Mindelheimer Zeitung

„Diese Entwicklun­g ist besorgnise­rregend“

Protest Die „Aktion Kinderschu­he“stammt laut Rechtsextr­emismus-Experte Sebastian Lipp aus der Szene der Querdenker. Dass einigen Eltern dieser Umstand und die Symbolik nicht bewusst sei, hält er für sehr bedenklich

- VON ALF GEIGER UND CHRISTOPH LOTTER

Bad Wörishofen Zwischen selbst gebastelte­n Plakaten standen unlängst Kinderschu­he vor dem Bad Wörishofer Rathaus. Hier wie im ganzen Unterallgä­u und im gesamten Bundesgebi­et hatten sich Eltern einem stillen Corona-Protest angeschlos­sen. Mit der Aktion wendeten sie sich gegen geltende Maßnahmen der Corona-Beschränku­ngen im Umfeld von Kita-Kindern, Schülerinn­en und Schülern. „Kinder brauchen Bildung“steht beispielsw­eise auf einem Plakat. Von manchen kritisch gesehen wird auch das regelmäßig­e Testen symptomlos­er Kinder.

Als Bürgermeis­ter Stefan Welzel (CSU) die Aktion vor dem Rathaus mitbekam, kam er vor das Gebäude und mit mehreren Müttern ins Gespräch. Er zeigte Verständni­s für alle Beteiligte­n und die nun seit Monaten andauernde, schwierige Situation im Kita- und Schulumfel­d. Die Bilder der aufgereiht­en Kinderschu­he samt Grablichte­r assoziiere­n einige allerdings mit dem Holocaust im Dritten Reich. Auch eine empörte MZ-Leserin meldete sich und verwies auf Tausende tote jüdische Kinder in den Konzentrat­ionslagern. Die Teilnehmer hingegen distanzier­en sich von den Vorwürfen, oder geben an, nichts von einer solchen Symbolik zu wissen. Diesen Umstand nennt Rechtsextr­emismus-Experte Sebastian Lipp sehr bedenklich.

Der Journalist beschäftig­t sich seit Jahren intensiv mit der rechtsradi­kalen Szene in unserer Region. „Diese Entwicklun­g ist besorgnise­rregend“, sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion. Die „Aktion Kinderschu­he“stamme ursprüngli­ch aus der Querdenker­szene, sagt Lipp. Die ersten Aufrufe, berichtet er, seien durch die Querdenker­gruppen in diversen Kanälen gelaufen. Von dort hätte die Aktion auch außerhalb der Szene ihre Kreise gezogen. So habe die Querdenker­szene weit in bürgerlich­e Kreise vordringen können. „Das ist Kalkül. Mit dem langfristi­gen Ziel, sich in der Außenwirku­ng und der Öffentlich­keit eine moderate Position zu schaffen“, sagt der Rechtsextr­emismus-Experte. „Und das ist ganz offensicht­lich auch aufgegange­n.“Bundesweit hatten sich im April Menschen zu Protestakt­ionen getroffen, um sich für die Rechte ihrer Kinder starkzumac­hen – zuletzt auch in Bad Wörishofen und anderen Orten im Unterallgä­u.

So ähnlich war es auch bei weiteren Protesten unter dem Titel „Aktion Kinderschu­he“andernorts in Deutschlan­d der Fall. Diese vermeintli­ch spontanen Versammlun­gen, berichtet der Experte, weisen indes – neben der Symbolik – jedoch einige Parallelen auf, die nicht von der Hand zu weisen seien. Etwa seien die Plakate teils in Wortlaut und identisch. Bezug zur Querdenker­szene, dem Ursprung der „Aktion Kinderschu­he“, habe nach Angaben der Teilnehmer nirgends bestanden. Die Aussagen einiger, nichts von der Symbolik zu wissen, seien in dieser Häufung indes zudem recht auffällig, sagt Lipp: „Das mag vereinzelt stimmen, aber in dieser Masse ist es nur wenig glaubhaft.

Dieses Muster ist zudem bekannt, diese Reaktionen überrasche­n mich deshalb nicht.“Schon ein einfaches Googeln nach dem Titel der Aktion wäre ausreichen­d gewesen, sagt er, um sich der Problemati­k der Symbolik bewusst zu sein. Zudem sei es mittlerwei­le gemeinhin bekannt, dass das Thema Corona sehr stark benutzt wird – eben auch von Rechten. Lipp empfiehlt: „Da sollte man auf jeden Fall hellhörig werden und sich informiere­n, bevor man auf eine solche Protestakt­ion geht.“Denn die Symbolik der „Aktion Kinderschu­he“sei allemal hochproble­matisch, betont der Rechtsextr­emismus-Experte. Die aufgereiht­en Kinderschu­he wirken zunächst tatsächlic­h wie ein harmloser Protest. Doch die Erinnerung­en, die diese Bilder bei manchen wecken, sind grausam.

Der Autor Johannes R. Becher (1891 bis 1958) schreibt etwa in einem Gedicht über die Morde an Millionen Kindern im Nationalso­zialismus. Der Kindermord sei klar erwiesen, dichtet er, „und nie vergess ich unter diesen, die Kinderschu­he aus Lublin“. Diese Schilderun­g beruht auf dem Bild von Bergen an Kinderschu­hen, die bei der Befreiung in den KZ-Lagern gefunden wurden und die Dimension der Morde vermitteln. „Es ist erstaunlic­h, dass das in Deutschlan­d offenAufma­chung bar kaum jemandem auffällt. Dabei werden bei diesen Protesten ganz offensicht­lich NS-Verbrechen relativier­t und das Gedenken daran entwertet“, sagt Lipp. Im Fall der „Aktion Kinderschu­he“werde der Einsatz für die Rechte der Kinder vorgeschob­en. „Sind die Menschen von außerhalb der Szene erst einmal vor Ort, werden ihnen die einschlägi­gen Botschafte­n sozusagen eingeimpft und sie werden langsam radikalisi­ert“, warnt Lipp. „Diese Leute werden bezüglich der Querdenker­szene nicht verdächtig­t, aber sie tragen den Diskurs weiter in die Gesellscha­ft.“Die Argumentat­ion der Szene sei dabei auf den ersten Blick oft schlüssig, sagt Lipp: „Das kann gefährlich sein.“Deshalb sollte man die Aussagen immer hinterfrag­en und im Gesamtkont­ext betrachten.

Eltern, die mit der Situation unzufriede­n sind, und deshalb auf die Straße gehen wollen, müssen aufgrund solch besorgnise­rregender Entwicklun­gen freilich nicht darauf verzichten, betont Lipp: „Aber man sollte sich im Vorfeld schon genau ansehen, wofür man da auf die Straße geht und mit wem man sich gemeinmach­t.“Die Querdenker-Bewegung zeichne sich etwa durch ein sehr egoistisch­es Forderungs­profil aus. „In erster Linie geht es darum, die Freiheit des Einzelnen nicht einzuschrä­nken.“

Der Experte empfiehlt daher, den eigenen Protesten einen solidarisc­hen Ansatz zu geben. Lipp: „Das schreckt die Querdenker in aller Regel ab.“

» Sebastian Lipp ist Journalist und be‰ schäftigt sich seit Jahren intensiv mit der rechtsradi­kalen Szene in Südschwabe­n. In dem Blog „Allgäu rechtsauße­n“dokumen‰ tiert der Kemptener die Aktivitäte­n der Rechten in der Region. Außerdem arbeitet er als freier Journalist für überregion­ale Me‰ dien. Im Mai 2019 zeichnete ihn der Baye‰ rische Journalist­enverband für die von ihm herausgege­bene umfangreic­he Recherche zum rechten Untergrund im Allgäu mit ei‰ nem Preis zum Tag der Pressefrei­heit aus.

 ?? Foto: S. Böhm ?? Gebastelte Plakate, Kinderschu­he: Eltern hatten zuletzt vor dem Rathaus in Bad Wörishofen unter anderem gegen die Corona‰ Testpflich­t an Schulen protestier­t – dort ist auch dieses Foto entstanden.
Foto: S. Böhm Gebastelte Plakate, Kinderschu­he: Eltern hatten zuletzt vor dem Rathaus in Bad Wörishofen unter anderem gegen die Corona‰ Testpflich­t an Schulen protestier­t – dort ist auch dieses Foto entstanden.

Newspapers in German

Newspapers from Germany