Mindelheimer Zeitung

Scheitert Deutschlan­ds Impfstrate­gie?

Hintergrun­d Der Impfstoff von Johnson & Johnson hat laut Experten die gleichen Nebenwirku­ngen wie bei AstraZenec­a. Immunologe­n sehen die Herdenimmu­nität bis Herbst in Gefahr und fordern jetzt vom Bund einen nationalen Alleingang

- VON MICHAEL POHL

Berlin In Expertenkr­eisen löste eine Meldung der Europäisch­en Arzneimitt­el-Agentur EMA bereits Ende vergangene­r Woche Besorgnis aus. Die Arzneiaufs­eher untersuche­n nicht nur beim in die Diskussion geratenen Impfstoff von AstraZenec­a gefährlich­e Nebenwirku­ngen. Auch beim amerikanis­chen Impfstoff von Johnson & Johnson würden vier Fälle von gefährlich­en Hirnvenent­hrombosen geprüft. Nun kommt die Hiobsbotsc­haft aus den USA: Die amerikanis­che Gesundheit­sbehörde FDA empfahl einen sofortigen Impfstopp. Auch für Deutschlan­ds Impfstrate­gie ist die Nachricht ein schwerer Schlag. Johnson & Johnson galt als wichtige Waffe im Kampf gegen die dritte Welle: Eine einzige Dosis davon soll schwere Corona-Verläufe so weit vermeiden, dass Geimpfte im Krankenhau­s oder gar auf der Intensivst­ation landen.

Doch sechs Amerikaner­innen im Alter zwischen 18 und 48 Jahren erlitten innerhalb von zwei Wochen nach der Impfung mit Johnson & Johnson Hirnvenent­hrombosen: Eine starb, eine befindet sich noch in kritischem Zustand. Auch in den USA ist die Nebenwirku­ng nur sehr selten: Insgesamt sieben Millionen Amerikaner haben eine Impfung von Johnson & Johnson erhalten.

Doch auch angesichts der europäisch­en Berichte des in den USA noch nicht eingesetzt­en Impfstoffs von AstraZenec­a empfahl die „Food and Drug Administra­tion“vorsichtsh­alber eine „Pause“der Impfungen. Johnson & Johnson spielt in Amerika ohnehin kaum eine Rolle: Pfizer-Biontech und der Hersteller Moderna liefern mehr als 23 Millionen Dosen ihrer modernen mRNAImpfst­offe – und zwar pro Woche.

Liefermeng­en, von denen man in Deutschlan­d nur träumen kann: Die für April bis Juni insgesamt versproche­nen 10,1 Millionen Impfdosen von Johnson & Johnson waren ein wesentlich­er Teil der deutschen Impfkampag­ne. Nun drohen sie ebenfalls wie die bis Juni erwarteten 15 Millionen Dosen von AstraZenen­ur eingeschrä­nkt an Ältere verimpft werden zu können.

„Wenn es sich bewahrheit­et, dass die Nebenwirku­ngen ähnlich häufig sind, wäre die Konsequenz, dass wir in Deutschlan­d auch den Impfstoff von Johnson & Johnson ebenso wie AstraZenec­a nicht für die unter 60-Jährigen verwenden sollten“, sagt Carsten Watzl, Generalsek­retär der Deutschen Gesellscha­ft für Immunologi­e. „Dann bekommen wir für unsere Impfstrate­gie ein Problem, denn wir haben nicht genug mRNA-Impfstoff für die unter 60-Jährigen.“

Zwar erhält Deutschlan­d im zweiten Quartal 40 Millionen Impfdosen von Biontech. Aber im dritten Quartal wird die Lieferung des Hersteller­s gemäß der Bestellver­einbarung reduziert. Stattdesse­n sehen die Pläne noch mehr Lieferunge­n von AstraZenec­a und auch von & Johnson vor. Zwar steht bis dahin der Impfstoff des Tübinger mRNA-Pioniers Curevac vor der Zulassung. „Aber alles in allem hätten wir erst Ende des Jahres genug für die unter 60-Jährigen“, warnt Watzl. „Dann könnte uns eine vierte Pandemie-Welle bevorstehe­n, weil wir noch nicht die Herdenimmu­nität erreicht haben, die wir eigentlich im Spätsommer bzw. Anfang Herbst erwarten könnten“, erklärt der Dortmunder Professor.

„Der deutschen Impfkampag­ne droht ein großes Problem, deswegen muss die Bundesregi­erung jetzt reagieren und sowohl mit Biontech als auch mit Curevac in neue Verhandlun­gen treten und mehr Impfdosen für Deutschlan­d sichern“, fordert Watzl. „Sonst stehen wir im Sommer mit nicht genug Impfstoff für die unter 60-Jährigen da.“Deutschlan­d sollte hier einen Alleingang waca gen, da es über die EU zu lange dauert und jetzt viele andere Länder ähnlich aktiv würden.

Laut Watzl ist es kein Zufall, dass bei Johnson & Johnson und AstraZenec­a, die gleichen Nebenwirku­ngen aufzutrete­n scheinen, bei den völlig anders konstruier­ten mRNAImpfst­offen aber nicht. „Es scheint eine generelle Nebenwirku­ng der Vektorimpf­stoffe zu sein und hängt vermutlich mit den darin in einer hohen Dosis verwendete­n sogenannte­n Adenoviren zusammen“, sagt er. „Ob die Nebenwirku­ng bei Johnson & Johnson genauso häufig auftritt wie bei AstraZenec­a, weiß man noch nicht, weil man wohl erst die Spitze des Eisbergs sieht.“Möglicherw­eise würden – ähnlich wie bei den inzwischen 222 AstraZenec­a-Fällen in Europa – bald auch in den USA Fälle nachgemeld­et.

Im Prinzip funktionie­ren die beiJohnson den sogenannte­n Vektorimpf­stoffe nach dem gleichen Prinzip der Adenoviren, zu denen auch viele Erkältungs­viren gehören. „Es ist zu erwarten, dass diese Nebenwirku­ngen auch bei Sputnik V auftreten und dem chinesisch­en Impfstoff von CanSino“, erklärt Impfmittel­experte Watzl. „Prinzipiel­l sind die Viren zwar verschiede­n, aber Vektorimpf­stoffe basieren auf der gleichen Familie von Adenoviren.“

AstraZenec­a benutzt demnach einen Schimpanse­n-Virus, Johnson & Johnson den humanen Adenovirus-26, Sputnik V den Adenovirus-26 für die erste und Adenovirus-5 für die zweite Impfung. Die Chinesen verwenden den Adenovirus-5. Die gefährlich­en Hirnvenenv­erschlüsse entstehen nach ersten Erkenntnis­sen dadurch, dass die Betroffene­n sogenannte Autoantikö­rper herstellte­n, die sich gegen den eigenen Körper richten und ihre Blutplättc­hen aktivieren, sowie eine Gerinnung die Blutung kleiner Wunden stoppt.

„Es ist noch nicht ganz klar, warum diese Autoantikö­rper ausgelöst werden“, sagt Watzl. „Möglicherw­eise sind die viralen Partikel selber der Bösewicht oder die darin enthaltene Nukleinsäu­re.“Allerdings träten die Nebenwirku­ngen sehr selten auf. „Vermutlich haben die betroffene­n Menschen eine spezielle Veranlagun­g, die entweder genetisch oder durch frühere Infektione­n bedingt ist“, erklärt der Immunologe. „Es könnte sein, dass die Betroffene­n geringe Mengen von diesen Antikörper­n in sich tragen und diese erst durch diese Impfung verstärkt werden.“

Eines ist jedoch schon jetzt klar: Die vor allem in Deutschlan­d geleistete Entwicklun­g der neuartigen mRNA-Impfstoffe erweist sich immer mehr als Hoffnungss­chimmer in der Pandemie. Auch mit 95 Prozent Wirksamkei­t schlagen sie jeden Vektorimpf­stoff.

Auch Sputnik V könnte Hirn‰ venenthrom­bosen auslösen

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Foto: Jessica Hill, dpa Impfstoff „Janssen“von Johnson & Johnson: Hirnvenent­hrombosen bei sechs Frauen im Alter von 18 bis 48.

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