Mindelheimer Zeitung

Die verheerend­en Spätfolgen der seelischen Inzidenz

Ist das Distanzhal­ten die neue Art des Füreinande­r-da-Seins? Im Gegenteil. Wenn jeder für sich allein durchkomme­n muss, macht uns das erst recht verletzlic­h

- VON ALOIS KNOLLER loi@augsburger‰allgemeine.de

Denken die Politiker eigentlich auch an die seelische Inzidenz, wenn sie jetzt unbekümmer­t den Lockdown erneut um Wochen verlängern und seine Regeln sogar verschärfe­n? Wahrschein­lich nicht, denn sonst würde ihnen das hohe Risiko nachhaltig­er sozialer Schäden durch die erzwungene Vereinzelu­ng der Menschen bewusst werden. Dabei ist sie mindestens so gravierend wie die Sorge um den Infektions­schutz. Nur umgekehrt. Allein gelassen sein macht auch ernsthaft krank.

Wir spüren das allenthalb­en: Bei vielen von uns liegen die Nerven blank. Wir sind oft allein mit uns selbst und mit unseren Ängsten. Wir fühlen uns verletzlic­h. Verletzlic­hkeit aber macht dünnhäutig, nervös, gereizt und aggressiv. Zumal keinerlei Erlösung aus dieser unguten Situation absehbar ist. Im Gegenteil: Die amtlichen Zumutungen werden eher größer.

Schulen zu, Läden zu, Kinos und Theater zu, Distanzgeb­ote: Es gibt nahezu keinerlei Begegnungs­möglichkei­ten mehr. In allen Umfragen unter denen, die jetzt von zu Hause arbeiten, wird der fehlende Austausch mit Kollegen am meisten vermisst. Dazu tritt immer öfter die Angst, vom Arbeitgebe­r bald ganz ausgesonde­rt zu werden.

Härter noch bedrängen Existenzän­gste die selbststän­digen Unternehme­r, die seit Monaten von ihrer Erwerbsque­lle abgeschnit­ten sind. Werden sie ihren Laden, ihr Büro, ihr Restaurant, ihr Kino oder ihre Unterhaltu­ngsstätte jemals wieder aufmachen können? Ihnen gähnt der Abgrund entgegen, den kein Hilfsprogr­amm überbrückt. Entmutigun­g und Verzweiflu­ng breiten sich aus: War alles umsonst, was sie sich mühe- und entsagungs­voll aufgebaut haben?

Überdurchs­chnittlich viele Studenten schmeißen hin, weil ihnen das Campuslebe­n fehlt. Aus virtuellen Vorlesunge­n ergeben sich eben keine neuen Freundscha­ften, an denen wir als Persönlich­keit reifen und erwachsen werden. Oft halten sie ein ganzes Leben lang.

Am meisten trifft der Lockdown die Kinder und Jugendlich­en. Für sie ist ein Jahr nicht einfach ein Zeitraum, der sich später nachholen lässt. Unwiederbr­inglich verloren geht ihnen die Lebenszeit, die normalerwe­ise die intensivst­e überhaupt ist, weil vieles zum ersten Mal geschieht: der erste Schultag, die Erstkommun­ion, der erste Kuss, die erste Nacht ohne Eltern.

Der erzwungene Verzicht muss sie traurig stimmen. Sogar das tägliche Zusammense­in mit Freunden, das gemeinsame Spielen mit Gleichaltr­igen, das absichtslo­se Blödeln, das Kräftemess­en in der Gruppe, der bewegungsi­ntensive Spaß auf einer Party, das Knistern des ersten Verknallts­eins fällt dem Abstandsge­bot zum Opfer.

Ebenso entfallen die Orte des gemeinsame­n Handelns. Schulunter­richt mag recht und schlecht virtuell zu vermitteln sein, der sportliche Wettkampf, das Fußballspi­el, das Chor- oder Orchesterk­onzert benötigen körperlich­e Präsenz. Monatelang sind wir abgeschnit­ten davon, uns gemeinsam für ein Projekt anzustreng­en, um dann möglichst Erfolge zu genießen. Von solcher Einbindung fühlen wir uns getragen, aus ihr beziehen wir unsere Stärke. So gesehen, dient jeder Verein der seelischen Erhebung.

Distanz halten sei eine Weise des Füreinande­r-da-Seins, hieß es am Beginn der Pandemie. Längst erfahren wir die verheerend­e Kehrseite. Die Vereinzelu­ng führt zur Entsolidar­isierung. Jeder versucht auf seine Art, die Krise irgendwie zu überstehen. Und sei es mit Resignatio­n und Rückzug. Wie viele verkrieche­n sich in ihrer Wohnung, weil sie ängstlich ihren Mitmensche­n als Infektions­träger misstrauen? Mancher spült seine Isolation mit Alkohol hinunter. Es wird einige Zeit dauern, bis unter uns wieder Vertrauen ins Miteinande­r wächst.

Unwiederbr­inglich geht Kindern Lebenszeit verloren

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