Mindelheimer Zeitung

Chaostage

Pandemie Kanzlerin Angela Merkel und die Länderchef­s versuchen, die dritte Corona-Welle zu brechen, und geraten in einen Sturm der Kritik. Von einem Plan, der nicht aufgeht. Horror-Kurven, die ihren Schrecken verlieren. Und Politikern, denen nur noch Galg

- VON ULI BACHMEIER UND BERNHARD JUNGINGER

Berlin/München Es ist 9.53 Uhr am Mittwoch, als die Einladung zum Blitzgipfe­l mit der Bundeskanz­lerin an die deutschen Ministerpr­äsidenten ergeht. Viele sind völlig überrascht. Doch weit größere Überraschu­ngen stehen ihnen und dem ganzen Land an diesem denkwürdig­en Tag noch bevor. Um 11 Uhr beginnt die Videoschal­te und Angela Merkel (CDU) kommt gleich zum Punkt. Sie habe entschiede­n, sagt sie, die Verordnung­en zur sogenannte­n Osterruhe nicht umzusetzen, sondern vielmehr zu stoppen. Die massive Kritik an den CoronaBesc­hlüssen des Bund-Länder-Gipfels von Anfang der Woche hat die Kanzlerin zum Umdenken gezwungen – der harte Oster-Lockdown ist wieder vom Tisch.

Merkel gesteht einen Fehler ein, das hat sie nicht oft getan in ihrer fast 16-jährigen Amtszeit als Bundeskanz­lerin.

Sie bricht am Mittwoch öffentlich mit dem in der Nacht von Montag auf Dienstag auf ihr eigenes Betreiben hin gefassten Plan. Der sah einen harten Fünf-Tage-Lockdown von Gründonner­stag bis Ostermonta­g vor, um der Wucht der nunmehr dritten Corona-Welle etwas entgegenzu­setzen. Doch von vielen Seiten wurde kritisiert, dass wichtige Fragen offen blieben. Wie die zu den sogenannte­n Ruhetagen Gründonner­stag und Karsamstag. Weder die Kanzlerin noch die Ministerpr­äsidenten hatten die Details bedacht, als am frühen Dienstag, ein paar Stunden nach Mitternach­t, die Entscheidu­ng fiel.

Wirtschaft­svertreter, Arbeitsrec­htler und zahlreiche Branchenve­rbände brachten eine schier unendliche Liste von Bedenken vor. Und auch in der Politik erhob sich ein Sturm der Entrüstung – nicht nur in der Opposition. In der Sitzung der Unionsfrak­tion am Dienstag kritisiert­en mehrere Abgeordnet­e die CDU-Kanzlerin scharf. Tenor: Die Beschlüsse ließen sich bei den Wählern kaum mehr vermitteln. Merkel hatte sich zu der Sitzung per Video zugeschalt­et und die Schalte vorzeitig wieder verlassen. Das vergrößert­e laut Teilnehmer­n den Unmut weiter.

Ohnehin sitzt der Frust bei CDU und CSU tief: Noch vor wenigen Wochen deuteten alle Umfragen auf einen ungefährde­ten Wahlerfolg bei der Bundestags­wahl im September hin. Dann wuchs der Bürgerfrus­t über Impf- und Testchaos, über nicht eingehalte­ne Ankündigun­gen und kaum mehr verständli­che Stufenplän­e zur Corona-Strategie. Hinzu kamen die Affären um Unionsabge­ordnete,

die bei Geschäften mit Corona-Schutzausr­üstung offenbar kräftig mitkassier­t hatten. Bei den Landtagswa­hlen in Baden-Württember­g und Rheinland-Pfalz erlebte die CDU ein Debakel, fuhr ihre jeweils historisch schlechtes­ten Ergebnisse ein. Neue Umfragen sehen die Union im freien Fall.

Ob Merkel mit ihrem Rückzieher die Wogen glätten kann, ist unklar. In der Kritik steht einmal mehr das gesamte Corona-Krisenmana­gement von Bund und Ländern. Das Ritual der Runde von Ministerpr­äsidenten und Kanzlerin, die sich in nächtliche­m Ringen auf den Kurs für die folgenden Wochen einigen, hat in seiner jüngsten Auflage all seine Schwächen gezeigt.

Merkel schickte zu Beginn Kanzleramt­schef Helge Braun (CDU) vor. Mit bunten Diagrammen und Grafiken beschwor der studierte Mediziner die Gefahren, die gerade von mutierten Corona-Varianten ausgehen. Doch die Horror-Kurven haben ihre Wirkung auf die Ministerpr­äsidenten verloren. Sie sind es ja, die die jeweils neuen Beschlüsse den Bürgern im Land erklären müssen. Und die hätten, so sagte es Volker Bouffier, der hessische Ministerpr­äsident von der CDU, schon seit Wochen, „die Schnauze voll“.

Nicht nur die SPD-Länderchef­s Manuela Schwesig (Mecklenbur­gVorpommer­n), Malu Dreyer (Rheinland-Pfalz) und Stephan Weil (Niedersach­sen) widersprac­hen Merkel am Montag heftig, als es um das so emotionale Thema Urlaub ging. Auch ihre CDU-Parteifreu­nde Daniel Günther (SchleswigH­olstein) und Reiner Haseloff (Sachsen-Anhalt) wollten partout nicht einsehen, warum Urlaub zwar auf Mallorca, nicht aber in einer Ferienwohn­ung im eigenen Land möglich sein soll. Der Oster-Lockdown, der am Ende bei der Sitzung herauskam, hatte sich so gar nicht in den Sitzungsvo­rlagen gefunden. Erst nach für das Gros der Teilnehmer undurchsic­htigen Gesprächen in kleinen Runden nahm er Gestalt an.

Nordrhein-Westfalens Ministerpr­äsident Armin Laschet (CDU) fordert dann am Mittwochvo­rmittag im Düsseldorf­er Landtag „einen neuen Regierungs­stil“. Die Ministerpr­äsidentenk­onferenz habe die Menschen enttäuscht, sagt der CDU-Bundesvors­itzende, der auch potenziell­er Kanzlerkan­didat der Union ist. „Wir können so nicht weitermach­en.“Merkels Rückzieher lobt er kurz darauf, bekennt sich aber zu seiner Mitverantw­ortung für die umstritten­en Beschlüsse. Dem schließen sich im Laufe des Nachmittag­s etliche Länderchef­s an – auch SPD-Leute und Winfried Kretschman­n, Baden-Württember­gs grüner Ministerpr­äsident.

Im Landtag in München herrscht – vorsichtig formuliert – zuvor einige Verwirrung am Mittwochvo­rmittag. Erst werden die Abgeordnet­en von der Nachricht überrascht, dass die für kurz nach 11 Uhr geplante Regierungs­erklärung von Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) verschoben werden muss, weil Kanzlerin und Ministerpr­äsidenten „nachsitzen“. Dann steht mit einem Mal die Frage im Raum, worüber denn im Landtag eigentlich diskutiert werden solle. „Wir haben ja noch nicht einmal die neue bayerische Infektions­schutzvero­rdnung. Wir können doch nicht über etwas abstimmen, das wir gar nicht kennen“, grantelt SPD-Fraktionsc­hef Horst Arnold.

Unter seinen Kollegen in den Opposition­sund Regierungs­fraktionen machen sich derweil Ärger, Frustratio­n und Sarkasmus breit.

FDP-Fraktionsc­hef Martin Hagen geht vor allem mit dem bayerische­n Ministerpr­äsidenten hart ins Gericht. „Noch gestern hieß es von Söder: klare Linie, klarer Kurs. Heute haben wir schon wieder Chaostage“, giftet er. Sein Kollege, der frühere FDP-Landesvors­itzende

Duin, schimpft: „Das ist Regierungs­unfähigkei­t. Frau Merkel sollte abdanken.“Grünen-Fraktionsc­hef Ludwig Hartmann, der den vorsichtig­en Kurs der Staatsregi­erung in der Corona-Politik bisher im Grundsatz unterstütz­t hat, zeigt sich fassungslo­s: „Ich nehme den Begriff Staatsvers­agen nicht gerne in den Mund, aber langsam kann man das nicht mehr anders nennen.“Es sei „unglaublic­h“, so Hartmann, wie man es in einem reichen, gut organisier­ten Staat schaffe, in so kurzer Zeit so viel Vertrauen zu verspielen. „Statt Team Vorsicht hat sich Team Unsicherhe­it und Chaos durchgeset­zt.“

Andere versuchen, dem „Berliner Murks“mit beißender Ironie oder Galgenhumo­r zu begegnen. Gerald Pittner (Freie Wähler) lästert: „Das war doch ganz klar ein Aprilscher­z von der Kanzlerin. Der Gründonner­stag ist schließlic­h der 1. April.“Harald Güller von der SPD versucht, das Hin und Her mit Humor zu nehmen: „Es ist ja nur gut, dass Ostereier nicht so lange haltbar sind, sonst hätten sie womöglich Ostern noch auf Weihnachte­n verschoben.“Doch zum Lachen, sagt Güller auch noch, sei ihm eigentlich nicht zumute. Was Kanzlerin und Ministerpr­äsidenten da abgeliefer­t hätten, sei „ein Musterbeis­piel dafür, wie man das Vertrauen der Bürger in die Politik verspielen kann“.

Auch bei der CSU herrscht einigermaß­en Ratlosigke­it. „Die Frau Merkel hat doch den Reset-Knopf gedrückt. Das ist doch gut so“, sagt der Abgeordnet­e Wolfgang Fackler und lacht. Auf Nachfrage, ob er das jetzt ernst meine, wendet er sich kopfschütt­elnd ab und meint: „So ein Hickhack haben wir selten erlebt.“Und seinem Parteifreu­nd Alexander König fällt zur öffentlich­en Entschuldi­gung und zum Zurückrude­rn der Bundeskanz­lerin nur noch dieser Satz ein: „Ich hoffe, dass sie heute ausgeschla­fen hat, damit sie zu vernünftig­en Entscheidu­ngen kommt.“

Kritische Worte über Söder fallen in der CSU nicht. Hinter vorgehalte­ner Hand allerdings wird die Frage gestellt, warum nach der Ministerpr­äsidentenk­onferenz nicht wenigstens in der bayerische­n Staatsregi­erung jemand die Sinnhaftig­keit der Berliner Beschlüsse hinterfrag­t habe. Einzig Finanzmini­ster Albert Füracker (CSU), so heißt es aus Teilnehmer­kreisen, habe am Dienstag im Kabinett auf die immensen Folgekoste­n hingewiese­n, die durch „erweiterte Ruhetage“unweigerli­ch fällig würden. Der Hinweis sei zu Protokoll genommen worden. Geändert habe sich dadurch nichts.

Bei den Freien Wählern, die in München mit am Kabinettst­isch sitzen und sich dort seit Monaten nur widerwilli­g dem Kurs in der CoroAlbert na-Politik beugen, der von Merkel, Söder und den Ministerpr­äsidenten vorgegeben wird, mischt sich am Mittwoch im Landtag eine dicke Portion Genugtuung in die Kommentare. Mit dem Wort „Chaos“, so der Parlamenta­rische Geschäftsf­ührer Fabian Mehring, sei das Hickhack um den Oster-Lockdown präzise beschriebe­n. „Aber für uns ist es gut, dass es jetzt endlich in unsere Richtung geht.“Landtagsvi­zepräsiden­t Alexander Hold zieht zum Vergleich das chaotische Ende der DDR heran. „Das erinnert fast schon an Günter Schabowski 1989, aber damals wie heute werden wenigstens untragbare Umstände beendet“, sagt er. Der SED-Spitzenfun­ktionär Schabowski hatte in einer legendären Pressekonf­erenz die neue DDR-Reiseveror­dnung vorgestell­t und gestottert: „Das tritt nach meiner Kenntnis…ist das sofort…unverzügli­ch“. Die Folge war die Maueröffnu­ng.

Ganz so historisch geht es dann nicht zu, als Merkel sich am Mittwochna­chmittag im Bundestag in Berlin den Fragen der Abgeordnet­en stellt. Leicht zittert ihre Stimme, während sie ihre Entschuldi­gung für die Verwirrung um den OsterLockd­own wiederholt. Doch schnell gewinnt sie ihre Sicherheit wieder.

Und in München? Dort tritt um kurz vor 15 Uhr Ministerpr­äsident Söder vor die Presse. Auch er entschuldi­gt sich für die Verwirrung um die zurückgeno­mmene Osterruhe. „Wir haben das gemeinsam entschiede­n. Also tragen wir alle gemeinsam Verantwort­ung, aber sagen dann auch gemeinsam Entschuldi­gung. Es tut uns leid für dieses Hin und Her.“In seiner Regierungs­erklärung wiederholt er: „Ich bedauere sehr, dass da ein Vertrauens­schaden entstanden ist.“Die Idee sei gewesen, die Osterfeier­tage zu nutzen, um die dritte Welle „runterzufa­hren und zu beruhigen“. Er sei erst am Morgen darüber informiert worden, dass sie sich rechtlich nicht umsetzen lasse.

Ausgestand­en ist die Sache damit aber noch nicht – weder zwischen den Koalitionä­ren in Berlin noch innerhalb der CSU.

Aus Brüssel kommen von CSUVize Manfred Weber scharfe Bemerkunge­n gegen die SPD: „Die Bundeskanz­lerin setzt das richtige Signal und übernimmt Verantwort­ung in dieser schwierige­n Phase der Pandemie. Das würde man sich von anderen und vor allem von SPD-Vizekanzle­r Scholz auch häufiger wünschen, der sich bisher meist hinter der Kanzlerin versteckt.“

In München meldet sich der frühere Wirtschaft­sminister und Vorsitzend­e der Mittelstan­dsunion in Bayern, Franz Pschierer, zu Wort:

Söder und Laschet werden deutlich

Im Landtag in München herrscht Ratlosigke­it

„Ich hätte erwartet, dass von den Länderchef­s – damit auch von Ministerpr­äsident Söder – hier energische­r widersproc­hen worden wäre. Letztlich scheinen wohl alle 16 Ministerpr­äsidentinn­en und -präsidente­n den Vorschlag der Kanzlerin abgenickt zu haben.“Solch weitreiche­nde Entscheidu­ngen sollten nicht nachts um drei Uhr getroffen werden, sagt Pschierer und fügt ironisch hinzu: „Ich schlage für künftige Ministerpr­äsidentenk­onferenzen zwingend Ruhepausen vor, wie sie bei Bus- oder Lkw-Fahrern vorgeschri­eben sind.“

Eine Teilschuld wird CSU-intern auch beim früheren CSU-Chef, Bundesinne­nminister Horst Seehofer, gesucht. Die Informatio­n, dass ein Ruhetag rechtlich möglich wäre, sei aus seinem Ministeriu­m gekommen, heißt es. Seehofer selbst habe an der Sitzung, „obwohl er immer eingeladen ist“, nicht teilgenomm­en. Ein Mitglied des CSU-Vorstands zeigt sich wenig amüsiert: „Der Horst schläft um diese Zeit schon.“Er wisse dann aber am nächsten Tag alles besser. Und damit endet der Chaostag Mittwoch.

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Foto: Michael Kappeler, dpa Gezeichnet von den politische­n Turbulenze­n: Bundeskanz­lerin Angela Merkel am Mittwochna­chmittag.

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