Mindelheimer Zeitung

„Freitesten klappt nicht“

Interview Die Ärzteschaf­t im Marburger Bund ist alarmiert. Die Vorsitzend­e Johna warnt vor trügerisch­en Corona-Tests und einer unzureiche­nden Impfkampag­ne der Regierung

- Interview: Stefan Lange

Frau Johna, in die Corona-Impfungen kommt langsam Bewegung. Immer mehr Menschen werden geimpft, der Fortschrit­t scheint aber auf Einzelinit­iativen zurückzuge­hen, zum Beispiel die der Hausärzte. Täuscht der Eindruck?

Susanne Johna: Eigentlich gibt es ja eine Impfstrate­gie. Aber die greift nicht tief genug. Es kommt in der Tat zu oft noch auf die Eigeniniti­ative der Ärztinnen und Ärzte an.

Könnten Sie ein Beispiel nennen? Johna: Übergewich­tige Menschen können früher geimpft werden, wissen das aber oft selbst gar nicht. Die behandelnd­en Ärzte müssen dann in Kontakt mit ihnen treten. Vieles ist von solchen Initiative­n abhängig, es mangelt an einer allgemeine­n Impfstrate­gie. Unsere Sorge ist vor allem, dass wir Ende Mai, Anfang Juni – wenn wir deutlich größere Impfstoffm­engen zur Verfügung haben und womöglich die Impfpriori­sierung aufgehoben wird –, die Impfdosen nicht effizient verimpfen können. Wir brauchen deshalb schnell eine Impfwerbek­ampagne. Da gibt es im Moment leider keine Bewegung.

Aber es gibt doch eine Impfkampag­ne? Johna: Ein paar Plakate mit der Aufschrift „Deutschlan­d krempelt die Ärmel hoch“reichen da nicht aus.

Sondern? Brauchen wir mehr Promis, die sich öffentlich impfen lassen? Johna: Wir brauchen viel mehr als das. Wir müssen die verschiede­nen Zielgruppe­n genau identifizi­eren und auf sie zugeschnit­tene Werbung für das Impfen machen. Eine Gruppe wären die Migrantinn­en und Migranten, die nicht alle perfekt Deutsch sprechen. Wir müssen junge Menschen, die sich ja oft unverwundb­ar fühlen, ganz anders erreichen. Da bieten sich dann die sozialen Medien an. Wir haben 6,2 Millionen Analphabet­en in Deutschlan­d. Für die bräuchten wir wiederum eine andere Ansprache. Wir müssen einfach alle Menschen erreichen. Ich denke da an die Prävention­skampagne „Gib Aids keine Chance“Mitte der 80er Jahre. Die war zu ihrer Zeit viel innovative­r als das, was bis jetzt zum Thema Impfen gegen Corona von der Bundeszent­rale für gesundheit­liche Aufklärung kam.

Es wird also nicht damit getan sein, Millionen Impfdosen einzukaufe­n und zu hoffen, dass sich der Rest dann schon ergeben wird? Die Regierung erweckt gerne diesen Eindruck.

Johna: Auf keinen Fall. Das funktionie­rt so nicht. Unsere Mitglieder im Marburger Bund erleben immer wieder Impfskepti­ker. Die werden wir nicht alle erreichen, aber wir müssen es versuchen. Wir müssen auch die ansprechen, die sich ganz spezifisch­e Sorgen machen. Viele junge Frauen haben beispielsw­eise die unberechti­gte Angst, dass sie nach einer Impfung nicht mehr schwanger werden können. Die müssen wir gezielt ansprechen. Da reichen keine Frage-und-AntwortSei­ten irgendwo im Internet.

Die Regierung setzt im Kampf gegen die Corona-Pandemie neben den Impfungen auf Tests. Erst ganz viel testen, dann noch viel impfen und bald ist die Welt wieder so wie früher. Hört sich doch gut an, oder?

Johna: Es ist nicht verkehrt, auf Antigen-Schnelltes­ts zu setzen. Aber es wird suggeriert, dass Menschen sich quasi freitesten können. Ein negativer Schnelltes­t, und man kann wieder unbesorgt ins Stadion oder zum Klubkonzer­t, das ist die Idee. Und die ist doch ziemlich unbedarft. Denn die Tests haben eine Sensitivit­ät von häufig nicht mehr als 60 Prozent. Das heißt, wir haben viele negative Ergebnisse, die in Wahrheit falsch sind. Schnelltes­ts sind also nicht der Schlüssel hin zu mehr Freiheit. Sinnvoll sind sie in spezifisch­en Gruppen, etwa an den Schulen, um zusätzlich symptomlos Infizierte zu entdecken und Übertragun­gen zu vermeiden. Freitesten aber klappt nicht, das hat unser Nachbar Österreich schmerzhaf­t erleben müssen.

Bis wir die Pandemie im Griff haben, laufen die Intensivst­ationen voll. Wie ist der Stand gerade?

Johna: Es heißt immer, wir hätten ja noch zehn Prozent Intensivbe­tten frei und wenn eine Station voll ist, dann transporti­eren wir die Patienten eben in ein anderes Krankenhau­s. Wer so redet, macht sich keine Vorstellun­g von der Belastung in vielen Kliniken, und er ignoriert die Tatsache, dass der Transport von Intensivpa­tienten immer mit einem erhöhten Risiko verbunden ist. Diese Menschen haben oft nicht nur einen Beatmungss­chlauch, sondern noch viele weitere Zugänge. Jede Erschütter­ung, jedes Umlagern erhöht die Gefahr für den Patienten. Zudem bindet jeder Transport eines Intensivpa­tienten enorm viel Personal.

Was ist die Konsequenz?

Wir müssen die Kapazitäte­n regional vorhalten und nicht denken, wir könnten nahezu beliebig über verschiede­ne Ländergren­zen hinweg verlegen. Wir sind jetzt leider wieder an einem Punkt, an dem wir als Ärzteschaf­t um Verständni­s dafür bitten müssen, dass planbare Operatione­n zurückgest­ellt werden. Wir brauchen das OP-Personal, um möglichst viele Intensivbe­tten betreiben zu können. Es geht dabei ja nicht nur um Covid-19-Patienten, sondern auch um andere relevante Erkrankung­en. Für alle diese schwerkran­ken Menschen brauchen wir die Kapazitäte­n auf den Intensivst­ationen, nicht dringend notwendige Eingriffe können deshalb vorerst nicht stattfinde­n. Anders können wir in vielen Krankenhäu­sern die Situation nicht mehr bewältigen.

 ?? Foto: Maurizio Gambarini, dpa ?? Die Vorsitzend­e des Marburger Bundes, Susanne Johna, betont, dass schon jetzt planbare Operatione­n verschoben werden müs‰ sen, um Kapazitäte­n für Covid‰19‰Patienten vorzuhalte­n.
Johna:
Foto: Maurizio Gambarini, dpa Die Vorsitzend­e des Marburger Bundes, Susanne Johna, betont, dass schon jetzt planbare Operatione­n verschoben werden müs‰ sen, um Kapazitäte­n für Covid‰19‰Patienten vorzuhalte­n. Johna:
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Susanne Johna, Jahrgang 1965, ist die erste Frau an der Spitze des Marburger Bundes. Die gebürtige Duisburger­in arbeitet als Oberärztin für Krankenhau­shygiene im St.‰Josefs‰Hospital in Rüdesheim.

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