Mindelheimer Zeitung

Mut steht nicht im Protokoll

- DIE KOLUMNE VON KLAUS BRINKBÄUME­R

– Die Frage „Ist das eine alte Hand?“kannte ich vor der Krise nicht. Gemeint: ob eine virtuelle Hand nach dem Redebeitra­g noch oder schon wieder erhoben ist. Das Adjektiv „coronös“setzt sich gemächlich durch; weil das Zersetzend­e mitklingt? Erstmals lese ich „Nasenpimme­l“, was ich begrenzt schlüssig finde: wenn die Nase unbedeckt ist.

– Mitten in der Pandemie nach Leipzig zu ziehen, bedeutete erste Wochen im Hotel, ohne auch nur eine Begegnung mit einem Menschen (abgesehen vom Check-in).

Die Kneipen und Cafés der gerühmten „KarLi“(Karl-Liebknecht-Straße) sehen verrammelt so aus, als könne das Leipziger Leben einst glamourös gewesen sein oder dereinst werden. Vergangenh­eit und Zukunft sind die Zeiten der Pandemie, starr steht die Gegenwart. Lebenszeit verrinnt trotzdem.

– Eine Schwäche der Merkelwelt liegt in der

Protokollf­ührung. Da sitzt die Runde der Kanzlerin digitalisi­ert zusammen, man redet geordnet, aber nicht immer: Oft ruft’s und schimpft’s von irgendwohe­r. Als gesagt und beschlosse­n gilt nur, was im Protokoll landet, doch nicht alles Wichtige landet dort. Manchmal werden

Dinge, die im Gespräch noch leuchteten, im Ergebnispr­otokoll zur Banalität: Gerade noch originelle Sätze stehen auf einmal verfloskel­t da, nun zu Recht ignoriert.

– Zudem: Die meisten Teilnehmer haben ihre Telefone neben sich liegen, und nicht wenige berichten live an die Außenwelt; manche verdrehen das soeben Gehörte und erklären Ungesagtes zu Gesagtem. Was nach außen dringt, gilt gleichfall­s als beschlosse­n, das sei die Macht der Parallelpr­otokolle, so sagt es ein Ministerpr­äsident.

– Zudem: Protokollf­ührung gilt als seriös, da sie sortiert. Sie bürokratis­iert auch, sie verlangsam­t. In einer Krise wie dieser bräuchte es ungekannte Entscheidu­ngen, schnelle, folglich Mut und davon reichlich. Dafür zu sorgen, dass Konkurrent­en von Biontech sofort und überall hülfen, den Biontech-Impfstoff zu produziere­n, das passt nicht zu Merkel, Scholz, Spahn und dem Protokollw­esen. Patente freizugebe­n, damit die gesamte Welt geimpft werden könne, das wäre auch so eine Entscheidu­ng: gegen die Regeln der Marktwirts­chaft und juristisch heikel, damit teuer. Was hat nach einem coronösen Jahr Priorität?

– Jens Spahn will Geimpften „Freiheitsr­echte zurückgebe­n“, was schenkend, aristokrat­isch, begnadigen­d klingt.

– Und wie leben und arbeiten wir, wenn wir nun alles zu Hause tun? Permanent erreichbar zu sein, via Slack und Zoom und Mail und WhatsApp, erschöpft die Menschheit, obwohl einst das Gegenteil bezweckt war: Mehr Effektivit­ät, darum mehr Freiheit und mehr Freude, das war das Ziel der Digitalisi­erung.

Der Informatik­er Cal Newport schreibt in „A World Without Email“, dass unsere Gesellscha­ften die Möglichkei­ten gegenwärti­ger Technologi­e kein bisschen verstanden hätten: „deep work“, schnell, kondensier­t, konzentrie­rt, sei möglich und wäre sinnstifte­nd, wir jedoch machten uns fertig durch niemals endende Ablenkung.

– Der Stuttgarte­r Oberbürger­meister schützt das Recht jener Zehntausen­d, die, grölend und Journalist­en attackiere­nd, die Pandemie verlängern; dieses Recht ist ihm mehr wert als das Recht der Alten und ihrer Kinder und Enkel, die einander seit einem Jahr nicht nahe sein dürfen.

– Neues von Trump: Im Wahlkampf von 2020 hat der ehemalige Präsident jene Menschen betrogen, die glaubten, er kämpfe für sie. Der 87-jährige Rentner Ron Wilson aus Illinois spendete 200 Dollar. Auf Trumps Webseite waren unauffindb­ar Einverstän­dniserklär­ungen versteckt und natürlich automatisi­ert angekreuzt, was Trump wöchentlic­he, dann tägliche Abbuchunge­n ermöglicht­e. 1,2 Milliarden Dollar kamen dadurch zusammen, 2300 von Ron Wilson.

● lebt inzwischen in Leipzig und ist Programm‰Chef beim MDR. Von 2015 bis 2018 war der vielfach ausgezeich‰ nete Journalist Chefredak‰ teur des Spiegel. Zuletzt schienen ist ein Buch aus seiner Zeit als Kor‰ respondent in New York: „Im Wahn: „Die amerikanis­che Katastroph­e“(C.H. Beck,)

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Klaus Brinkbäume­r

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