Über Nacht kommen die Fluten nach Bayern
Katastrophe Das Hochwasser trifft am Wochenende den Südosten des Freistaats schwer. Ein Mensch stirbt. Das Ausmaß der Zerstörung wird erst am Sonntag richtig sichtbar. Was Politiker jetzt versprechen
Berchtesgaden/Augsburg Am Sonntagmorgen starren die Menschen im Berchtesgadener Land ungläubig auf die Verwüstungen, die die reißenden Fluten hinterlassen haben. Mit Schaufeln räumen sie Schlamm und Geröll beiseite. Viele sind wie im Schock. Gerade noch hatten sie bestürzt auf die Hochwasserkatastrophe im Westen Deutschlands geblickt. Nun sind sie über Nacht selbst zu Opfern geworden.
Es sei selbst für die Kräfte vor Ort unvorstellbar, was die Unwetter im Süden des Landkreises angerichtet hätten, sagt Landrat Bernhard Kern (CSU), als er am Sonntagmorgen Bilanz zieht. „Wir schauen auf die Pfalz, wir schauen auf NRW“, sagt er. Und plötzlich merke man, wie schnell man selbst zum Betroffenen werden kann. „Die Realität hat uns eingeholt.“
Sintflutartige Regenfälle hatten am Samstagabend den Fluss Ache über die Ufer treten und Hänge abrutschen lassen. Häuser drohten einzustürzen, Straßen wurden überflutet und Keller liefen voll. Der Landrief den Katastrophenfall aus. Der örtliche Einsatzleiter Anton Brandner spricht am Sonntag von dramatischen Szenen: „Fahrzeuge auf den Straßen wurden zum Spielball der Wassermassen.“
Am Samstagnachmittag hatten die Behörden in Südostbayern noch teilweise Entwarnung gegeben. Doch schon wenige Stunden später ruft der Landkreis Berchtesgadener Land den Katastrophenfall aus. Häuser werden geräumt, Bundesstraßen gesperrt. Es gibt viele Murenabgänge. Die Feuerwehr ist überlastet. Im Laufe des Samstagvormittags hatte starker Regen eingesetzt. Innerhalb von 24 Stunden fallen bis zu 130 Liter pro Quadratmeter – so viel wie sonst in einem ganzen Monat.
Die Böden können so viel Wasser auf einmal nicht aufnehmen. Die Fluten rauschen die Hänge herab und füllen Bäche und Flüsse binnen weniger Stunden. Straßen werden überflutet, die Wassermassen lösen unzählige Erdrutsche aus. Betroffen sind vor allem die Orte Berchtesgaden, Schönau und Bischofswiesen. Die Bevölkerung wird aufgerufen, dringend die Keller zu verlassen und die Straßen zu meiden. Die Pegel der Bäche und Flüsse in der Region überschreiten die Stände des MegaHochwassers von 2013.
Mehr als 130 Menschen müssen ihre Häuser verlassen. Zwei Menschen sterben – einer davon an einer natürlichen Ursache, die aber auch mit dem Hochwasser in Zusammenhang stehen könne, erläutert Landrat Kern. Genaueres will er nicht sagen. Rund 900 Hilfskräfte sind in den besonders betroffenen Orten im Einsatz, viele seit Samstag ohne Pause. Mehr als 500 Mal müssen sie ausrücken – auch um Leben zu retten. Landrat Kern warnt vor touristischen Ausflügen in die Region. Straßen seien „extremst“in Mitleidenschaft gezogen. Mehrere Bahnstrecken in Oberbayern sind gesperrt.
Eine Berlinerin, die mit ihrer Tochter auf dem Weg in den Urlaub war, muss mit dem Bus eine wahre Odyssee zurücklegen, nachdem der Zug nicht weiter kam. Zweimal musste der Bus umkehren und auf eine andere Strecke ausweichen, erkreis zählt Daniela Boltres. Bei strömendem Regen habe er sich die Serpentinen hoch gequält. „Das Wasser floss von den Felswänden, Steine kamen vereinzelt herunter“, berichtet sie. Mit der Zeit sei es im Bus immer stiller geworden. Nach Stunden kommt sie schließlich an – und muss den Schreck nun erst mal verdauen.
In Hallein, knapp hinter der Grenze zu Österreich, wälzt sich eine Flutwelle durch den Ort. Der Kothbach hat sich in kürzester Zeit zu einem reißenden Strom entwickelt. In Videos im Internet ist zu sehen, wie Menschen und Autos von den Wassermassen mitgerissen werden. Bis Sonntag gibt es aber keine Meldungen über Verletzte oder Tote.
Und es regnet weiter am Sonntag. Immer mehr Menschen müssen im Berchtesgadener Land ihre Häuser verlassen. Und dann verunglücken noch Helfer des Technischen Hilfswerks (THW) beim Einsatz mit ihrem Lastwagen. Vier Menschen werden zum Teil schwer verletzt, wie das Bayerische Rote Kreuz am Sonntag mitteilte. Der Wagen sei mit Sandsäcken beladen gewesen und auf der Salzbergstraße (B319) bergab auf die Gegenfahrbahn geraten und mit einem Auto zusammengestoßen. Dabei überschlug sich der Laster. Die Polizei vermutet, dass die Bremsen des Lasters heiß gelaufen waren.
Andernorts rüstet sich die Drei-Flüsse-Stadt Passau für die Wassermassen von Donau, Inn und Ilz. In der Altstadt werden die Eingänge mit Sandsäcken verbaut. Mobile Schutzwände werden aufgestellt.
Im Allgäuer Alpengebiet wird ebenfalls Alarm ausgelöst. Im Gebirgsbach Stillach nahe Oberstdorf hatte querliegendes Holz das Wasser an einer Brücke bedrohlich angestaut. Hätte sich die natürliche Sperre plötzlich gelöst, wäre mit einer Flutwelle in Richtung Oberstdorf zu rechnen gewesen. Doch die Feuerwehr kann die Verklausung mithilfe eines Baggers lösen, das Wasser fließt kontrolliert ab.
Am Sonntagnachmittag gibt sich auch im bayerischen Hochwassergebiet die Politprominenz ein Stelldichein. Ministerpräsident Söder (CSU) ist gekommen und verspricht umfassende Hilfe für die Betroffenen: „Wir lassen niemanden allein, ganz sicher nicht.“Er kündigt an, beim Thema Klimaschutz Gas zu geben.
Autos wurden zum Spielball der Wassermassen