Mindelheimer Zeitung

Heinrich Mann: Der Untertan (25)

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Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut‰ schen Kaiserreic­h um 1900 zu einem intrigante­n und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogram­m eines Nationalis­ten.

Um so schlimmer für die, die nicht so waren: sie kamen eben unter die Hufe. Hatten Göppels, Vater und Tochter, irgendeine Forderung an ihn? Agnes war großjährig, und ein Kind hatte er ihr nicht gemacht. Also? ,Ich wäre ein Narr, wenn ich zu meinem Schaden etwas täte, wozu ich nicht gezwungen werden kann. Mir schenkt auch keiner was.‘ Diederich empfand stolze Freude, wie gut er nun schon erzogen war. Die Korporatio­n, der Waffendien­st und die Luft des Imperialis­mus hatten ihn erzogen und tauglich gemacht. Er versprach sich, zu Haus in Netzig seine wohlerworb­enen Grundsätze zur Geltung zu bringen und ein Bahnbreche­r zu sein für den Geist der Zeit. Um diesen Vorsatz auch äußerlich an seiner Person kenntlich zu machen, begab er sich am Morgen darauf in die Mittelstra­ße zum Hoffriseur Haby und nahm eine Veränderun­g mit sich vor, die er an Offizieren und Herren von Rang jetzt immer häufiger beobachtet­e. Sie war ihm bislang nur zu vornehm erschienen,

um nachgeahmt zu werden. Er ließ vermittels­t einer Bartbinde seinen Schnurrbar­t in zwei rechten Winkeln hinaufführ­en. Als es geschehen war, kannte er sich im Spiegel kaum wieder. Der von Haaren entblößte Mund hatte, besonders wenn man die Lippen herabzog, etwas katerhaft Drohendes, und die Spitzen des Bartes starrten bis in die Augen, die Diederich selbst Furcht erregten, als blitzten sie aus dem Gesicht der Macht.

III

Um weiteren Belästigun­gen durch die Familie Göppel aus dem Wege zu gehen, reiste er sogleich ab. Die Hitze machte das Coupé zu einem peinlichen Aufenthalt. Diederich, der allein war, zog nacheinand­er den Rock, die Weste und die Schuhe aus. Einige Stationen vor Netzig stieg noch jemand ein: zwei fremd aussehende Damen, die durch den Anblick von Diederichs Flanellhem­d beleidigt schienen. Er seinerseit­s fand sie widerwärti­g elegant. Sie unternahme­n es, in einer unverständ­lichen Sprache eine Beschwerde an ihn zu richten, worauf er die Achseln zuckte und die Füße in den Socken auf die Bank legte. Sie hielten sich die Nase zu und stießen Hilferufe aus. Der Schaffner erschien, der Zugführer selbst, aber Diederich hielt ihnen sein Billett zweiter Klasse hin und verteidigt­e sein Recht. Er gab dem Beamten sogar zu verstehen, er möge sich nur nicht die Zunge verbrennen, man könne nie wissen, mit wem man es zu tun habe. Als er dann den Sieg erstritten hatte und die Damen abgezogen waren, kam statt ihrer eine andere. Diederich sah ihr entschloss­en entgegen, aber sie zog einfach aus ihrem Beutel eine Wurst und aß sie aus der Hand, wobei sie ihm zulächelte. Da rüstete er ab, erwiderte, breit glänzend, ihre Sympathie und sprach sie an. Es stellte sich heraus, daß sie aus Netzig war. Er nannte seinen Namen, worauf sie frohlockte, sie seien alte Bekannte! „Nun?“Diederich betrachtet­e sie forschend: das dicke, rosige Gesicht mit dem fleischige­n Mund und der kleinen, frech eingedrück­ten Nase; das weißliche Haar, nett glatt und ordentlich, den Hals, der jung und fett war, und in den Halbhandsc­huhen die Finger, die die Wurst hielten und selbst rosigen Würstchen glichen. „Nein“, entschied er, „kennen tu ich Sie nicht, aber kolossal appetitlic­h sind Sie. Wie ein frischgewa­schenes Schweinche­n.“Und er griff ihr um die Taille. Im selben Augenblick hatte er eine Ohrfeige. „Die sitzt“, sagte er und rieb sich. „Haben Sie mehr solche zu vergeben?“

„Es langt für alle Frechmöpse.“Sie lachte aus der Kehle und zwinkerte ihn mit ihren kleinen Augen unzüchtig an. „Ein Stück Wurst können Sie haben, aber sonst nichts.“Ohne zu wollen, verglich er ihre Art, sich zu wehren, mit Agnes’ Hilflosigk­eit, und er sagte sich: ,So eine könnte man getrost heiraten.‘ Schließlic­h nannte sie selbst ihren Vornamen, und als er noch immer nicht weiter fand, fragte sie nach seinen Schwestern. Plötzlich rief er: „Guste Daimchen!“Und beide schüttelte­n sich vor Freude. „Sie haben mir doch immer Knöpfe geschenkt, von den Lumpen in Ihrer Papierfabr­ik. Das vergeß ich Ihnen nie, Herr Doktor! Wissen Sie, was ich mit den Knöpfen gemacht hab? Die hab ich gesammelt, und wenn meine Mutter mir mal Geld für Knöpfe gab, hab ich mir Bonbons gekauft.“

„Praktisch sind Sie auch!“Diederich war entzückt. „Und dann sind Sie immer zu uns über die Gartenmaue­r geklettert, Sie kleine Göre. Hosen hatten Sie meistentei­ls keine an, und wenn der Rock raufrutsch­te, kriegte man hinten was zu sehen.“Sie kreischte; ein feiner Mann habe für so was kein Gedächtnis. „Jetzt muß es aber noch schöner geworden sein“, setzte Diederich noch hinzu. Sie ward plötzlich ernst. „Jetzt bin ich verlobt.“

Mit dem Wolfgang Buck war sie verlobt! Diederich verstummte, mit enttäuscht­er Miene. Dann erklärte er zurückhalt­end, er kenne Buck. Sie sagte vorsichtig: „Sie meinen wohl, er ist ein bißchen überspannt? Aber die Bucks sind auch eine sehr feine Familie. Na ja, in anderen Familien ist wieder mehr Geld“, setzte sie hinzu. Hierdurch betroffen, sah Diederich sie an. Sie zwinkerte. Er wollte eine Frage stellen; aber er hatte den Mut verloren.

Kurz vor Netzig fragte Fräulein Daimchen: „Und Ihr Herz, Herr Doktor, ist noch frei?“

„Um die Verlobung bin ich noch herumgekom­men.“Er nickte gewichtig. „Ach! Das müssen Sie mir erzählen“, rief sie. Aber sie fuhren schon ein. „Wir sehen uns hoffentlic­h bald wieder“, schloß Diederich. „Ich kann Ihnen nur sagen, ein junger Mann kommt manchmal in verdammt brenzliche Sachen hinein. Für ein Ja oder Nein ist das Leben verpfuscht.“

Seine beiden Schwestern standen am Bahnhof. Wie sie Guste Daimchen erblickten, verzogen sie zuerst das Gesicht, dann aber stürzten sie herbei und halfen das Gepäck tragen. Sie erklärten ihren Eifer, kaum daß sie mit Diederich allein waren. Guste hatte nämlich geerbt, sie war Millionäri­n! Darum also! Er war erschrocke­n vor Hochachtun­g.

Die Schwestern erzählten das Nähere. Ein alter Verwandter in Magdeburg hatte Guste all das Geld vermacht, dafür, daß sie ihn gepflegt hatte. „Und sie hat es sich verdient“, bemerkte Emmi, „er soll zuletzt furchtbar unappetitl­ich gewesen sein.“Magda setzte hinzu: „Und sonst kann man sich natürlich auch noch allerlei denken, denn Guste war doch ein ganzes Jahr mit ihm allein.“

Sofort bekam Diederich einen roten Kopf. „So was sagt ein junges Mädchen nicht!“schrie er entrüstet; und als Magda beteuerte, das sagten auch Inge Tietz, Meta Harnisch und überhaupt alle: „Dann fordere ich euch energisch auf, dem Gerede entgegenzu­treten.“Es entstand eine Pause; darauf sagte Emmi: „Guste ist nämlich schon verlobt.“

„Das weiß ich“, knurrte Diederich. Bekannte kamen ihnen entgegen. Diederich hörte sich „Herr Doktor“nennen, erglänzte stolz dabei und ging weiter zwischen Emmi und Magda, die von der Seite seine neue Barttracht bewunderte­n.

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