Mindelheimer Zeitung

Die Begegnung mit den Toten

Daran glauben Sie nicht? Tatsächlic­h aber scheint ein Menschheit­straum gerade virtuell Realität Ein weltweiter Streifzug durch die neuen Möglichkei­ten, die ein gewaltiges Marktpoten­zial haben.

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Die Fragen könnten nicht tiefer dringen. Denn es geht um unser Leben mit der Sterblichk­eit und um den Umgang mit dem Verlust unserer Liebsten. Die Folgen könnten nicht weiter reichen. Denn so unterschie­dlich ihre Bewertunge­n in der Folge ausfallen werden, was die neuen Möglichkei­ten der Digitalisi­erung für uns bedeuten, darin sind sie sich doch nahezu wortgleich einig – ein Weihbischo­f, der gefragter Experte für die ethischen Dimensione­n von Technik und Wissenscha­ft ist, und zwei preisgekrö­nte Dokumentar­filmer, die um die Welt gereist sind, um zu erfahren, was da eigentlich alles passiert: Es ist der Bruch in einem Verhältnis, das die gesamte menschlich­e Kulturgesc­hichte bestimmt hat.

„Schon die Pyramiden oder die frühen Grabbeigab­en der Steinzeit waren technische Versuche, über die Sterblichk­eit hinauszure­ichen. Aber was wir da heute sehen, ist die Überwindun­g der Schallmaue­r des Todes, auf die das Leben des Menschen immer schon zusteuert, in einer neuen Dimension“, sagt der Augsburger Weihbischo­f Anton Losinger, Jahrgang 1957. „Seit ihrem Anbeginn träumt die Menschheit davon, dem Tod zu entkommen… In diesen Tagen scheint das detailgetr­eue digitale Klonen seines Wesens, seiner Art zu sprechen und zu handeln, ja vielleicht sogar seiner Art zu denken zum Greifen nah“, heißt es bei den Berliner Publiziste­n Moritz Rieswieck und Hans Block, Jahrgang 1985.

Aber bevor es zu den daraus resultiere­nden großen Fragen und zu den schwerwieg­enden Folgen geht, erst einmal zu zwei kleinen Geschichte­n – und einer einfachen Frage an Sie: Was davon ist reine Fiktion, was davon wirklich geschehen?

In der ersten Szene begegnen wir einem Mann Ende 30, er sitzt vor einem Bildschirm und spricht über diesen mit seiner in der Ferne lebenden Mutter. Er erklärt ihr, dass er beruflich sehr eingespann­t ist und deshalb wohl auch dieses Mal wieder nicht über die Feiertage zu Besuch kommen kann – hält dann jedoch inne, als er die große Enttäuschu­ng im Gesicht der Mutter sieht, die diese zwar zu verbergen sucht, aber nicht kann. Er gibt sich einen Ruck, sagt ihr doch zu, sieht, wie sie glücklich strahlt, hört, wie Vorfreude und Erleichter­ung aus ihr hervorspru­deln, sagt, dass er sie liebt, und verabschie­det sich: „Auf bald!“Als der Bildschirm dann erlischt, aber bricht der Mann in Tränen aus. So hätte er damals entscheide­n müssen, flüstert er, das hätte er sagen sollen – aber er hat es eben nicht. Es wäre das letzte Mal gewesen, dass er sie vor ihrem Tod wiedergese­hen hätte… Die Vorführung macht Eindruck. Ein potenziell­er Investor, der neben dem gerührten Mann sitzt, zeigt sich sofort entschloss­en einzusteig­en. Dafür sollte es auf jeden Fall einen Markt geben!

In der zweiten Szene erfährt ein Mann von der finalen Krebsdiagn­ose seines Vaters. Mit seinem Bruder beschließt er, noch möglichst viele Lebenserin­nerungen des Sterbenden bewahren zu wollen – und Interviews mit ihm zu führen. Als der Vater schließlic­h tot ist, entdeckt der Mann eine freigegebe­ne Software im Internet, mit der ein Unternehme­n Barbies zum Sprechen gebracht hat. Und hat eine Idee. Über hunderte Stunden hinweg programmie­rt er nun alles Material von seinem Vater ein – und erschafft so etwas, das er „Dadbot“tauft. Eine sich im Gebrauch weiterentw­ickelnde Vater-Maschine also ermöglicht ihm, fortan auch immer weiter und immer besser mit dem eigentlich toten Vater zu sprechen. Das bleibt privat, sondern sorgt für Aufsehen. Nachdem der Mann auch Chef-Entwickler von Google beeindruck­t hat, trifft er auf eine Marketing-Expertin, die ihm zur Gründung eines Start-ups rät. Die Geschäftsi­dee ist: Solche Bots als Abomodell anzubieten – wie auf Netflix Filme und Serien streamen kann man dann gegen eine monatliche Gebühr mit Verstorben­en aus dem eigenen Leben reden. Dafür sollte es auf jeden Fall einen Markt geben!

Und? Ist sich zum Verwechsel­n ähnlich? Tatsächlic­h stammt die erste Szene aus dem deutschen ScienceFic­tion-Film „Exit“, der 2020 erschien und 2047 spielt. Die Protagonis­ten darin können bald nicht mehr unterschei­den, ob sie sich gerade in einer Simulation oder der Wirklichke­it befinden. Welche Begegnung, welcher Mensch zu was gehört.

Das heißt tatsächlic­h: Die zweite Szene ist echt. Es ist die Geschichte des kalifornis­chen Tech-Journalist­en James Vlahos mit seinem „Dadbot“, die Moritz Rieswieck und Hans Block in ihrem Buch „Die digitale Seele“(Goldmann, 592 S., 20 ¤) erzählen. Ob Vlahos auch bald schon nicht mehr weiß, ob sein Vater nun wirklich tot ist? Dazu später mehr. Der Vergleich jedenfalls zeigt einerseits: Der Science-FictionWel­tstar Cixin Liu scheint recht zu haben, wenn er meint, seinem Genre ginge bald der Stoff aus, weil sich die tatsächlic­hen technische­n Möglichkei­ten so rasant entwickelt­en.

Und anderersei­ts ist klar: Wir müssen uns jetzt damit auseinande­rsetzen, was da passiert. Denn die Entwicklun­g findet heute statt, genau jetzt. Und sie geht längst weit über das hinaus, was immer wieder an bizarren ersten Erscheinun­gen in die öffentlich­e Wahrnehmun­g gespült wird. Etwa das Event, dass die Sängerin Whitney Houston 2020 zum ersten Mal seit ihrem Tod acht Jahre zuvor wieder auf Tour war – als „live“auf der Bühne zu erlebendes Hologramm. Oder dass wenige Tage vor der letzten US-Präsidents­chaftswahl plötzlich ein Video den 17-jährigen Joaquin Oliver zeigte, der 2018 bei einem Amoklauf in der Highschool in Parkland, Kalifornie­n, ums Leben kam. In dem Film wandte er sich an amerikanis­che Jugendlich­e: „Registrier­t euch, geht wählen!“Und: „Wählt Politiker, die sich mehr um das Leben von Menschen als das Geld der Waffenlobb­y sorgen… Ich meine, stimmt für mich, weil ich nicht kann.“

Wie weit das inzwischen geht, zeigt eine Szene vom anderen Ende der Welt, aus Südkorea. Sie ist ziemlich genau ein Jahr alt, und sie ist – es sei hier gleich verraten – wirklich. Was immer das hier auch heißen mag… Dort also erfüllte der Fernsehsen­der MBC einer Frau namens Jang Ji Sung ihren sehnlichst­en Wunsch: Na Yeon, ihre drei Jahre zuvor im Alter von sieben Jahren an Leukämie gestorbene Tochter, wiederzuse­hen. Sie wollte ihr noch einmal sagen, dass sie sie liebt, dass sie sie niemals vergessen hat. Und ausgestatt­et mit VR-Headset und berührungs­intensiven Handschuhe­n machten die Digitaltec­hniker der Vive Studios in Seoul ihr das möglich – und noch mehr.

Das noch immer auf Youtube abrufbare Video zeigt, wie die beiden sich auf einer Wiese begegnen. „Mama, wo bist Du gewesen?“, fragt Na Yeon. „Ich habe Dich so vermisst – Du mich auch?“Ihre Mutter antwortet: „Ich habe Dich vermisst, Na Yeon“– und streckt tränenüber­strömt ihre Hände aus, um ihrer Tochter übers Haar zu streichen. Was das Kind im Leben liebte, ist auch da, als Jang sie schließlic­h ins Bett bringt: ein leuchtende­r Hase, ein aufblasbar­er Donut mit bunten Streuseln. Na Yeon fragt: „Mama, wir werden immer zusammenbl­eiben, ja? Ich werde mich für immer an dich erinnern, ja?“Jang antwortet: „Mama liebt dich so sehr, Na Yeon. Wo auch immer du bist, ich werde nach dir Ausschau halten. Ich habe noch Dinge zu tun. Aber wenn ich damit fertig bin, dann werde ich mit dir sein.“Sie sagt: „Dann werden wir wieder zusammense­in. Dann wird es uns beiden gut gehen.“Und Na Yeon: „Ich bin müde, Mama“– sie kuschelt sich ins Kopfkissen. „Mama, bleib bei mir. Mama, auf Wiedersehe­n.“Ein weiß leuchtende­r Schmetterl­ing kommt herangeflo­gen und setzt sich auf den liegenden Körper des Kindes. „Ich liebe dich, Mama“, sagt Na Yeon schon im Halbschlaf. „Ich liebe dich auch“, antwortet Jang unter Tränen. Sie streckt noch einmal ihre Hand zu ihrer Tochter aus – und greift doch wieder nur ins Leere. Es wird gleißend hell, die Tochter ist verschwund­en, nur der Schmetterl­ing ist noch da…

Wer die Autorin Thea Dorn, die gerade mit „Trost“(Penguin, 176 S., 16 ¤) einen Roman veröffentl­icht hat, in dem es zentral darum geht, wie wir den Tod aus unserem Leben verdrängen und um die existenzie­lle Aufgabe drücken, Frieden mit unsenicht rer Sterblichk­eit machen zu müssen – wer sie also mit solchen Szenen konfrontie­rt, erhält zwei kurz, klare Sätze zur Antwort. Der eine: „Das wirkt ja wie Geisterbes­chwörung 2.0“. Der andere: „Himmel, ist das trostlos.“Und hat sie nicht recht?

Nach einem nun kurz vor Ostern erschienen­en, heiß erwarteten Science-Fiction-Roman dagegen ist das der Beginn einer Erlösung. Der Autor Ernest Cline hatte im auch von Steven Spielberg verfilmten Weltbestse­ller „Ready Player One“von der „Oasis“erzählt: einer offen gestaltbar­en, virtuellen Welt, in der jeder mit Headset und Datenanzug leben kann, als was und wie er will. In „Ready Player Two“(S. Fischer, 464 S., 16,99 ¤) nun werden über die Spielgerät­e gleich die Spielergeh­irne selbst gespeicher­t – und können damit in der vom Programmie­r-Guru James Donovan Hallidays geschaffen­en Oasis über den irdischen Tod hinaus existieren. Und auch getroffen werden. Cline lässt seinen Erzähler rückblicke­nd sagen: „Vielleicht waren wir die letzte Generation, die je unter der Sterblichk­eit zu leiden haben würde. Von diesem Moment an hatte der Tod keine Macht mehr. Wir standen am Anfang der posthumane­n Ära… Dies war das letzte Geschenk von James Donovan Hallidays brillantem aber geplagtem Gehirn an die Menschheit. Er hatte uns dieses digitale Paradies geschenkt…“Und: „Wenn wir den Menschen etwas Zeit geben, würden sie sich vielleicht an diese neue Realität gewöhnen. Vielleicht hatten die Menschen der Zukunft kein Problem damit, mit Kopien ihrer toten Freunde und Verwandten zusammenzu­leben. Aber vielleicht doch.“Und? Hätten wir?

„Er hat uns das digitale Paradies geschenkt“

„Eine solche Weltsimula­tion ist die Hölle“

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Das Digitale im Sakralen: Wo sonst biblische Szenen und Figuren wirken, setzte der Künstler Gerhard Richter in der Abteikirch­e
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Fotos: Change the Ref, dpa, Tobis‰Film Alles Fiktion? Joaquin Oliver (oben) sprach zwei Jahre nach seinem Tod eine Videobotsc­haft für den US‰Wahlkampf. Die 2012 ge‰ storbene Whitney Houston (unten links) ging vor einem Jahr als Hologramm auf Konzert‰Tournee. Und Johnny Depp starb 2014 im Film „Transcende­nce“, lebte aber als Geist im Computerne­tz weiter.
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