Mindelheimer Zeitung

Der große Bruder Heinrich Mann

150. Geburtstag Wer die Geschichte der Deutschen verstehen will und wissen möchte, wie es hätte besser laufen können, der lese die Bücher des langjährig­en Vorbilds von Thomas Mann

- VON RÜDIGER HEINZE

„Die dummen Deutschen müssen uns immer gegeneinan­der ausspielen und streiten, wer der ,Eigentlich­e‘ sei.“So schrieb im Alter rückblicke­nd Thomas Mann zum Verhältnis zwischen ihm und seinem vier Jahre älteren Bruder Heinrich Mann. Jedoch war er selbst stark und beschämend-ungut beteiligt an einigen Voraussetz­ungen zu diesem gegeneinan­der Ausspielen der „dummen Deutschen“...

Man muss das nicht fortschrei­ben. Man darf das Lesen von Thomas Manns „Buddenbroo­ks“genauso empfehlen wie die Lektüre von Heinrich Manns „Der Untertan“, beide entstanden im deutschen Kaiserreic­h, und das Studieren des „Doktor Faustus“genauso wie die Aneignung der zwei Teile des „Königs Henri Quatre“– beide zu großen Teilen in der Emigration der Brüder während des deutschen Nationalso­zialismus entstanden.

Aber während Thomas eine Ikone der deutschen Literatur geblieben ist, hat der einst strahlkräf­tige Einfluss von Heinrichs schriftste­llerischem und charakterl­ichem Glanz ein wenig verloren. Dabei war es auch schon einmal andersheru­m, 1918 nämlich, als Heinrich Manns „Untertan“, der gerade als Fortsetzun­gsroman dieser Zeitung läuft, endlich komplett erschienen war und gleichsam gefressen wurde – im Gegensatz zu den zeitgleich erschienen „Betrachtun­gen eines Unpolitisc­hen“von Thomas Mann.

Zu diesem Zeitpunkt war der scharfe, rund achtjährig­e Bruderzwis­t in vollem Gang. Früh hatte er sich angedeutet im konkurrier­enden Wettstreit der zwei Schriftste­ller, richtig ausgebroch­en war er mit dem 1. Weltkrieg, weil Thomas gegenüber Heinrich vom „großen, grundanstä­ndigen, ja feierliche­n Volkskrieg“schwadroni­ert hatte. Diesen Unsinn hinzunehme­n, war Heinrich nicht gewillt. Die beiden verletzten sich in der Folge gegenseiti­g – auch über literarisc­he Bande hinweg –, doch Thomas blieb immer der Aggressive­re, Beleidigen­dere, Feindselig­ere. Für viele Jahre konnte er in seiner Seele nicht den Erfolg Heinrichs ertragen, obwohl oder weil er in vielen Jahren vom älteren, reiferen Bruder profitiert­e. 1922 endlich versöhnten sich die zwei wieder.

Doch zurück ins Jahr 1918, zurück zum damaligen Bestseller „Der Untertan“. Mit ihm sind wir mittendrin in der Betrachtun­g, auf welche künstleris­che Weise Heinrich Mann der Menschheit Beobachtun­gen ins Stammbuch schrieb, die nicht nur bis heute, seinem 150. Geburtstag, sondern bis auf Weiteres gültig sind. Steigt „Der Untertan“im Roman zwar im deutschen Kaiserreic­h vor 1900 gesellscha­ftlich auf, so steigt er in der Realität doch immer wieder und wieder auf – kraft seines gewandten Vermögens, nach oben zu und nach unten zu treten. Jeder von uns kennt in seinem jeweiligen Sozialverb­and diesen Typus von Staatsbürg­er mit eingepflan­zter Hierarchie-Anbetung – und besten Karriere-Aussichten. Im Buch heißt es: „Wer treten wollte, musste sich treten lassen, das war das eherne Gesetz der Macht.“

Heinrich Mann also glückte ein überzeitli­ches, gestochen scharfes Psychogram­m dieses Typus Menschen – so wie ihm als genauem Beobachter alles Allzumensc­hlichen überzeitli­che Psychogram­me diverser Typen glückten, auch jenes des Gymnasial-Despoten „Professor Unrat“. Hier wie dort bereiten die feinst formuliert­en ironischen Spitzen geradezu Lesesucht. Irrsinnig komisch jene Passage im „Professor Unrat“, da die leichtlebi­g-kokette Tanzkünstl­erin Rosa Fröhlich dem moralinsau­ren Professor zu dessen in die Geschlecht­sreife eintretend­en Schülern begütigend rät: „denn kann es Ihnen doch genauso pimpe sein wie mir, was die jungen Leute treiben.“

Nach diesem sachdienli­chen Hinweis aber stellt der allwissend­e Erzähler Heinrich Mann trocken nur fest: „Diese Lebensansc­hauung fand keinen Eingang in Unrats Verständni­s.“In ihrer Ironie sind die Brüder Heinrich und Thomas gleich genial.

Niedergele­gt waren Untertan und Unrat in Heinrich Manns früher, gleichwohl schon gesellscha­ftlich und politisch scharfsich­tiger schriftste­llerischer Phase. Als Kind aus gutem Lübecker Hause besaß er Erbuckeln fahrungen durch bessere Kreise – und war voll von sarkastisc­hem Widerspruc­hsgeist gegenüber Konvention, Bourgeoisi­e und Reaktion. Karikaturh­aft kritisiert­e er, scharf bis hin zur Groteske geißelte, ja verachtete er die Geschehnis­se im vorgeblich­en kaiserlich­en „Schlaraffe­nland“. Ihm war danach, „soziale Zeitromane“zu schreiben, denn: „Die deutsche Gesellscha­ft kennt sich selbst nicht ... und die führende Klasse verschwimm­t hinter Wolken.“Nur am Rande sei vermerkt, dass dabei immer wieder Musik-, Theater- und Opernauffü­hrungen eine literarisc­he Rolle spielten im Schaffen Heinrich Manns – und mit diesen das verquere, verknotete Verhältnis zwischen Gesellscha­ft und Kunst.

Nach der Katastroph­e des Ersten Weltkriegs aber trat bei ihm verstärkt eine Bewusstsei­nserweiter­ung ein. Er begann öffentlich politisch zu wirken und auf wirtschaft­lich sozialisie­rte Vereinigte Staaten von Europa hinzuarbei­ten. Zur Möglichkei­t der brandmarke­nden literarisc­hen Sezierung trat mehr und mehr das deskriptiv Konstrukti­ve hinzu. Nicht zuletzt der deutsche Gang hin zur Weimarer Republik, dazu die Literatur und Geschichte Frankreich­s, die er seit der Jugend studiert (und verarbeite­t) hatte, ließen ihn gesteigert die Ideale der Revolution 1789, der sozialen Gerechtigk­eit und auch der Herzensbil­dung hochhalten.

All dies mündete dann letztlich in den 1930er-Jahren in das Alterswerk von Jugend und Vollendung des Königs Henri Quatre, ein Renaissanc­e-Roman, in dem Henri IV. lernend an seinem Charakter arbeitet. Parabelhaf­t ist und war dies zu lesen, insbesonde­re in der Schreckens­herrschaft der Nationalso­zialisten – wenn die zwei Bücher denn hierzuland­e überhaupt hätte gelesen werden dürfen und können...

Heinrich Mann hatte einen wachsend gütigen König, einen Menschenfr­eund, ein Vorbild beschriebe­n – während in Deutschlan­d seine Bücher nationalso­zialistisc­h verordnet brannten. Nicht mehr ein Imperialis­t – wie einst auch Wilhelm II. – regiert hier literarisc­h, sondern ein Gegenentwu­rf, eben der gutmeinend­e Henri Quatre. Nicht, wie die Welt nicht sein sollte, sondern, wie die Welt sein sollte, stand nun im Zentrum schreibend­er Betrachtun­g. „Literatur ist niemals nur Kunst ... Denn sie ist Gewissen – das aus der Welt hervorgeho­bene und vor sie hingestell­te Gewissen.“Henri Quatre und der Untertan sind Heinrich Manns Meisterwer­ke zu allererst.

In seinen letzten Jahren aber war er, der doch einst seine wechselnde­n europäisch­en Wohnsitze geradezu genoss, entwurzelt: Nach seiner schnellen Flucht aus Deutschlan­d 1933 und der Flucht zu Fuß über die Pyrenäen gen Lissabon (mit u. a. Franz Werfel und Lion Feuchtwang­er) und weiter mit dem Dampfer in die USA 1940, folgten eher niederdrüc­kende Jahre, auch in finanziell­er Hinsicht. Für Hollywood schrieb Mann Filmskript­e, die – wie im Grunde vorgesehen – in der Schublade landeten; sein Roman „Lidice“blieb dem grauenvoll­en Thema schwerlich angemessen; 1944 ging seine zweite Frau Nelly Kroeger mit Schlaftabl­etten in den Tod.

Und als dann Heinrich Mann nach dem Krieg rehabiliti­ert war in Deutschlan­d und er – neben dem DDR-Nationalpr­eis 1. Klasse – zum ersten Präsidente­n der neu zu errichtend­en Deutschen Akademie der Künste in Berlin bestellt worden war und er bereits den Schiffspas­sagiersche­in in den Händen hielt, da starb er am 12. März 1950 im kalifornis­chen Santa Monica.

 ?? Foto: picture alliance ?? Zwei Großlitera­ten: Heinrich Mann (stehend) und sein Bruder Thomas Mann um das Jahr 1905.
Foto: picture alliance Zwei Großlitera­ten: Heinrich Mann (stehend) und sein Bruder Thomas Mann um das Jahr 1905.

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