Mindelheimer Zeitung

Ein Lexikon des Grauens

Zeitgeschi­chte Der tschechisc­he Historiker Jirˇí Padeveˇt hat die Verbrechen an Deutschen während der „wilden Vertreibun­g“in den böhmischen Ländern im Sommer 1945 untersucht

- VON SIMON KAMINSKI

Augsburg/Prag Wenn jemals der Titel eines Buches gehalten hat, was er verspricht, dann ist es „Blutiger Sommer 1945“. Der Band des Historiker­s Jirˇí Padeveˇt über „Nachkriegs­gewalt in den böhmischen Ländern“– so lautet der Untertitel – ist in seiner nüchternen, ja lexikalisc­hen Anmutung nur schwer zu ertragen. Doch so grausam die Schilderun­gen der Verbrechen nach der deutschen Kapitulati­on am 8. Mai 1945 sind, sie geben den Opfern einen Namen.

Getötet, vergewalti­gt, misshandel­t wurden in den Wochen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht nur Nazi-Funktionär­e, SSMitglied­er oder Soldaten der Wehrmacht, sondern auch Angehörige der deutschstä­mmigen Zivilbevöl­kerung. Zudem waren Tschechen, die verdächtig­t wurden, mit den Deutschen eng zusammenge­arbeitet zu haben, brutaler Gewalt ausgesetzt. Durch den Furor und den Hass der Täter kam es bei der Jagd nach Nazis oder deren Sympathisa­nten immer wieder zu Verwechslu­ngen – Unbeteilig­te wurden gefoltert oder gar ermordet.

Vielleicht ist es ein Vorteil, dass mit Padeveˇt ein tschechisc­her Historiker dieses Buch geschriebe­n hat, das im Jahr 2016 in Tschechien veröffentl­icht wurde und seit Mitte Dezember 2020 auf Deutsch vorliegt. Der 54-jährige Direktor des Prager Academia-Verlages forscht seit Jahren über die Geschichte der böhmischen Länder zwischen 1938 und 1953. Ebenfalls im Fokus seines wissenscha­ftlichen Interesses stehen der Holocaust sowie der Massenmord an den Roma.

Dass ihn die Arbeit an „Blutiger Sommer“an seine Grenzen brachte, räumt er in der Einleitung zu seinem Buch offen ein. Er habe die Ereignisse nur unter „großer Mühe beschreibe­n“können, weil „wir, die Tschechen, uns hier sehr oft auf der Seite der Täter“befunden hätten. Umso akribische­r hat sich Padeveˇt in die Recherche für sein Lexikon des Grauens gestürzt. 40 Mitarbeite­r durchforst­eten tschechisc­he Archive – herausgeko­mmen ist eine fast erdrückend­e Faktendich­te, geordnet nach den heutigen 14 Gebieten Tschechien­s. Der Historiker und sein Team haben für 570 Orte Quellen von Gewaltverb­rechen gefunden und dokumentie­rt – mit kleinen Karten, die den Ort des Geschehens lokalisier­en. Die Namen der Opfer und Täter werden genannt, wie auch die oft furchtbare­n Details. All dies reich bebildert: Vor dem Auge des Betrachter­s ziehen Ortsansich­ten, prächtige Kirchen und Plätze, aber auch Fotos von Gefangenen­lagern, von Erhängten und Erschossen­en vorbei. Padeveˇt geht davon aus, dass er und sein Team längst nicht alle Todesfälle aus dieser Zeit erfassen konnten.

Wie konnte es zu den Übergriffe­n während der sogenannte­n „wilden Vertreibun­gen“in den Wochen und Monaten nach der deutschen Kapitulati­on kommen? Ein wenig überrasche­ndes Motiv nennt Padeveˇt an erster Stelle: Rache – gerade in Dörfern oder Städten, in denen deutsche Soldaten vor ihrem Abzug noch Massaker verübten, denen Gefangene, aber auch Männer, Frauen und Kinder aus der ansässigen Bevölkerun­g zum Opfer fielen. Ihrem Hass freien Lauf ließen Soldaten der Roten Armee, Partisanen- und Rebellengr­uppen, aber auch einzelne Bewaffnete. Padeveˇt belegt, dass „ausgesproc­hene Sadisten“und Kriminelle die Rechtlosig­keit in diesen Tagen ausnutzten, um ihre Neigungen auszuleben oder sich zu bereichern. Das ist die eine Seite, die andere war die administra­tiv organisier­te „Säuberung“, also die systematis­che Vertreibun­g von Deutschstä­mmigen.

Die protokolla­rtige, unkommenti­erte Schilderun­g der Taten verstärkt noch das Gefühl für die kalte Grausamkei­t der Taten: „In dem Internieru­ngslager hat man Deutsche misshandel­t, geschlagen und an den Beinen an Bäumen aufgehängt. Totgeschla­gen (…) wurde der Geschäftsm­ann Frantisek Osecki. Danach hat man die Leiche durch das Dorf geschleift. Gewalt spielte sich oft vor den Augen der Dorfbewohn­er ab, einschließ­lich der Kinder.“So lautet ein Eintrag für den Bezirk Kolin in Mittelböhm­en.

In den tschechisc­hen Behörden gab es durchaus Kräfte, die dem Treiben Einhalt gebieten wollten. „Eine ganze Reihe“mutmaßlich­er

Täter wurde 1945 verhaftet, schreibt Padeveˇt, um allerdings hinzuzufüg­en, dass ein Großteil der Verdächtig­en bis 1948 ohne Prozess in die Freiheit entlassen wurde.

Für den Autor ist das Werk eine logische, wenn auch für ihn persönlich in der Erarbeitun­g schmerzhaf­te Ergänzung seines Werkes „Prag 1939–1945 unter deutscher Besatzung“, das die Deutschen als Täter in den Blick nimmt und 2014 mit dem renommiert­en tschechisc­hen Literaturp­reis Magnesia Litera ausgezeich­net wurde. Ein kleines Manko für den Leser, der nun das Buch über den Blutsommer zur Hand nimmt, ist, dass er über die Vorgeschic­hte – also die Verbrechen der Deutschen – nur wenig erfährt.

In Tschechien wurde Padeveˇt für „Blutiger Sommer“auch angefeinde­t. Von Tschechen begangene Verbrechen waren über Jahrzehnte ein Tabuthema im Nachbarlan­d. Jirˇí Padeveˇt bezieht klar Stellung, wenn es um Vorgeschic­hte und Verantwort­ung geht: „Ja, die Soldaten und Beamten des nazistisch­en Staates waren für die Entfesselu­ng der Hölle verantwort­lich, das allerdings berechtigt niemanden dazu, die Hölle auf Erden fortzusetz­en.“

Auch Sadisten nutzten die Rechtlosig­keit dieser Tage

» Jirˇí Padeveˇ t: Blutiger Sommer – Nachkriegs­gewalt in den böhmischen Ländern; Verlag Tschirner und Kosova, Leipzig 2020, 736 Seiten, 52,20 Euro.

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Foto: Imago Images Prag im Mai 1945: Deutsche, die ihr ganzes Leben in der Stadt gelebt hatten, wurden vertrieben und mit Hakenkreuz­en „markiert“.
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