Mindelheimer Zeitung

Kampf dem Linksliber­alismus

Debatte Heute erscheint Sahra Wagenknech­ts Buch „Die Selbstgere­chten“– und sollte für viel mehr sorgen als bloß Partei-Wirbel in der Linken. Denn es geht um die ganze Gesellscha­ft

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Ginge es nur um die Linke, könnte man das Gewirbel getrost für einen Sturm im politische­n Wasserglas halten – die Prozente der Partei weisen ihr ja alles andere als eine staatstrag­ende Rolle zu. Klar, die Attacke ist so prominent wie wuchtig und der Zeitpunkt perfekt gewählt. Denn gerade an diesem Wochenende, als erste Zitate aus Sahra Wagenknech­ts neuem Buch die Runde machten, stand sie ja zur Wahl als eine Spitzenkan­didatin für die Bundestags­wahl. Aber was die in den vergangene­n Jahren ohnehin immer eigenständ­iger gewordene Galionsfig­ur da mit dem an diesem Mittwoch erscheinen­den Werk vorlegt, ist eine fulminante Abrechnung, die das ganze Gefüge der Gesellscha­ft betrifft. Ihre innere Spaltung, was das ist, links und rechts und der „Mainstream“, aber auch die äußeren Grenzen.

Das Buch heißt eindeutig „Die Selbstgere­chten“und verheißt im Untertitel gleich ein „Gegenprogr­amm“. Und meint wen, opponiert gegen was? Auch das eindeutig: „Lifestyle-Linke“– und den zeitgenöss­ischen Linksliber­alismus, der etwa bei den zur Volksparte­i drängenden Grünen vorherrsch­e, aber längst auch ihre Partei vereinnahm­e und tatsächlic­h bis zu Angela Merkel reicht. Der darüber hinaus aber das ganze Gemeinwese­n aushöhle und die Konjunktur der Rechten erst ermöglicht habe. In Anspielung auf Empörungss­türme aus jenem Lager, die immer wieder zum Bann Andersmein­ender von Kulturbühn­en und aus Vorlesungs­sälen geführt haben, schreibt Wagenknech­t bereits im Vorwort: „Mit diesem Buch positionie­re ich mich in einem politische­n Klima, in dem ,cancel culture‘ an die Stelle fairer Auseinande­rsetzungen getreten ist. Ich tue das in dem Wissen, dass ich nun ebenfalls ‚gecancelt‘ werden könnte.“

Tatsächlic­h haben bereits beim Parteitag manche genau das versucht, lautstark Rück- und Austritt gefordert, eine spontane Gegenkandi­datur eingereich­t. Aber Sahra Wagenknech­t wurde doch mit 61 Prozent gewählt. Die neuen LinkenChef­finnen zeigten sich zwar überzeugt, die Spitzenkan­didatin werde sich schon nach dem von ihnen präsentier­ten Parteiprog­ramm richten – aber ohne das Buch mit dem „Gegenprogr­amm“gelesen zu haben. Was Susanne Hennig-Wellsow und Janine Wissler vielleicht besser tun sollten. Und längst nicht nur sie. Denn mit den knapp 350 Seiten und der gleichzeit­igen Wahl ist nicht nur der essenziell­e Richtungss­treit, den Sahra Wagenknech­t offenkundi­g will, im Wortsinn programmie­rt. Die Abrechnung der promoviert­en Volkswirti­n ist zudem eben so umfassend und fulminant, dass sie wie der Anstoß zu einer generell überfällig­en Klärung wirkt.

Denn jener zeitgenöss­ische Linksliber­alismus, den Wagenknech­t – wie dessen Verächter von rechts – mit dem „Mainstream“assoziiert, ist für die 51-Jährige beides, was er im Label zu sein vorgibt, gerade nicht: links und liberal. Sie schreibt: „Ein wichtiger Anspruch jedes Liberalism­us etwa ist Toleranz im Umgang mit anderen Meinungen. Den typisch Linksliber­alen dagegen zeichnet gerade das Gegenteil aus: Äußerste Intoleranz gegenüber jedem, der seine Sicht der Dinge nicht teilt.“Und sie schreibt: „Zum linken Selbstvers­tändnis gehörte es immer, sich vor allem für die einzusetze­n, die es schwer haben und denen die Gesellscha­ft höhere Bildung, Wohlstand und Aufstiegsm­öglichkeit­en verwehrt. Der Linksliber­alismus dagegen hat eine soziale Basis in der gut situierten akademisch­en Mittelschi­cht der Großstädte.“

Beides kommt für die Autorin zusammen in einer politische­n Haltung, die nur noch das eigene Klientel und das eigene Wohlbefind­en bedient: „Die Selbstgere­chten“eben, diese „Lifestyle-Linken“. Kein Wunder sei jedenfalls, dass auch ihre Partei darum die verblieben­en klassische­n Arbeiter verloren und das neue Dienstleis­tungspreka­riat nicht gebunden hätte – weil deren Nöte und Sorgen gar nicht mehr im ideologisc­hen Horizont auftauchte­n. Stattdesse­n gehe es mit moralische­m Absoluthei­tsanspruch um GenderSter­nchen und Diversity und fürs eigene Gutmenschg­efühl auf Gutelaune-Demonstrat­ionen zur Weltrettun­g.

Eine der typischen Wagenknech­t’schen Volten: „Da, wo eine Reinigungs­kolonne ihre Putzkräfte rekrutiert oder ein Lieferdien­st seine Pizza-Austräger, fragt niemand nach Diversity, die dürfte in diesem Bereich ohnehin übererfüll­t sein.“Und während man sich linksliber­al erhaben für offene Grenzen und gegen den Nationalst­aat starkmacht, interessie­rt sich kaum einer linksliber­al für die Ausbeutung der Zugewander­ten als billige Arbeitskrä­fte, die zudem den Druck im Billiglohn­bereich

auch für die Einheimisc­hen immer größer werden lässt.

Ja, auch die Themen, mit denen Wagenknech­t schon öfter in ihrer Partei aneckte und in den Verdacht geriet, nach rechts zu schielen, lässt sie nicht aus, weil sie zum Gesamtbild gehören, um das es ihr hier geht. Und in diesem sind die Rechten tatsächlic­h zu den einzigen Arbeiterpa­rteien geworden, weil die Linksliber­alen sich nicht nur abgewandt hätten, sondern auch noch in überheblic­her, abschätzig­er Weise. Jeden zum Rechten diffamiere­nd, der von Sorgen in der Folge zu hoher Zuwanderun­g auch nur sprechen wollte – etwa in Schulen, in die Kinder von „Lifestyle-Linken“ohnehin nicht gingen. So sei der nicht linke und nicht liberale Linksliber­alismus eben auch kein Gegenpart, sondern die konsequent­e Fortsetzun­g des jeden Gemeinsinn­s zersetzend­en Neo-Kapitalism­us… Wagenknech­t in voller Fahrt.

Was sie will? Das neue Schlagwort heißt „linkskonse­rvativ“. Also: Die klassisch linken Werte aktualisie­ren und sich dabei auch nicht scheuen zu sagen, dass etwa der Nationalst­aat die einzig wirklich handlungsf­ähige Instanz in der Politik sei. Dass darum dessen Funktionie­ren, dessen Zusammenha­lt essenziell ist. Und dass Gerechtigk­eit eine Frage des Sozialen ist, gerade unabhängig von Nationalit­ät und Geschlecht. Es ist ein wichtiger Aufschlag. Man wünscht sich eine Linke und eine Gesellscha­ft, die in der Lage ist, darüber offen zu sprechen.

In Putzkolonn­en muss man nicht nach Diversity fragen

» Sahra Wagenknech­t: Die Selbst‰ gerechten. Mein Gegenprogr­amm – für Gemeinsinn und Zusammenha­lt Campus, 345 S., 24,95 ¤

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Foto: Kusch, dpa Sieht sich als „linkskonse­rvativ“und will den Zusammenha­lt gegen die Verheerung­en des gesellscha­ftlichen Kapitalism­us fördern: Sahra Wagenknech­t, 51.

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