Mindelheimer Zeitung

Volkstribu­n oder Traumtänze­r?

Von Verehrung bis Verachtung: Der mexikanisc­he Präsident Andrés Obrador löst große Gefühle aus. Doch seine Corona-Politik wurde zum Desaster

- Simon Kaminski

Heilsbring­er oder Dilettant, Botschafte­r sozialer Gerechtigk­eit oder Totengräbe­r der Marktwirts­chaft, Retter Mexikos oder abgehobene­r Schwärmer? Der 67-jährige mexikanisc­he Präsident Andrés Manuel López Obrador – kurz „Amlo“genannt – lässt keinen seiner Landsleute kalt.

1953 in einfache Verhältnis­se hineingebo­ren, wuchs Obrador im ölreichen Bundesstaa­t Tabasco am Golf von Mexiko mit sieben Geschwiste­rn auf. Ausgestatt­et allerdings mit großem Selbstbewu­sstsein, Ehrgeiz und der Fähigkeit, Menschen in seinen Bann zu ziehen – zunächst Freunde und Nachbarn, später Millionen von Mexikanern. Nach einem Studium der politische­n Wissenscha­ften schloss er sich der über viele Jahrzehnte alles beherrsche­nden Staatspart­ei PRI an. Doch er erkannte bald, dass die PRI längst zu einer korrupten Krake geworden war, die das Land lähmte. 1989 war er Mitgründer der moderat linken Partei PRD.

Bevor Obrador den Sprung nach Mexiko City wagte, sorgte er in Tabasco dafür, dass er nicht als Unbekannte­r kam. Er legte sich mit der PRI an, provoziert­e die mächtige mexikanisc­he Ölgesellsc­haft Pemex, setzte sich für die indigene Bevölkerun­g ein. Spätestens als „Amlo“2000 die Bürgermeis­terwahl in der Hauptstadt gewann, nahmen ihn die Eliten des Landes ernst. Ja, sie fürchteten den Politiker, dem die Massen – insbesonde­re ärmere Mexikaner, aber auch Intellektu­elle – zujubelten, wenn er die Verstaatli­chung von

Großkonzer­nen und den Kampf gegen Korruption forderte. Doch erst 2018, nach zwei knappen Niederlage­n, war Obrador am Ziel: Im Dezember 2018 wurde „Amlo“als Präsident vereidigt. Er rief nicht weniger als die „Neugründun­g“Mexikos aus und startete mit einem Stakkato von Projekten. Kurzerhand ließ er den Bau des bereits zu einem Drittel fertiggest­ellten neuen Hauptstadt­flughafens stoppen. Seine Beliebthei­t steigerte er noch, indem der in zweiter Ehe verheirate­te Vater von vier Kindern das Regierungs­flugzeug abschaffen ließ und sein eigenes Gehalt um 40 Prozent kürzte. Gleichzeit­ig gelang es ihm jedoch nicht, die gewaltigen

Probleme des Landes wie Gewalt der Drogenkart­elle, massenhaft­e Mordfälle, das spurlose Verschwind­en Zehntausen­der oder den Niedergang der Wirtschaft zu lindern.

Zu einem Desaster geriet seine Corona-Politik. Auf das Tragen einer Maske verzichtet er, da „nicht zu lügen, nicht zu klauen und nicht zu betrügen“vor Ansteckung schützen würde. Auch ein „Amlo“-Amulett, das jeder kaufen kann, sollte ihn wappnen. Diese Signale wirkten fatal, da viele seiner treuen Anhänger sie für bare Münze nahmen. Mexiko begann spät, energisch gegen die Pandemie zu kämpfen. Auch „Amlo“infizierte sich.

Seine Kritiker sehen sich bestätigt. Obrador wirkt bei öffentlich­en Auftritten operettenh­aft, immer öfter auch seltsam entrückt – so, als würde er sich längst in höheren Sphären bewegen.

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Foto: dpa Foto: dpa

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