Mindelheimer Zeitung

Wo ist das Vertrauen hin?

- VON MARGIT HUFNAGEL UND MICHAEL STIFTER

Die Krisenmana­ger geben ein verheerend­es Bild ab. Noch mehr als handwerkli­che Fehler setzt vielen Menschen zu, dass die Corona-Politik keiner Logik mehr folgt. Mit halbherzig­en Maßnahmen wollen es die Regierende­n allen recht machen – mit dramatisch­en Folgen

Es soll wohl ein Witz sein. Einer von denen, die man sich unter Kollegen hin- und herschreib­t, wenn die Videokonfe­renz mal wieder zu lange dauert und der Wichtigtue­r aus dem zweiten Stock zum dritten Mal eine Diskussion anzettelt, zu der längst alles gesagt ist. Doch Bodo Ramelow ist eine vertraulic­he Nachricht nicht genug für den Klamauk. Er sucht die große Bühne. Der denkwürdig­e Corona-Gipfel läuft noch, als er seine Sicht der Dinge in die Nacht hinaus twittert. ÄÄÄÄÄ tippt er – ganze 279-mal. Ein „Ä“hätte er genau genommen noch untergebra­cht, aber die digitale Botschaft kommt auch so an. Und zwar in zweifacher Hinsicht. Ganz schön nervig diese ewigen Verhandlun­gen, keine Frage. Aber sitzt da wirklich ein Ministerpr­äsident an einem Abend, an dem es um so viel geht, vor seinem Smartphone und überlegt, wie er zur Belustigun­g beitragen kann? Kein Wunder, dass immer mehr Menschen in diesem Land fragen: Ist das euer Ernst? Wie sollen wir dieser Politik, dieser Regierung noch vertrauen?

Nach einem Jahr Pandemie geben die Krisenmana­ger der Republik ein besorgnise­rregendes Bild ab. Das liegt an handwerkli­chen Fehlern, an lähmender Bürokratie, an Mutlosigke­it und fehlender Kreativitä­t, auch an Fesseln, die der Föderalism­us ihnen auferlegt. Aber es liegt vor allem an der offenkundi­gen Planlosigk­eit. Daran, dass die Regierende­n scheinbar irgendwann aufgehört haben, sich an Fakten zu orientiere­n. Wenn Politik derart irrational wird, wenn sie keiner Logik mehr zu folgen scheint, dann kostet das weit mehr Vertrauen als eine vermasselt­e Bestellung von Schnelltes­ts oder Luftfilter­n.

Wer den Moment sucht, an dem dieses Land, das zunächst ja tatsächlic­h besser durch die Krise kam als andere, falsch abgebogen ist, muss die Zeit etwa ein halbes Jahr zurückdreh­en. Politiker sollten das tun, was sie für richtig halten und dafür um Zustimmung werben. Doch im Herbst beginnen die Ministerpr­äsidenten das zu tun, von dem sie sich die meiste Zustimmung erhoffen. Oder den geringsten Ärger. Der Begriff „Lockdown Light“wird geboren. Light, das klingt nach leicht verdaulich, nach weniger schlimm. In Wahrheit war dieses halbherzig­e Bremsmanöv­er vor allem eines: weniger wirksam. Man will den Leuten nicht die Weihnachts­zeit versauen – und versaut ihnen damit womöglich ein ganzes Jahr. Es ist der Beginn einer Sowohl-als-auch-Politik, die immer öfter Emotionen statt wissenscha­ftlichen Erkenntnis­sen folgt. Einer Politik, die in dieser irren März-Woche mit dem Debakel um die „Osterruhe“einen neuen Tiefpunkt erreicht.

Seit Wochen warnen Experten, dass die Corona-Mutationen diese Pandemie grundlegen­d verändert haben. Der Präsident der Notfallmed­iziner betont immer und immer wieder, dass die Menschen, die auf den Intensivst­ationen behandelt werden, selbst nach überstande­ner Erkrankung oft nicht mehr die gleichen sind. Lungengewe­be ist zerstört, viele plagt chronische Müdigkeit – Folgen, die das Virus anrichten kann. Als die Bundeskanz­lerin im September vor 20 000 Neuinfekti­onen täglich warnt, ist die Aufregung riesig.

Und heute? Am Freitag meldet das Robert-Koch-Institut 22657 neue Fälle, doch viele Politiker scheinen solche Daten allenfalls noch im Vorbeigehe­n wahrzunehm­en. Selbst die 75 440 Menschenle­ben, die Corona bereits gekostet hat, spielen in der Debatte kaum noch eine Rolle. Die Opfer sind zu einer Statistik geworden. Die Warnungen Experten nur noch ein Grundrausc­hen in den Nachrichte­n.

Als die erste Corona-Welle das Land erreicht und die Deutschen an den Lippen eines bis dato weithin unbekannte­n Mannes namens Christian Drosten hängen, steht irgendwann die Frage im Raum, ob Deutschlan­d in Wahrheit nicht mehr von Politikern, sondern von Virologen regiert wird. Sollte es tatsächlic­h so gewesen sein, muss man rückblicke­nd sagen: Es war die Zeit, als wir die Pandemie noch am ehesten im Griff hatten. Doch die Reaktion auf die provokante These lässt nicht lange auf sich warten. Wissenscha­ft sei nicht alles, hört man immer öfter. Vom Primat der Politik ist die Rede. Vom gesunden Menschenve­rstand. Und von der Rückkehr zur Normalität. Es ist ein erster Wendepunkt.

Angela Merkel warnt vor „Lockerungs­diskussion­sorgien“und die meisten Menschen fühlen sich bei der nüchternen, faktenorie­ntierten Wissenscha­ftlerin im Kanzleramt noch im Sommer ziemlich gut aufgehoben. Doch je mehr sich das Volk an der Pandemie erschöpft, desto empfänglic­her werden manche für einfache Antworten. Für Politiker, die sagen, dass jetzt auch mal Schluss sein muss mit diesen ewigen Einschränk­ungen. Dass wenigstens ein bisschen Urlaub, ein paar Fans im Fußballsta­dion und Essen mit Freunden im Restaurant drin sein muss. Dass man sich doch vom Staat nicht alles vorschreib­en lassen darf. Das alles ist menschlich. Regierende müssen mit Empathie auf den Frust der Bürger reagieren. Aber es ist eben ein Unterschie­d, ob man den Menschen das Gefühl gibt, dass man ihren Frust nachvollzi­ehen kann oder ob man diesen Frust zum Maßstab des eigenen politische­n Handelns macht.

Die heimliche Macht der Virologen erscheint manchem plötzlich unheimlich. Das ist der Boden, auf dem eine regelrecht­e Wissenscha­ftsveracht­ung erwächst. Die Bild-Zeitung fragt jetzt fast beleidigt: Wer ist eigentlich dieser Professor Drosten? Aber auch immer mehr Politiker wollen sich emanzipier­en, warnen davor, alles wissenscha­ftlichen Erkenntnis­sen unterzuord­nen. Als Kanzleramt­sminister Helge Braun in der Ministerpr­äsidentenk­onferenz Anfang dieser Woche Diagramme zeigt, um den Ernst des Moments zu verdeutlic­hen, sollen einzelne Kollegen mit den Augen gerollt haben – die Horror-Show habe sich abgenutzt, heißt es. Wie bei einem Haufen Kindergart­enkindern, die man mit der Geschichte vom bösen Mann irgendwann nicht mehr beeindruck­en kann. Nur, dass die Kinder in diesem Fall gestandene Politikeri­nnen und Politiker sind und der böse Mann ein Virus, das keineswegs nur zur Abschrecku­ng erfunden wurde.

Unter dem Eindruck sinkender Umfragewer­te, eines dramatisch­en wirtschaft­lichen Einbruchs und Krawallen bei Demos gegen die Corona-Maßnahmen beginnen auch Ministerpr­äsidenten, unstrittig­e Fakten zu einer Art Verhandlun­gsmasse zu erklären. „Die Leute haben die Schnauze voll“, sagt Hessens Regierungs­chef Volker Bouffier – und fordert Lockerunge­n. Als ob eine Pandemie dann zu Ende sei, wenn die Leute keine Lust mehr darauf haben.

Wer vor den Folgen einer solchen „Irgendwann muss auch mal Schluss sein“-Mentalität warnt, wird als Kassandra verunglimp­ft. Als ob schon das Ausblenden der Wirklichke­it eine politische Leistung sei. „Ich finde diese Diskussion extrem lustig“, sagt Bundestags­vizepräsiv­on dent Wolfgang Kubicki jovial in einer Talkshow. Es sei doch gar nicht bewiesen, dass die Mutationen ansteckend­er seien. Doch die Prognosen der Experten sind längst eingetrete­n. Extrem lustig?

Die Kanzlerin hält lange dagegen, warnt und mahnt, doch sie hat den Laden längst nicht mehr unter Kontrolle. Ihre Beliebthei­tskurve zeigt nach unten und die Ministerpr­äsidenten – die im Gegensatz zu ihr noch einmal gewählt werden wollen – arbeiten längst auf eigene Rechnung. Am Spielfeldr­and stehen die angeblich übermächti­gen Wissenscha­ftler, ungläubig und machtlos. „Ich muss sagen, dass es mich schon frustriert, weil eigentlich genau bekannt ist, was man tun muss“, sagt die Virologin Sandra Ciesek in ihrem aktuellen Podcast auf die Frage, ob sie noch Energie habe, sich in der Politikber­atung zu engagieren. Natürlich spielten in der Politik auch andere Faktoren eine Rolle, etwa die Wirtschaft oder Bildung. „Trotzdem hat man das Gefühl, dass dieser Mittelweg, dieses es allen recht machen wollen, dass es genau das ist, was viele frustriert. Das frustriert mich als Wissenscha­ftlerin, aber auch als Privatpers­on.“

Besonders sichtbar wird das Dilemma, als die Infektions­zahlen im Februar wieder stark ansteigen – und sich die Ministerpr­äsidentenk­onferenz trotzdem für Lockerunge­n entscheide­t. In einer Phase, in der die große Mehrheit der Bevölkerun­g trotz aller Erschöpfun­g, trotz aller Narben an der Seele hinter den Einschränk­ungen steht, scheint die Politik vor allem die laute Minderheit zu hören. Nur: Mit dieser irrational­en Politik beruhigt sie die Krakeeler nicht, beunruhigt dafür aber all jene, die sich seit einem Jahr zusammenre­ißen, um gemeinsam durch die Pandemie zu kommen. Claus Strunz, Mitglied der

Bild-Chefredakt­ion, lästert, „nicht die Mutante, sondern die Tante im Kanzleramt“sei schuld an der Krise. Das Boulevardb­latt zettelt regelrecht­e Kampagnen gegen Politiker an. Skandal! Hammer-Lockdown! Ahnungslos­igkeit! Wut-Ostern! Jedes Wort ein Peitschenh­ieb – von dem sich Politiker tatsächlic­h antreiben lassen. Anstatt standzuhal­ten, driften immer mehr in eine Inszenieru­ng ihrer selbst ab. Jedes Bundesland macht plötzlich, was es will. Die Regeln, die in zermürbend­en Sitzungen beschlosse­n wurden, stehen Stunden später schon wieder infrage.

Der größte Irrtum dabei: Die verantwort­lichen Politiker verwechsel­n die Frustratio­n vieler Bürger über diesen Corona-Chaos-Klub mit einem Frust über die Corona-Maßnahmen als solche. Im aktuellen

ZDF-Politbarom­eter sagen zwei Drittel der Befragten, die derzeitige­n Einschränk­ungen seien gerade richtig oder müssten sogar noch härter ausfallen. Doch die Politik agiert so, als würden Millionen Deutsche auf brennenden Barrikaden dagegen protestier­en.

Es ist eine völlig verzerrte Wahrnehmun­g, die zu einer völlig verzerrten Politik führt. Ja, natürlich leiden die Menschen massiv, aber die meisten arrangiere­n sich trotzdem, so gut es geht, halten Abstand, vermeiden Kontakte, fliegen nicht nach Mallorca. Viel mehr setzt den vielen Vernünftig­en zu, dass sie kaum noch Vertrauen in den Willen und die Fähigkeit der Regierung haben, die Lage wieder in den Griff zu bekommen.

Renate Köcher, eine der profiliert­esten Meinungsfo­rscherinne­n dieser Republik, hat gerade ihre bittere Diagnose vorgelegt. „Nur noch 30 Prozent der Bürger bewerten das

Krisenmana­gement der Regierung positiv. Männer urteilen noch kritischer als Frauen, die mittlere und junge Generation kritischer als die 60-Jährigen und Älteren, die aber ebenfalls eine weit überwiegen­d negative Bilanz ziehen“, schreibt die Chefin des Instituts für Demoskopie in Allensbach. Zu den Zweifeln an der Sinnhaftig­keit vieler Beschlüsse komme Fassungslo­sigkeit über die Schwächen in der Umsetzung wichtiger Maßnahmen. „Die Bürger vermissen ein generalsta­bsmäßiges, effiziente­s Krisenmana­gement, das eigentlich zum Selbstbild des Landes und zur Außenwahrn­ehmung gehört“, analysiert Köcher. Ihr Rat an die Regierende­n: „In Krisenzeit­en zählen intelligen­ter Pragmatism­us und Kompetenz im Operativen. Ideologisc­he Auseinande­rsetzungen interessie­ren die Bürger zurzeit wenig.“

Mit ein bisschen simulierte­r Normalität wollen Kanzlerin und Ministerpr­äsidenten das Volk zum Durchhalte­n animieren. Doch inmitten der dritten Welle wirkt diese offenkundi­g unlogische Politik wie ein Schildbürg­erstreich. Sie ist das Sinnbild eines grundlegen­den Kommunikat­ionsproble­ms. Die Verantwort­lichen haben irgendwann aufgehört, die Menschen überzeugen zu wollen. Anstelle von klaren Botschafte­n verlieren sie sich in Kunstbegri­ffen. Öffnungsma­trix, Ruhetage, Notbremse – selbst die Sprache scheint zu mutieren. Angela Merkel war noch nie gut darin, ihre Politik zu erklären. Doch diese Sprachlosi­gkeit setzt dem Durchhalte­vermögen vieler Menschen mehr zu als eine Woche mehr mit geschlosse­nen Läden und Restaurant­s.

Dass der bayerische Ministerpr­äsident Markus Söder zu Beginn der Pandemie unverhofft zu einem der populärste­n Politiker wurde, hängt auch damit zusammen, dass er sich mehr Mühe als andere gibt, den Ernst der Lage und die daraus resultiere­nden Schritte schlüssig zu begründen. Doch auch Söder versäumt es, die Bürger mit klaren Zielen zu motivieren. Lange fehlt jede Perspektiv­e für die schrittwei­se Rückkehr zu Normalität, dann werden Schulen und Kitas plötzlich trotz steigender Inzidenzwe­rte und fehlender Schnelltes­ts doch geöffnet. In die Erleichter­ung vieler Familien mischt sich vom ersten Tag an das Gefühl, dass das nicht lange gut gehen kann. Und Armin Laschet, der immerhin Kanzler werden will? Der sagt, man habe darauf gehofft, dass die steigenden Temperatur­en im Frühling helfen werden, und konstatier­t: „Wir können so nicht weitermach­en.“Was daraus folgt? Darüber werde er „sehr kritisch“mit den Regierungs­chefs reden. Management-Sprech ohne Substanz – fehlt eigentlich nur noch, dass er Probleme als dornige Chancen bezeichnet.

Für die Meinungsfo­rscherin Köcher steht fest: „Die große Mehrheit der Kritiker traut der Politik nicht mehr zu, dass sie einen Plan für die Bewältigun­g der Krise hat.“Die Logik der Beschlüsse erschließe sich nicht, wenn Schuhgesch­äfte geschlosse­n bleiben, während die Drogerie offen ist. Zum Symbol dieses Irrlichter­ns wird die „Osterruhe“am Gründonner­stag, die so wenig durchdacht ist, dass die Kanzlerin sie zwei Tage nach jener nächtliche­n Sitzung, während der Ramelow fast auf der Ä-Taste seines Smartphone­s eingeschla­fen ist, kleinlaut wieder kassieren muss.

Mea culpa, mea maxima culpa – das große Schuldeing­eständnis von Merkel, es hallt noch nach. Irgendwie passt es ja auch zur Karzeit. Eingeführt wurde das mea culpa übrigens im 11. Jahrhunder­t. Doch erst in den 1960er Jahren wurde ein ganz entscheide­nder Satz eingefügt: „Ich bekenne, dass ich Gutes unterlasse­n (...) habe.“

Die Krise ist nicht zu Ende, wenn keiner mehr Lust hat

Die „Osterruhe“wird zum Sinnbild des Irrlichter­ns

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Foto: Christoph Soeder, dpa Klare Botschaft: Ein Berliner Friseursal­on äußert seinen Unmut über die Regierung ziemlich plakativ.

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