Mindelheimer Zeitung

Amerikas Polizei steht mit vor Gericht

USA Beim Prozess gegen den Ex-Polizisten Derek Chauvin wird nicht nur der gewaltsame Tod des Afroamerik­aners George Floyd verhandelt. Auch die alltäglich­e Polizeigew­alt und der latente Rassismus der amerikanis­chen Gesellscha­ft stehen am Pranger. Die Erwar

- VON KARL DOEMENS

Washington Mal ist sein schlecht geschnitte­ner Anzug blau, mal hell-, mal dunkelgrau. Dazu trägt der Angeklagte ein einfarbige­s blaues oder graues Hemd und eine ungemuster­te Krawatte, wie man sie im Kaufhaus im Kombi-Pack kaufen kann. Mund und Nase seines Gesichts verbirgt eine große schwarze Maske. Über der Stirn prangt eine Halbglatze. Stumm verfolgt er sitzend das Geschehen. Nur wenn der Richter den Raum betritt, steht er kerzengera­de. Im Saal C 1856 des Bezirksger­ichts in Minneapoli­s gibt Derek Chauvin den Biedermann.

Der Auftritt kontrastie­rt auffällig mit dem Bild, das Millionen Amerikaner von dem 45-Jährigen im Kopf haben. Es entstand am 25. Mai des vergangene­n Jahres 32 Straßenblo­cks weiter südlich an einer raueren Ecke der Chicago Avenue. Da schaut Chauvin mit aufgerisse­nen Augen in die Kamera. Stolz prangt die Dienstplak­ette auf seiner Brust. Eine hochgestec­kte Sonnenbril­le verbirgt sein schütteres Haar. Scheinbar lässig hockt der Polizist mit den Händen in den Hosentasch­en neben einem Einsatzwag­en. Sein linkes Knie aber drückt brutal auf den Hals eines am Boden liegenden Afroamerik­aners.

Neun Minuten lang presste der weiße Beamte den mit Handfessel­n fixierten Schwarzen so gegen den Asphalt, obwohl dieser immer wieder „I can’t breathe“(„Ich kann nicht atmen“) stöhnte und schließlic­h das Bewusstsei­n verlor. Erst als die Rettungssa­nitäter eintrafen, ließ Chauvin von dem Regungslos­en ab. Im Krankenhau­s konnte kurz darauf nur noch dessen Tod festgestel­lt werden. Seit diesem dramatisch­en Abend ist George Floyd, das Opfer, weltweit zur Ikone einer breiten Protestbew­egung gegen Rassismus und Polizeigew­alt geworden.

Der kurz darauf gefeuerte Beamte aber muss sich vor Gericht verantwort­en. In den ersten drei Wochen des Prozesses wurde die Geschworen­en-Jury ausgewählt. An diesem Montag nun beginnt die Verhandlun­g mit den Eröffnungs­plädoyers von Anklage und Verteidigu­ng. Bei einer Verurteilu­ng drohen Chauvin bis zu 40 Jahre Haft.

Das Verfahren „Staat Minnesota gegen Derek Chauvin“ist in vielerlei Hinsicht außergewöh­nlich. Nicht nur der Prozess wird live im Netz übertragen, weil wegen der Corona

nur wenige Menschen Zutritt zum Verhandlun­gssaal haben. Auf veröffentl­ichten Aufnahmen von Überwachun­gskameras und Handy-Videos von Passanten konnte das ganze Land auch den Tathergang nachverfol­gen.

Anschließe­nd waren im vergangene­n Sommer vielerorts in den USA gewaltlose Proteste, aber auch Krawalle und Plünderung­en ausgebroch­en. Ex-Präsident Donald Trump ließ friedliche Demonstran­ten vor dem Weißen Haus mit Knüppeln und Pfefferspr­ay vertreiben, um sich mit einer Bibel als „Law and Order“-Mann zu inszeniere­n. Der damalige Präsidents­chaftskand­idat Joe Biden aber traf sich mit der Floyd-Familie und sagte anschließe­nd über dessen kleine Tochter: „Ich glaube, ihr Vater wird die Welt verändern.“Das waren große Worte. Entspreche­nd mächtig sind nun die Erwartunge­n an Politik und Justiz. Unmittelba­r vor Verhandlun­gsbeginn hat der schwarze Bürgerrech­tler Al Sharp einer Kundgebung aufgerufen. „Wir wollen, dass die Polizei für dieses Verbrechen zur Rechenscha­ft gezogen wird“, fordert der Baptistenp­rediger.

Für die Geschichts­professori­n Mary Frances Berry, die unter ExPräsiden­t Bill Clinton die Bürgerrech­tskommissi­on der US-Regierung leitete, ist der Prozess ein Lackmustes­t auf die Ernsthafti­gkeit des Landes im Umgang mit lang bekannten Missstände­n: „Wenn Chauvin verurteilt wird, ist das ein Signal an die Polizei, dass solches Verhalten nicht geduldet wird“, sagte sie dem Sender BBC. Fatal wäre das Zeichen bei einem Freispruch: „Es würde bedeuten, dass die Polizei mit der Tötung von unbewaffne­ten Menschen davonkommt, selbst wenn man es mit den eigenen Augen gesehen hat.“

Schon jetzt ist der Prozess historisch: Es ist das erste Mal, dass im Bundesstaa­t Minnesota ein weißer Polizist wegen der Tötung eines Schwarzen angeklagt wird. EntsprePan­demie chend groß sind Medieninte­resse und Sicherheit­svorkehrun­gen. Bereits der Auftakt des Verfahrens verlief turbulent. Erst gab es Streit über die Anklagepun­kte und die Zulassung von Beweismitt­eln. Dann forderte die Verteidigu­ng eine Verschiebu­ng der Verhandlun­g, weil die Stadt Minneapoli­s durch die Zusicherun­g eines Schmerzens­geldes von 27 Millionen Dollar für die Angehörige­n von Floyd die öffentlich­e Stimmung beeinfluss­t habe.

Und schließlic­h musste eine möglichst unvoreinge­nommene Jury zusammenge­stellt werden, die das Urteil spricht. Am Ende wurden zwölf Geschworen­e und drei Ersatzkand­idaten ausgewählt – neun Weiße, vier Schwarze und zwei Angehörige mehrerer Ethnien. Aus Sicherheit­sgründen bleiben ihre Namen bislang geheim. Bürgerrech­tler sind mit der Zusammense­tzung der Jury, die Afroamerik­aner gegenüber ihrem Bevölkerun­gsanteil leicht überrepräs­entiert, zufrieden. Positiv bewerten sie auch, dass das Gericht nezu ben den Anklagen wegen „Mordes zweiten Grades“– in Deutschlan­d vergleichb­ar mit Totschlag – und „Tötung zweiten Grades“– fahrlässig­e Tötung auch eine mittelschw­ere Anklage wegen Mordes dritten Grades zugelassen hat, auf die bis zu 25 Jahren Haft stehen.

Unverständ­nis hat hingegen die Entscheidu­ng von Richter Peter Cahill provoziert, auch Beweismitt­el aus einem früheren Strafverfa­hren gegen Floyd zuzulassen. Chauvins Verteidige­r will offenbar versuchen, seinen Mandaten als aufrechten Ordnungshü­ter zu präsentier­en und Floyd, der Zigaretten mit einem gefälschte­n 20-Dollar-Schein bezahlt hatte, als drogenabhä­ngigen Kriminelle­n darzustell­en. Die Verantwort­ung für die Eskalation bei der Festnahme versucht er, auf die drei Kollegen von Chauvin abzuschieb­en, die im August gesondert vor Gericht stehen. Vor allem dürfte der Anwalt argumentie­ren, dass Floyds Tod nicht durch die brutale Polizeigew­alt, sondern von einer Herz-Vorerkrank­ung

sowie dem Konsum des Schmerzmit­tels Fentanyl und der Droge Methamphet­amin ausgelöst worden sei, deren Spuren bei der Autopsie gefunden wurden.

Doch zum Vorzeige-Cop taugt Chauvin nicht. In den Akten des Mannes, der seit 2001 bei der Polizei arbeitete, finden sich insgesamt 22 Beschwerde­n über Fehlverhal­ten. Zweimal kam es zu einem Disziplina­rverfahren. Unter Kollegen galt der 45-Jährige nach amerikanis­chen Medienberi­chten als Einzelgäng­er mit Haudrauf-Mentalität. Fast jeden Tag arbeitete er nebenbei als privater Sicherheit­smann in Nachtklubs, Restaurant­s und Lebensmitt­elläden. Die Besitzerin eines Klubs, in dem er als Türsteher jobbte, berichtet rückblicke­nd von „unnötig aggressive­m Verhalten“ihres Rausschmei­ßers gegenüber Schwarzen.

Chauvins Biografie fügt sich ein in das problemati­sche Bild einer Polizei, die in den USA eher militärisc­h ausgebilde­t und ausgerüste­t ist, zu übermäßige­r Härte neigt und nachweisli­ch bei der Konfrontat­ion mit Schwarzen lieber zu früh die Waffe zieht, ohne dafür belangt zu werden. Lange schon fordern Kritiker deswegen grundlegen­de Änderungen. Mit der Verabschie­dung einer Polizeiref­orm hat das demokratis­ch kontrollie­rte Repräsenta­ntenhaus Anfang des Monats einen ersten Schritt unternomme­n: Das Gesetz, das nach George Floyd benannt wurde, würde unter anderem Würgegriff­e und ethnische Diskrimini­erung verbieten und durch veränderte Immunitäts­regeln die Anklage von übergriffi­gen Beamten erleichter­n. Doch ob die Reform die erforderli­che Mehrheit im Senat erreicht, erscheint derzeit fraglich.

Umso stärker konzentrie­rt sich das öffentlich­e Interesse auf den Prozess in Minneapoli­s. Zwei bis vier Wochen könnte es bis zum Urteil der Geschworen­en dauern, das völlig unkalkulie­rbar ist. Die Erwartunge­n der Hinterblie­benen von George Floyd sind derweil klar. „Das ist kein schwierige­r Fall“, sagt Ben Crump, der Anwalt der Familie: „Wäre George Floyd weiß gewesen, wären die Fakten unbestritt­en und es würde schnell für Gerechtigk­eit gesorgt. Damit rechnen wir auch für George.“

Polizeiref­orm bekam George Floyds Namen

 ?? Foto: John Arthur Brown, dpa ?? Mahnwache für George Floyd in Atlanta: Ganz Amerika schaut ab Montag auf den Prozess gegen den Ex‰Polizisten Derek Chauvin.
Foto: John Arthur Brown, dpa Mahnwache für George Floyd in Atlanta: Ganz Amerika schaut ab Montag auf den Prozess gegen den Ex‰Polizisten Derek Chauvin.

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