele Jahre nach seiner Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs eines elfjährigen Jungen und nachdem weitere Vergehen von ihm ans Licht gekommen waren.
Am vergangenen Montag wurden erste Unterschriftenlisten im Falle K.’s an den Bischof geschickt. Weitere sollen folgen. Bistumssprecher Bernhard Schweßinger lässt jedoch keinen Zweifel offen. In einer Stellungnahme von ihm heißt es unmissverständlich: Der bisherige Pfarrer der Pfarreiengemeinschaft „Heiliges Kreuz Bad Bocklet“sei mit der Rücknahme der Berufung in der Hauptverhandlung vor dem Landgericht Schweinfurt am 18. Februar 2021 rechtskräftig zu einem Jahr und vier Monaten auf Bewährung verurteilt worden. Der Priester sei damit schuldig gesprochen. „Dieses Urteil“, so Schweßinger, „und das Leid der Betroffenen gilt es, vor Ort zu akzeptieren und die Fakten anzuerkennen.“K. werde, betont er, nicht mehr in seine Gemeinden zurückkehren. Das habe der Priester bereits am 25. Februar erklärt. Seine Stelle wird jetzt neu ausgeschrieben.
Wie es mit K. weitergeht, soll im kirchlichen Verfahren geklärt werden. Es werde, ist zu hören, wohl in Kürze beginnen. Die Pfarreiengemeinschaft „Heiliges Kreuz Bad Bocklet“in Unterfranken wird derweil von einem anderen Pfarrer verwaltet. Auf ihrer Internetseite finden sich kaum mehr Spuren von K. Man muss seinen Namen in die Suchmaske eintippen, um auf ein paar Treffer zu stoßen. Wer seinen Namen bei Google eingibt, findet Berichte und Fotos, die das Bild eines lebenslustigen, begeisternden jungen Priesters zeichnen. Einen, wie ihn die katholische Kirche angesichts ihrer Skandale und hohen Austrittszahlen gebrauchen könnte. Der Schein trog.