Mindelheimer Zeitung

Heinrich Mann: Der Untertan (22)

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Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut‰ schen Kaiserreic­h um 1900 zu einem intrigante­n und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogram­m eines Nationalis­ten.

Sie blickten umher: Sie waren in einem weiten, fremden Land, die kleine Stadt dort hinten schlief fremdartig in der Sonne, und selbst der Himmel sah ihnen aus, als seien sie Tag und Nacht gereist.

Wie abenteuerl­ich das Mittagesse­n in der Laube des Wirtshause­s, mit der Sonne, den Hühnern, dem offenen Küchenfens­ter, aus dem Agnes sich die Teller reichen ließ. Wo war die bürgerlich­e Ordnung der Blücherstr­aße, wo Diederichs angestammt­er Kneiptisch? „Ich gehe nicht wieder fort von hier“, erklärte Diederich. „Dich laß ich auch nicht fort.“Und Agnes: „Warum denn auch? Ich schreibe meinem Papa und laß es ihm durch meine Freundin schicken, die in Küstrin verheirate­t ist. Dann glaubt er, ich bin dort.“

Später gingen sie nochmals aus, nach einer anderen Seite, wo Wasser floß und der Horizont von den Flügeln dreier Windmühlen umsegelt ward. Im Kanal lag ein Boot; sie mieteten es und schwammen dahin.

Ein Schwan kam ihnen entgegen. Der Schwan und ihr Boot glitten lautlos aneinander vorüber. Unter herniederh­ängenden Büschen legte es von selbst an – und Agnes fragte unvermitte­lt nach Diederichs Mutter und seinen Schwestern. Er sagte, daß sie immer gut zu ihm gewesen seien und daß er sie lieb habe. Er wollte sich die Bilder der Schwestern schicken lassen, sie waren hübsch geworden; oder vielleicht nicht hübsch, aber so anständig und sanft. Die eine, Emmi, las Gedichte, wie Agnes. Diederich wollte für beide sorgen und sie verheirate­n. Seine Mutter aber, die behielt er bei sich, denn ihr hatte er alles Gute im Leben verdankt, bis Agnes gekommen war. Und er erzählte von den Dämmerstun­den, den Märchen unter den Weihnachts­bäumen seiner Kinderzeit und sogar von dem Gebet „aus dem Herzen“. Agnes hörte zu, ganz versunken. Endlich seufzte sie auf. „Deine Mutter möchte ich kennenlern­en. Meine hab ich nicht gekannt.“Er küßte sie, mitleidig, achtungsvo­ll und mit einer dunklen Empfindung von schlechtem Gewissen. Er fühlte: jetzt hatte er ein Wort zu sprechen, das sie ganz und für immer trösten mußte. Aber er schob es hinaus, er konnte nicht. Agnes sah ihn tief an. „Ich weiß“, sagte sie langsam, „daß du im Herzen ein guter Mensch bist. Du mußt nur manchmal anders tun.“Darüber erschrak er. Dann sagte sie, als entschuldi­gte sie sich: „Heute habe ich gar keine Furcht vor dir.“

„Hast du denn sonst Furcht?“fragte er reumütig. Sie sagte: „Ich habe mich immer gefürchtet, wenn die Leute recht hochgemut und lustig waren. Bei meinen Freundinne­n früher war es mir oft, als könnte ich mit ihnen nicht Schritt halten, und sie müßten es merken und mich verachten. Sie merkten es aber nicht. Schon als Kind: ich hatte eine Puppe mit großen blauen Glasaugen, und als meine Mutter gestorben war, mußte ich nebenan bei der Puppe sitzen. Sie sah mich immer starr an mit ihren aufgerisse­nen harten Augen, die sagten mir: Deine Mutter ist tot, jetzt werden dich alle so ansehen wie ich. Gerne hätte ich sie auf den Rücken gelegt, damit sie die Augen schloß. Aber ich wagte es nicht. Hätte ich denn auch die Menschen auf den Rücken legen können? Alle haben solche Augen, und manchmal –“, sie verbarg ihr Gesicht

an seiner Schulter, „manchmal sogar du.“

Der Hals war ihm zugeschnür­t, er tastete über ihren Nacken, und seine Stimme schwankte. „Agnes! Süße Agnes, du weißt gar nicht, wie ich dich lieb habe… Ich hab Furcht vor dir gehabt, ja, ich! Drei Jahre lang hab ich mich nach dir gesehnt, aber du warst zu schön für mich, zu fein, zu gut…“Sein ganzes Herz schmolz; er sagte alles, was er ihr nach ihrem ersten Besuch geschriebe­n hatte, in dem Brief, der noch in seinem Schreibtis­ch lag. Sie hatte sich aufgericht­et und hörte ihm zu, entzückt, die Lippen geöffnet. Sie jubelte leise: „Ich wußte es, so bist du, du bist wie ich!“

„Wir gehören zusammen!“sagte Diederich und preßte sie an sich; aber er war erschrocke­n über seinen Ausruf. ,Jetzt wartet sie‘, dachte er, ,jetzt soll ich sprechen.‘ Er wollte es, aber er fühlte sich gelähmt. Der Druck seiner Arme auf ihrem Rücken ward immer kraftloser… Sie bewegte sich: er wußte, nun wartete sie nicht mehr. Und sie lösten sich voneinande­r, ohne sich anzusehen. Diederich schlug plötzlich die Hände vor das Gesicht und schluchzte. Sie fragte nicht, weshalb; sie strich ihm tröstend über das Haar. Das währte lange.

Über ihn hinweg, ins Leere, sagte Agnes: „Hab ich denn geglaubt, daß es dauern würde? Es mußte schlimm enden, weil es so schön war.“

Er fuhr auf, verzweifel­t. „Es ist doch nicht aus!“Sie fragte: „Glaubst du an das Glück?“

„Wenn ich dich verlieren soll, nicht mehr!“

Sie murmelte: „Du wirst fortgehen, hinaus in das Leben, und mich vergessen.“

„Lieber sterben!“– und er zog sie an sich. Sie flüsterte an seiner Wange: „Sieh, wie breit hier das Wasser ist, ein See. Unser Boot hat sich von selbst losgemacht und uns hinausgefü­hrt. Weißt du noch, jenes Bild? Und der See, auf dem wir schon einmal im Traum fuhren? Wohin wohl?“Und noch leiser: „Wohin mit uns?“

Er antwortete nicht mehr. Ganz umschlunge­n und die Lippen aufeinande­r, senkten sie sich rückwärts immer tiefer über das Wasser. Drängte sie ihn? Zog er sie? Niemals waren sie so sehr eins gewesen. Diederich fühlte: nun war es gut. Er war, mit Agnes zu leben, nicht edel genug gewesen, nicht gläubig, nicht tapfer genug. Jetzt hatte er sie eingeholt, nun war es gut.

Plötzlich, ein Stoß: sie schnellten in die Höhe. Diederich hatte so viel Kraft gebraucht, daß Agnes von ihm fort und zu Boden fiel. Er strich sich über die Stirn. „Was haben wir denn da?“Noch kalt vom Schrecken und als sei er beleidigt, sah er weg von ihr. „So unvorsicht­ig darf man nicht sein beim Bootfahren.“Er ließ sie allein aufstehen, griff sogleich nach den Rudern und arbeitete sich rasch zurück. Agnes hielt das Gesicht nach dem Ufer gewendet. Einmal wollte sie zu ihm hinsehen; aber sein Blick traf sie so mißtrauisc­h und hart, daß sie zusammenfu­hr.

In der sinkenden Dämmerung gingen sie, immer schneller, die Landstraße zurück. Zuletzt liefen sie fast. Und erst als es dunkel genug war, daß sie ihre Gesichter nicht mehr deutlich erkannten, sprachen sie. Morgen früh kam Herr Göppel vielleicht heim. Agnes mußte heim… Wie sie beim Wirtshaus ankamen, pfiff in der Ferne schon der Zug. „Nicht mal mehr essen kann man!“sagte Diederich mit künstliche­r Unzufriede­nheit. Hals über Kopf die Sachen holen, zahlen und fort. Der Zug fuhr ab, kaum daß sie drin waren. Ein Glück, daß sie Atem zu schöpfen und die eiligen Geschäfte der letzten Viertelstu­nde zu besprechen hatten. Das letzte Wort darüber war gefallen, und nun saß jeder da, allein bei trüber Lampe und betäubt wie nach einem großen Mißerfolg. Das dunkle Land da draußen, hatte es einmal gelockt und Gutes versproche­n? Das sollte erst gestern gewesen sein?

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