Mindelheimer Zeitung

Durch Homeoffice fallen für viele Menschen die tägliche Fahrt zum Arbeitspla­tz und der Stress derzeit weg. Soll es nach der Pandemie zurück zur Normalität gehen? Was Pendler und Experten sagen

- / Von Lara Schmidler

Wenn alles gut gelaufen ist, hat Martin Zeh aus Biberbach bis vor einem Jahr dreimal pro Woche rund drei Stunden täglich im Zug verbracht. Seit vier Jahren arbeitet der 57-Jährige als TÜV-Sachverstä­ndiger in München, zweimal pro Woche war er bereits vor Corona zu Hause im Homeoffice. An den restlichen drei Werktagen war er elf Stunden – von 6.32 Uhr bis 17.32 Uhr – unterwegs.

Martin Zeh ist Berufspend­ler. Laut Bundesagen­tur für Statistik wird als Berufspend­ler bezeichnet, wer seinen Arbeitspla­tz in einer anderen Gemeinde als seinen Wohnort hat. Das sind etwa sechs von zehn Arbeitnehm­ern, eine Zahl, die in den vergangene­n Jahrzehnte­n konstant gestiegen ist – und bei der zum Beispiel all die sogenannte­n Binnenpend­ler, die innerhalb einer Großstadt Strecke machen, gar nicht mitgezählt werden. Was die durchschni­ttliche Strecke betrifft, die Pendler tagtäglich zurücklege­n – auch die ist stetig gestiegen. Laut einer Umfrage des ADAC im Dezember 2019 legten 47 Prozent der befragten Pendler in Deutschlan­d mehr als 20 Kilometer bis zu ihrem Arbeitspla­tz zurück. Mit 42 Prozent brauchten die meisten der Befragten für ihren Arbeitsweg einfach zwischen 20 und 30 Minuten, 24 Prozent zwischen 31 und 59 Minuten, 11 Prozent mehr als 60 Minuten. Soweit also zu den Zahlen.

Nach drei Jahren Pendeln mit dem Zug vom Allgäu an den Nordrand von Augsburg lautet das eher traurige Resümee: Den aktuellen Angaben der Bahn-App sollte man nie trauen. Öfters hieß es etwa, der Zug soll zehn Minuten Verspätung haben. Nicht nur einmal kam ich aufgrund dessen etwas später am Bahnhof an. Und der Zug war trotzdem schon weg, weil er dann auf einmal doch plangerech­t fuhr. Selten war der Zug ohnehin morgens pünktlich am Ziel, am Augsburger

Hauptbahnh­of. Ich raste deshalb mindestens zweimal pro Woche hektisch vom Bahnsteig zur Bushaltest­elle, weil ich das Gefährt nach Lechhausen erwischen musste. Immer wieder fuhr es mir vor der Nase weg. Abends ähnliche Spielchen beim Rückweg. Durch Wartezeite­n an Bushaltest­ellen und Bahnhöfen verlor ich nicht selten, neben der reinen Zug- und Busfahrtze­it, noch eine weitere Stunde pro Tag, was mir immer sinnloser vorkam. Eines kann ich sagen: Das viel zitierte Lesen im Zug – es wird irgendwann fad. Genauso wie der immer gleiche Blick nach draußen. Zum Glück kam dann Corona, auch wenn das zynisch klingt. Nun sitze ich seit einem Jahr im Homeoffice. Eine echte Erlösung. Ich sage nur: Nie wieder täglich pendeln, wenn es irgendwie geht …

Markus Bär, Redakteur

Dass es vor allem unpünktlic­he Züge sind, die Pendler stressen, haben mehrere Studien belegt. Der britische Stressfors­cher David Lewis stellte beispielsw­eise fest: Droht ein Pendler seinen Zug zu verpassen, kann sein Stresspege­l stärker steigen als der von Kampfpilot­en. Der Schweizer Ökonom Bruno Frey wiederum kam zu dem Ergebnis: Wer für den Weg zur Arbeit eine Stunde benötigt, müsste theoretisc­h 40 Prozent mehr verdienen, um so glücklich wie jemand zu sein, dessen Job vor der Haustüre liegt.

Die negativen Folgen also sind bekannt, dass die Zahl der Pendler dennoch steigt, hat für Florian Hördegen, stellvertr­etender Leiter der Bereiche Verkehr, Technik und Umwelt beim ADAC Südbayern, mehrere Gründe: Zum einen habe sich die Infrastruk­tur verbessert und Verkehrstr­äger seien schneller geworden. „Vor 50 Jahren hätte man noch eine lange Zeit im Zug oder Auto gesessen, um beispielsw­eise von Augsburg nach München zu pendeln, wie das heute viele machen. Inzwischen ist das ganz normal.“Zum anderen aber spielten natürlich auch die steigenden Mietpreise in Großstadtr­äumen eine entscheide­nde Rolle. Laut der Umfrage des ADAC sieht eine Mehrheit der befragten Pendler keine Möglichkei­t oder Veranlassu­ng, die Distanz zwischen Wohnort und Arbeitsste­lle zu verringern. 60 Prozent gaben an, in ihrer unmittelba­ren Nähe keinen vergleichb­aren Arbeitspla­tz zu finden, 54 Prozent fühlten sich zu emotional mit ihrem Wohnort verbunden, um umzuziehen. Die Stadt, in die die meisten Arbeitnehm­er fahren, ist mit 390 000 Pendlern im Übrigen München – gefolgt von Frankfurt und Hamburg. Das ergab eine Auswertung von Pendlerdat­en des Bundesinst­ituts für Bau-, Stadt- und Raumforsch­ung für das Jahr 2018.

Prinzipiel­l ist das Pendeln nach München das Grauen. Auch weil du nie wissen kannst, wie lange du brauchst. Egal zu welcher Zeit: Es kann gut gehen und du brauchst nur eine Stunde, oder aber nicht, und dann brauchst du drei Stunden. Das Navi ist auch kein verlässlic­her Partner, denn die Stauanzeig­e wiederum kann stimmen oder sie kann nicht ... Und wenn Stau ist, sind die Ausweichro­uten meist voll. Im Moment ist wegen Corona gerade weniger Verkehr. Deswegen fahre ich nun mit dem Auto, sonst nehme ich den Zug. Der ist aber zu 80 Prozent nicht pünktlich. Ich tue mir die Pendelei dennoch an, weil es in Augsburg für mich keinen vergleichb­aren Job gibt. Nach München zu ziehen, kommt für mich nicht infrage: Ich möchte mir das Leben dort nicht leisten, ich möchte dort auch nicht leben. Dass ich so viel Benzin verfahre, macht mir ein schlechtes Gewissen. Und natürlich muss ich am Tag mindestens zwei Stunden von meiner Freizeit abziehen. Ich versuche das zu neutralisi­eren, indem ich im Auto Hörbuch höre, um das Fahren als Freizeit auch sinnvoll zu nutzen.

Richard Sauer, Ernährungs­therapeut

Die Statistik für 2020 wird natürlich ganz anders aussehen als in den Vorjahren: Kurzarbeit und Homeoffice zwingen beziehungs­weise erlauben vielen Berufstäti­gen noch immer, zu Hause zu bleiben. Auch Martin Zeh arbeitete, mit Ausnahme der Sommermona­te, bis heute durchgehen­d zu Hause. Ihn freut das: „Ich bin viel flexibler in meiner Zeiteintei­lung und kann jetzt auch meine 86-jährige Mutter besser unterstütz­en, indem ich sie zum Beispiel zum Arzt bringe. In der Hinsicht ist Corona für mich ein echter Segen.“Er habe das große Glück, in seinem Beruf Dokumente beurteilen zu müssen, was von zu Hause aus gut machbar sei. Zudem halte er Online-Schulungen, für die sein Aufenthalt­sort ebenfalls unwichtig sei. Dass er gut im Homeoffice arbeiten könne, hänge aber auch damit zusammen, dass er mit seiner Familie in einem Haus auf dem Land lebe, seine drei Töchter seien außerdem alle schon erwachsen. „Ab und zu muss man sich schon mal aus dem Weg gehen, aber insgesamt klappt es recht gut.“

Das Schöne ist, dass mir täglich zwei Stunden Lebenszeit durch Wegfall der Fahrtzeite­n geschenkt sind. Das Unschöne ist, dass die sozialen Kontakte eingeschrä­nkt sind – und das gilt auch für die Bahnfahrte­n selbst mit interessan­ten Menschen und guten Gesprächen.

Renate Ulm, Redakteuri­n

Dennoch: Nicht allen geht es im Homeoffice gut. Die Zufriedenh­eit über das weggefalle­ne Pendeln käme nicht maßgeblich zum Tragen, erklärt Hördegen vom ADAC. „Gerade für Eltern, deren Kinder gleichzeit­ig ins Homeschool­ing geschickt wurden, bedeutet die Situation, in der sich jetzt alles zu Hause abspielt, viel Stress.“Bei den Pendlern, die nicht ins Homeoffice oder in die Kurzarbeit geschickt wurden, beobachte man beim ADAC den deutlichen Trend weg von öffentlich­en Verkehrsmi­tteln. „Wir erleben sozusagen eine natürliche Renaissanc­e des Autos. Natürlich besteht in der Bahn oder im Bus die Angst vor Ansteckung, zudem sind ja gerade wegen der vielen Homeoffice­Arbeiter die Straßen deutlich leerer als sonst.“Darum habe der Umstieg vom ÖPNV auf das Auto auch in dem Umfang funktionie­rt.

Ich bin 15 Jahre mit dem Zug gefahren, dann bin ich aufs Auto umgestiege­n, was eine extreme Verbesseru­ng meiner Lebensqual­ität bedeutet hat: Fünf Minuten später dran – beim Zug ist das ein Problem, beim Auto nicht. Im Auto hast du natürlich auch sofort deine Privatsphä­re. Jetzt arbeite ich von zu Hause, das ist bei uns die Vorgabe, und was ich natürlich merke: Ich kann mir eigentlich nicht mehr vorstellen, fünf Tage die Woche auf der Straße zu sein. Für die Zukunft hoffe ich, dass es genügt, einmal in der Woche ins Büro zu fahren, und den Rest von zu Hause zu arbeiten. Natürlich vermisse ich meine Kollegen, aber der Gewinn an Zeit wiegt alles auf.

Klara Angerer, kaufmännis­che Angestellt­e

Martin Zeh wiederum kann sich nicht vorstellen, mit dem Auto in die Arbeit zu fahren. „Das wäre für mich der Horror. Außerdem ist das Bahnfahren immer interessan­t, man sieht viele spannende Menschen.“Während der Sommermona­te habe es sich für ihn so ergeben, dass er jede Woche einmal ins Büro nach München gefahren sei. „Es war schön, die Kollegen mal wieder zu sehen. Das fehlt schon im Homeoffice.“Allein für den Kontakt zu den Mitarbeite­rn ist es aus seiner Sicht wichtig, ein- bis zweimal in der Woche wieder ins Büro zu fahren. Diesen Wunsch nach mehr Flexibilit­ät auch nach dem angeordnet­en Homeoffice erwartet Hördegen vom

ADAC von vielen Arbeitnehm­ern. Langfristi­g rechne er damit, dass viele bei Bedarf auch von zu Hause aus arbeiten wollen. „Es wird auf jeden Fall interessan­t, wenn die Pandemie zu einem Ende kommt – ob sich die Pendler dann wieder umverteile­n und mehr öffentlich­e Verkehrsmi­ttel nutzen. Und wie der ÖPNV darauf reagiert.“Denn sollten Berufstäti­ge sich dann wirklich vermehrt für zwei bis drei Tage Pendeln und den Rest im Homeoffice entscheide­n, müssten die Angebote des ÖPNV entspreche­nd angepasst werden. „Mit den aktuellen Tickets steht die Rentabilit­ät für Teilzeit-Pendler infrage. Da muss dann der neuen Wirklichke­it Rechnung getragen werden.“

Nach jahrelange­m Pendeln von München nach Augsburg kannte ich am Schluss die A8 fast besser als meine Aktentasch­e. Ein Beispiel: Ortsschild Odelzhause­n, Fahrtricht­ung Augsburg. Wenn der Verkehr gut lief, wusste ich genau, ich bin in 15 Minuten zu Hause. Dazu brauchte ich keine Berechnung­en des Navi, das waren im wahrsten Sinne des Wortes Erfahrungs­werte. Jetzt pendel ich nicht mehr, aber manchmal fehlen mir die Fahrten, sie waren perfekt, um abzuschalt­en.

Peter Wegner, Banker

Martin Zeh muss sich, was die Zukunft betrifft, derzeit keine Sorgen machen: Er bekomme von seinem Arbeitgebe­r die Bahncard 100 gestellt, außerdem habe sein Chef schon angekündig­t, im Hinblick auf das Thema Homeoffice noch flexibler sein zu wollen, da die Produktivi­tät zuletzt nicht abgenommen habe. Und besonders diese angekündig­te Flexibilit­ät ist für Zeh – wie wohl für viele Arbeitnehm­er nach den Erfahrunge­n des vergangene­n Jahres – besonders wichtig. Pendeln, wenn man möchte, nicht wenn man muss.

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