Wie Spike Lee dem Festival die Palme aufsetzt
Cannes Der Jurypräsident der diesjährigen Filmfestspiele verrät gleich zu Beginn, was eigentlich der Höhepunkt der Preisverleihung sein sollte: Die höchste Auszeichnung geht an „Titane“. Und damit zum zweiten Mal an eine Frau
Cannes Die Kritik senkte den Daumen. Julia Ducourneaus Horrordrama „Titane“erhielt im Schnitt eine der schlechtesten Bewertungen des Festivals. Das hinderte die Jury der 74. Filmfestspiele in Cannes jedoch nicht, die Groteske um eine Serienkillerin, die von einem Auto (!) schwanger wird und sich auf der Flucht vor der Polizei als Junge ausgibt, mit der Goldenen Palme auszuzeichnen. Eine Entscheidung, die sich auf verschiedenste Weise interpretieren lässt. Etwa als Zeichen einer Zeit, in der etablierte soziale und kulturelle Denkmuster grundlegend durcheinandergewirbelt werden. Oder auch als lang überfällige Hommage an weibliche Filmemacher – die Französin ist, nach Jane Campion für „Das Piano“1993, erst die zweite Regisseurin, deren Film den Hauptpreis erhielt.
Man könnte aber auch ein anderes Interpretationsschema anlegen: Vielleicht ist Cannes eben nicht die Elfenbeinfestung, in der privilegierte Kinomanen abgeschnitten vom Alltag ihren Obsessionen frönen. Das Leben bricht sich seine Bahn. Extreme Visionen wie in „Titane“, die irritieren, verstören und eventuell anekeln, sind symptomatisch für die Kraft des Realen, das keine Abkapselung zulässt. Zu diesem Deutungsmuster passt es auch, dass Jurypräsident Spike Lee bei der Preisverleihung die Kontrolle verlor und die Gewinnerin entgegen der sonstigen Gepflogenheiten gleich am Anfang hinausposaunte.
Nach diesem Deutungsmuster war es auch nur naheliegend, dass weitgehend Filme ausgezeichnet wurden, die in die Lebenswirklichkeit in ihrer ganzen Komplexität eintauchten – und nicht etwa in ein inhaltsleeres Fabergé-Ei wie Wes Andersons „French Dispatch“. Etwa das Drehbuch von Ryûsuke Hamaguchis epischer Interpretation einer Murakami-Kurzgeschichte, „Drive My Car“, einer intensiven Charakterstudie über Liebe, Trauer, Erotik und Kreativität. Regisseur Justin Kurzel wiederum kehrte nach seinem Hollywood-Desaster „Assassin’s Creed“in seine australische Heimat zurück und legte mit „Nitram“das eingehende Porträt eines Massenmörders vor, das Martin Bryant die Auszeichnung als bester Hauptdarsteller einbrachte.
Aber vielleicht ist es sinnvoller, den Blick über die Leinwand hinaus zu weiten, um die wahre Essenz von Cannes zu erfassen. Denn es gab Momente und Erfahrungen, die eben nicht von den Pixeln der Filmkameras vermittelt wurden. Zum Beispiel als die Schauspielerin Maria Bakalova nach zwei Jahren spontan auf ihre Co-Darstellerinnen im bulgarischen Drama „Women Do Cry“traf und sich alle Frauen weinend in den Armen lagen. Auch als Pornodarsteller Simon Rex für sein Debüt als ernsthafter Schauspieler in „Red Rocket“gefeiert wurde, war das ein Moment, der vom Leben erzählt, nicht nur vom Film.
Auf andere Weise sprengte Oliver Stones JFK-Dokumentation die Begrenzungen. Denn wer sich der Suggestivkraft seiner detaillierten Darlegungen nicht entziehen will, der muss tatsächlich zu dem Schluss kommen, dass der wohl strahlendste US-Präsident des 20. Jahrhunderts einem CIA-Komplott zum Opfer fiel, dessen Schockwellen bis heute zu spüren sind. Streng genommen sollte die Frage nach der Goldenen Palme da gar niemand mehr interessieren. Das Festival selbst wiederum forderte zum Schluss sogar noch die Großmacht China heraus, indem es eine Dokumentation über die Proteste in Hongkong als Überraschungsfilm ins Programm hievte.
Manche Filmemacher testeten radikal die Wahrnehmungskonventionen des modernen Publikums aus. Apichatpong Weerasethakul bot mit „Memoria“– neben Navad Lapids „Ahed’s Knee“mit dem Preis der Jury ausgezeichnet – einen meditativ-halluzinatorischen Trip über die Grenzen von Zeit und Raum, der viel tiefer nachhallte als die herästhetischen kömmlichen Dramen in Cannes. Und wenn Tilda Swinton im Interview erzählte, wie ihr die Arbeit an diesem Film bei der Bewältigung persönlicher Trauerfälle half, dann verschränkten sich auch hier Wirklichkeit und Kino in einzigartiger Weise.
So war es nur passend, dass einer der letzten Höhepunkte nicht von einem fiktionalen Werk gesetzt wurde, sondern von der KonzertDokumentation „New Worlds: The Cradle of Civilization“, in der Bill Murray, der Cellist Jan Vogler und weitere Musiker die Welten von Literatur und Musik auf kongeniale Weise verschmelzen lassen. Am Schluss stand der Hollywood-Darsteller, der reguläre Medienauftritte eher scheut, mit dem Ensemble leibhaftig für eine 25-minütige Performance auf der Bühne und warf zuletzt Rosen ins Publikum. Ganz real. Wer will da noch an das Covid-Menetekel denken, das am Anfang über dem Festival schwebte? Das Leben lässt sich nicht aufhalten.