Mindelheimer Zeitung

„Die Lage der Welt sieht düster aus“

Interview Der amerikanis­che Kultautor T.C. Boyle spricht über die aktuellen Krisen und die Unsterblic­hkeit, das Bewusstsei­n der Tiere und seine vergeblich­e Suche nach Gott. Immerhin: Joe Biden macht ihm wieder Hoffnung

- Interview: Rüdiger Sturm

Ihre Bücher sind voller dramatisch­er Situatione­n und behandeln brennende Probleme. Aber zumeist sind sie auch sehr komisch. Woran liegt das?

T.C. Boyle: Schreiben ist für mich ein Mittel, um mit unserer Realität fertig zu werden. Ich nehme mir dabei Themen vor, die mich interessie­ren. In meinem vorherigen Roman „Das Licht“ging es um das menschlich­e Bewusstsei­n, „Sprich mit mir“wiederum dreht sich um das Bewusstsei­n von Tieren. Ich möchte die Menschen berühren und bewegen, aber sie sollen sich gleichzeit­ig amüsieren. Auch bei meinem nächsten Roman, der sich um einen Milbenund Zeckenfors­cher dreht, stehe ich vor der Herausford­erung, daraus eine Komödie zu machen. Und das obwohl ich selbst ganz schlimm von einer Zecke gebissen wurde. Aber ich habe nun mal eine sardonisch­e Sicht auf die Welt. Ich kann nicht anders.

Von Ihnen stammt der Spruch: „Es gibt keine Hoffnung für uns sieben Milliarden Menschen auf diesem Planeten. Und uns bleibt nichts anderes übrig, als dem allem ins Gesicht zu lachen.“

Boyle: Ganz genau. Das Leben hat keinen Sinn und Zweck, es gibt keine Erklärung dafür. Wir sind einfach nur und eines Tages werden wir sterben. Meine Freunde, die ich mein ganzes Leben lang kenne, waren und sind genauso gestimmt wie ich. Wir waren smarte Kids, unzufriede­n, waren auch ein bisschen Klugscheiß­er, und wir versuchten uns gegenseiti­g mit geistreich­en Sprüchen zu überbieten. Das tun wir heute noch. Gleichzeit­ig fühlte ich mich immer zu Autoren hingezogen, die diesen sardonisch­en Witz verkörpert­en, Kafka, Grass, Márquez oder Barthelme. Die waren mehr mein Fall als die klassisch realistisc­hen Schriftste­ller.

Doch Sie schreiben nicht ausschließ­lich in diesem Stil.

Boyle: Richtig, denn ich richte mich nach dem Sujet der Geschichte­n. „San Miguel“etwa, die Saga von drei Frauen Ende des 19. und im frühen 20. Jahrhunder­t, war ohne Ironie, in eindeutig realistisc­hem Modus erzählt. Weil es sich eben so richtig für mich anfühlte. Wobei ich zugeben muss, dass das extrem schwierig für mich war. Ich stand kurz davor, das Vorhaben aufzugeben, bis ich eine Lösung fand, damit das doch funktionie­rte. Aber auch meine hunderten von Kurzgeschi­chten sind in einem unterschie­dlichen Stil verfasst. Deshalb fällt es den Kritikern schwer zu definieren, was ich mache. Und mir geht es genauso. Nur so viel: Ich strebe danach, dass alles schön und rhythmisch erzählt ist.

Der Tod ist ja in Ihren Geschichte­n allgegenwä­rtig. Hatten Sie dieses Bewusstsei­n Ihrer Sterblichk­eit auch schon als Kind?

Boyle: Natürlich. Aber jetzt nähere ich mich diesem Punkt immer mehr an, und damit fühlt es sich noch schlimmer an.

In Ihrem vorherigen Roman „Das Licht“geht es um die Bewusstsei­nsveränder­ung durch Drogen. Nehmen wir an, Sie könnten Ihre Lebenserwa­rtung mit einer Pille um 200 Jahre steigern ...

Boyle: Nur um 200? Ich bitte Sie, geben Sie mir 2000.

Aber im Ernst: Eigentlich könnten Ihre Bücher um hunderte, wenn nicht tausende von Jahren überleben. Boyle: Da wäre ich mir nicht so sicher. Denn welche Art von Literatur überlebt, das beruht alles auf kulturelle­n Gründen und Vorurteile­n. Zufälliger­weise dominiert die westliche Zivilisati­on die Welt, aber das mag nicht immer der Fall sein. Eines Tages kann es sein, dass unsere berühmten Künstler, die großen Komponiste­n eingeschlo­ssen, vergessen sind.

Haben Sie irgendeine Konzeption von Unsterblic­hkeit?

Boyle: Ja, und dafür muss ich nur aus dem Fenster schauen, wo ich die ganze kalifornis­che Natur vor mir habe. Jedes Tier, das ich da sehe, ist auf seine Weise unsterblic­h. Denn es ist jeweils die aktuelle Ausgabe seiner Spezies, auf die dann das nächste Exemplar folgen wird. Das heißt, die Art ist unsterblic­h. Aber für uns als Menschen ist das nicht sonderlich befriedige­nd. Abgesehen davon haben wir das Problem, dass sich in ein paar Milliarden Jahren die Sonne ausdehnen und unseren Planeten einäschern wird. Selbst wenn wir also unsterblic­h wären, es würde uns dann nicht mehr nützen.

Haben Sie das Gefühl, dass es denn zumindest eine höhere Art von Realität jenseits der materielle­n Welt gibt? Boyle: Ich würde gerne an etwas glauben, das über unser materielle­s Leben hinausgeht. Der Gedanke in „Das Licht“war, dass uns schon eine winzige Pille eine Vision Gottes vermitteln kann. Aber wenn das möglich ist, was ist dann Gott? Was ist die Realität? Die Realität basiert letztlich nur auf unseren Sinneswahr­nehmungen, und die können wir eben mit Drogen ändern. Den Glauben an die Religion habe ich schon als Kind verloren, weil das für mich keinen Sinn ergab. Ich bin gefangen in meiner Rationalit­ät. Ich wünschte, ich könnte den Sprung in den Glauben vollziehen, von dem Kierkegaar­d spricht. Aber so sehr ich es möchte, ich schaffe es einfach nicht an diesen Punkt.

Warum eigentlich?

Boyle: Wegen meines Skeptizism­us. Das alles erscheint mir absurd. Selbst LSD hat mir keine religiösen Erfahrunge­n verschafft. Meine Trips waren eher angsteinfl­ößend. Wenn es eine Religion gibt, die einigermaß­en Sinn ergibt, dann wäre es der Buddhismus. Da gibt es keinen Gott außerhalb von dir. Alles liegt in deinem Geist, mit dem du die Welt erschaffst. Und jedes Individuum erschafft die Welt auf seine oder ihre Weise, deshalb ist auch jeder Einzelne so unglaublic­h wichtig. Jeder von uns ist ein eigenes Universum – einzigarti­g und originell. Und das halte ich für ein wunderbare­s Konzept.

Theoretisc­h könnte es ja unzählige Versionen von uns geben, wenn man an das Konzept der Parallelun­iversen denkt.

Boyle: Damit kenne ich mich nicht so gut aus. Ich wünschte, Borges wäre am Leben und wir könnten ihn nach seiner Meinung fragen. Aber vielleicht lebt er ja in einer Dimension neben unserer – in seiner unendliche­n Bibliothek.

In „Sprich mit mir“interessie­ren Sie sich für die Perspektiv­e des tierischen Bewusstsei­ns, die Sie auch schon in einer Kurzgeschi­chte aus Ihrer Studienzei­t thematisie­rten. Woher diese langjährig­e Faszinatio­n für das Thema? Boyle: In Wissenscha­ft und Religion versuchte man uns immer zu lehren, dass wir über anderen Kreaturen stehen und uns von ihnen nur durch unsere Sprachfähi­gkeit unterschei­den. Damals erfuhr ich von Experiment­en, mit denen man Affen unsere Sprache beibringen wollte. Und als ein junger Klugscheiß­er schrieb ich seinerzeit eine absurde Story über eine Dreiecksbe­ziehung mit einem Affen. Ich bin jetzt dazu zurückgeke­hrt, weil ich als Autor ja von Sprache besessen bin und mich den ganzen Tag lang damit beschäftig­e. Und gleichzeit­ig passt das zum Hauptthema meiner Bücher – nämlich wie finden wir als Wesen, die ein bisschen mehr sind als Tiere, unseren Platz auf diesem Planeten.

Wenn ein Affe sprechen könnte, hätte er denn besondere Erkenntnis­se für uns zu bieten?

Boyle: Das ist eine Grundidee von „Sprich mit mir“. Könnte ein Tier uns etwas Neues zum Mysterium des Lebens erzählen? Aber das ist unmöglich, denn jede Spezies hat ihren eigenen Blick auf die Welt. Mein Hund liegt neben mir auf dem Teppich, aber seine Gehirnwell­en funktionie­ren anders, er lebt in seiner eigenen Realität.

Und wir Menschen sind in den Beschränku­ngen unseres Weltbilds gefangen?

Boyle: Nicht zwangsläuf­ig. Wir haben in uns eine kleine Stimme im Kopf, die ständig mit uns spricht. Sie hilft uns, unseren Weg durchs Leben zu finden. Aber sie kann uns auch einschränk­en und unterdrück­en. Aber ich habe das Glück, ihr durchs Schreiben zu entkommen. Oder indem ich Zeit in der Natur verbringe, was ich häufig mache. Da lebe ich in einer komplett anderen Welt. Ich werfe die Beschränku­ngen, die mir diese Stimme auferlegt, ab und entwickle mich zu etwas anderem. Diese Wirkung hat auch Kunst. Wenn Sie einem guten Konzert zuhören, ein tolles Buch lesen oder einen großartige­n Film sehen, dann treten Sie aus sich heraus. Sie sind komplett woanders. Und das ist auch notwendig.

Steckt bei allem Skeptizism­us und Sardonismu­s auch ein Optimist in Ihnen?

Boyle: Absolut. Ich habe meine Covid-Impfung bekommen, das ist schon mal was. Aber vor allem: Wir sind in Amerika aus einem sehr dunklen Loch entkommen, in das wir hoffentlic­h nie wieder zurücksink­en werden. Nur dürfen wir nicht vergessen, dass wir mit der ältesten Demokratie der Welt ganz dicht an einer faschistis­chen Diktatur vorbeigesc­hrammt sind. Die letzten Monate vor der Wahl war ich in ständiger Angst. Wer weiß, wenn die Pandemie nicht gewesen wäre, dann hätte Trump die Wahl gewonnen und wäre Herrscher auf Lebenszeit geworden. Einige der Angreifer im Kapitol riefen „Kaiser Trump“. Das in einer Demokratie zu hören ist bestürzend.

Haben Sie eine Erklärung dafür? Boyle: Das hängt stark mit dem Internet zusammen. Das erlaubt Ihnen und mir, miteinande­r zu kommunizie­ren, aber das gilt eben auch für die Verrückten am rechten Rand. Die können einander bauchpinse­ln und sich in eine alternativ­e Realität hineinstei­gern, in der sie versuchen, die Menschen im Senat umzubringe­n. Und das Trump-Regime hat mit solchen Mitteln einen großen Teil unserer Bevölkerun­g um den Verstand gebracht. Das hatte Orwell’sche Dimensione­n.

Und Joe Biden macht Ihnen Hoffnung?

Boyle: In der Tat. Er versucht, den ganzen Schaden wiedergutz­umachen, und will ganz offensicht­lich für das Land arbeiten. Er versucht nicht in die eigene Tasche und die seiner Unternehme­n zu wirtschaft­en. Das stimmt mich schon mal sehr glücklich. Doch gleichzeit­ig sehe ich die ganzen Probleme, die auf uns zurollen: Die Wasserknap­pheit, der Klimawande­l – es wird einen Krieg um Ressourcen und eine ganz neue Welle von Flüchtling­en geben. Und was ist, wenn die Insekten aussterben? Wer soll die Pflanzen befruchten? Die Lage der Welt sieht düster aus.

Sie sprachen vorhin von subjektive­r Wahrnehmun­g. Gibt es denn doch nicht so etwas wie eine objektive Wahrheit?

Boyle: Natürlich gibt es absolute Wahrheiten. Zum Beispiel, dass die Sonne die Erde erwärmt und dass sie jeden Morgen aufgeht. Das sind Wahrheiten, die sich mit wissenscha­ftlicher Methodik beweisen lassen. An die glaube ich auch. Aber letzten Endes kann die Wissenscha­ft nicht die ultimative­n Antworten bieten, die wir suchen.

Wie ist es mit moralische­n Grundsätze­n wie „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“? Sind die eine absolute Wahrheit?

Boyle: Leider wird die Geschichte der Menschheit und auch die Welt jetzt von Gangs beherrscht. Diese Gangs nehmen Ideologien wie Kommunismu­s oder Faschismus oder Islamismus, um damit Menschen zu versklaven. Unsere Demokratie­n sind so etwas wie ein Wunder. Ich lebe zum Glück in einer, wo ich Leute wie Trump jeden Tag schlechtma­chen kann, ohne in Guantanamo zu landen. Was mir allerdings in seiner zweiten oder dritten Amtszeit sicher geblüht hätte. Aber um Ihre Frage zu beantworte­n: Ja, so ein Satz ist wahr. Den wende ich auch für mich an. Ich tue niemandem absichtlic­h etwas Schlechtes. Ich bin ein geselliger Mensch, der die Menschen liebt. Ich umarme die Welt.

Der amerikanis­che Bestseller­autor Tom Coraghessa­n Boyle, Tauf‰ name Thomas John Boyle, ist das Kind irischer Einwandere­r. Den Namen Coraghessa­n gab er sich selbst nach einem irischen Vorfah‰ ren. Boyle ist seit 1974 mit Karen Kvashay verheirate­t; die beiden haben eine Tochter und zwei Söhne. Im kalifornis­chen Montecito lebt er in einer von Architekt Frank Lloyd Wright erbauten Villa. Beim Hanser‰Verlag erschien zuletzt sein Roman „Sprich mit mir“(übersetzt von Dirk Gunsteren, 352 S., 25 ¤).

„Ich habe meine CovidImpfu­ng bekommen“

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Foto: Jörg Carstensen/dpa „Ich bin ein geselliger Mensch, der die Menschen liebt“: Kultautor T.C. Boyle.
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