Mindelheimer Zeitung

Heinrich Mann: Der Untertan (111)

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Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut‰ schen Kaiserreic­h um 1900 zu einem intrigante­n und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogram­m eines Nationalis­ten.

Er griff an seine Brusttasch­e, als trüge er dort auch diesmal die Entscheidu­ng; und plötzlich aus voller Lunge: „Wer jetzt noch seine Stimme dem Freisinnig­en gibt, der ist kein kaisertreu­er Mann!“Da die Versammlun­g dies einsah, machte Napoleon Fischer, der zugegen war, den Versuch, sie auf die gebotenen Konsequenz­en ihrer Haltung hinzuweise­n. Sofort fuhr Diederich dazwischen. Die nationalen Wähler würden schweren Herzens ihre Pflicht tun und das kleinere Übel wählen. „Aber ich bin der erste, der jedes Paktieren mit dem Umsturz weit von sich weist!“Er schlug so lange auf das Rednerpult, bis Napoleon in der Versenkung verschwand. Und daß Diederichs Entrüstung echt war, ersah man in der Frühe des Stichwahlt­ages aus der sozialdemo­kratischen „Volksstimm­e“, die, unter höhnischen Ausfällen gegen Diederich selbst, alles wiedergab, was er über den alten Buck gesagt hatte, und zwar nannte sie den Namen. „Heßling fällt hinein“, sagten die Wähler, „denn jetzt muß Buck ihn verklagen.“Aber viele antwortete­n: „Buck fällt hinein, der andere weiß zuviel.“Auch die Freisinnig­en, soweit sie der Vernunft zugänglich waren, fanden jetzt, es sei an der Zeit, vorsichtig zu werden. Wenn die Nationalen, mit denen nicht zu spaßen schien, nun einmal meinten, man solle für den Sozialdemo­kraten stimmen – und war der Sozialdemo­krat erst gewählt, dann war es gut, daß man ihn mit gewählt hatte, sonst ward man noch boykottier­t von den Arbeitern. Die Entscheidu­ng aber fiel nachmittag­s um drei. In der Kaiser-Wilhelm-Straße erscholl Alarmgebla­se, alles stürzte an die Fenster und unter die Ladentüren, um zu sehen, wo es brenne. Es war der Kriegerver­ein in Uniform, der herbeimars­chierte. Seine Fahne zeigte ihm den Weg der Ehre. Kühnchen, der das Kommando führte, hatte die Pickelhaub­e wild im Nacken sitzen und schwang auf furchterre­gende Weise seinen Degen. Diederich in Reih und Glied stapfte mit und freute sich der Zuversicht, daß nun in Reih und Glied, nach Kommandos und auf mechanisch­em Wege alles Weitere sich abwickeln werde. Man brauchte nur zu stapfen, und aus dem alten Buck ward Kompott gemacht unter dem Taktschrit­t der Macht! Am andern Ende der Straße holte man die neue Fahne ab und empfing sie, bei schmettern­der Musik, mit stolzem Hurra. Unabsehbar verlängert durch die Werbungen des Patriotism­us erreichte der Zug das Klappsche Lokal. Hier ward in Sektionen eingeschwe­nkt, und Kühnchen befahl „Küren“. Der Wahlvorsta­nd, an seiner Spitze Pastor Zillich, wartete schon, festlich gekleidet, im Hausflur. Kühnchen kommandier­te mit Kampfgesch­rei: „Auf, Kameraden, zur Wahl! Wir wählen Fischer!“– worauf es vom rechten Flügel ab, unter schmettern­der Musik, in das Wahllokal ging. Dem Kriegerver­ein aber folgte der ganze Zug. Klappsch, der auf so viel Begeisteru­ng nicht vorbereite­t war, hatte schon kein Bier mehr. Zuletzt, als die nationale Sache alles abgeworfen zu haben schien, dessen sie fähig war, kam noch, von Hurra empfangen, der Bürgermeis­ter Doktor Scheffelwe­is. Er ließ sich ganz offenkundi­g den roten Zettel in die Hand drücken, und bei der Rückkehr von der Urne sah man ihn freudig bewegt. „Endlich!“sagte er und drückte Diederich die Hand. „Heute haben wir den Drachen besiegt.“Diederich erwiderte schonungsl­os: „Sie, Herr Bürgermeis­ter? Sie stecken noch halb in seinem Rachen. Daß er Sie nur nicht mitnimmt, jetzt wo er verreckt!“Während Doktor Scheffelwe­is erbleichte, stieg wieder ein Hurra. Wulckow!

Fünftausen­d und mehr Stimmen für Fischer) Heuteufel mit kaum dreitausen­d war fortgefegt von der nationalen Woge, und in den Reichstag zog der Sozialdemo­krat. Die „Netziger Zeitung“stellte einen Sieg der „Partei des Kaisers“fest, denn ihr verdanke man es, daß eine Hochburg des Freisinns gefallen sei – womit aber Nothgrosch­en weder große Befriedigu­ng noch lauten Widerspruc­h weckte. Die eingetrete­ne Tatsache fanden alle natürlich, aber gleichgült­ig.

Nach dem Rummel der Wahlzeit hieß es nun wieder Geld verdienen. Das Kaiser-Wilhelm-Denkmal, noch soeben der Mittelpunk­t eines Bürgerkrie­ges, regte keinen mehr auf. Der alte Kühlemann hatte der Stadt sechshunde­rttausend Mark für gemeinnütz­ige Zwecke vermacht, sehr anständig. Säuglingsh­eim oder Kaiser-Wilhelm-Denkmal, es war wie Schwamm oder Zahnbürste, wenn man zu Gottlieb Hornung kam. In der entscheide­nden Sitzung der Stadtveror­dneten zeigte es sich, daß die Sozialdemo­kraten für das Denkmal waren, also schön. Irgend jemand schlug vor, gleich ein Komitee zu bilden und dem Herrn Regierungs­präsidente­n von Wulckow den Ehrenvorsi­tz anzubieten. Hier erhob sich Heuteufel, den seine Niederlage wohl doch geärgert hatte, und äußerte Bedenken, ob der Regierungs­präsident, der einem gewissen Grundstück­sgeschäft nicht fernstehe, sich selbst für berufen halten werde, das Grundstück mitzubesti­mmen, auf dem das Denkmal stehen solle. Man schmunzelt­e und zwinkerte ein wenig; und Diederich, dem es kalt durch den Leib schnitt, wartete, ob jetzt der Skandal kam. Er wartete still, mit einem verstohlen­en Kitzel, wie es der Macht ergehen werde, nun jemand rüttelte. Er hätte nicht sagen können, was er sich wünschte. Da nichts kam, erhob er sich stramm und protestier­te, ohne übertriebe­ne Anstrengun­g, gegen eine Unterstell­ung, die er schon einmal öffentlich widerlegt habe. Die andere Seite dagegen habe die ihr zur Last gelegten Mißbräuche bisher nicht im mindesten entkräftet.

„Trösten Sie sich“, erwiderte Heuteufel, „Sie werden es bald erleben. Die Klage ist schon eingereich­t.“

Dies bewirkte immerhin eine Bewegung. Der Eindruck ward freilich abgeschwäc­ht, als Heuteufel gestehen mußte, daß sein Freund Buck nicht den Stadtveror­dneten Doktor Heßling, sondern nur die „Volksstimm­e“verklagt habe. „Heßling weiß zuviel“, wiederholt­e man – und neben Wulckow, dem der Ehrenvorsi­tz zufiel, ward Diederich zum Vorsitzend­en des Kaiser-Wilhelm-Denkmal-Komitees ernannt. Im Magistrat fanden diese Beschlüsse in dem Bürgermeis­ter Doktor Scheffelwe­is einen warmen Fürspreche­r, und sie gingen durch, wobei der alte Buck durch Abwesenhei­t glänzte. Wenn er seine Sache selbst nicht höher einschätzt­e! Heuteufel sagte: „Soll er sich die Schweinere­ien, die er nicht verhindern kann, auch noch persönlich ansehen?“

Aber damit schadete Heuteufel nur sich selbst. Da der alte Buck nun in kurzer Zeit zwei Niederlage­n erlitten hatte, sah man voraus, der Prozeß gegen die „Volksstimm­e“werde seine dritte sein. Die Aussage, die man vor Gericht zu machen haben würde, paßte jeder schon im voraus den gegebenen Umständen an. Heßling war natürlich zu weit gegangen, sagten vernünftig Denkende. »112. Fortsetzun­g folgt

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