Schneider kann wieder lachen
Nach dem Tod ihres Pferds befindet sie sich jetzt auf Goldkurs
Tokio Nach einem traumatischen Sturzerlebnis schien Dorothee Schneiders Traum vom erneuten Olympia-Gold frühzeitig beendet. Bei einem kleineren Reitturnier in Pforzheim erlebte sie im April eine wahre Horror-Szene, als ihre Stute Rock’n Rose bei der Siegerehrung plötzlich zusammenbrach: Das Pferd starb, die Reiterin brach sich das rechte Schlüsselbein – und Tokio war in diesem Moment für die Dressurreiterin weiter als die 9000 Kilometer entfernt. Viele Wochen konnte Schneider „schlecht darüber sprechen“, wie sie am Montag in Tokio erzählte. „Ich war immer knapp an den Tränen.“Sie hatte zu der Stute „ein sehr emotionales Verhältnis“, berichtete sie beim Gang über das Olympia-Gelände: „Das war wirklich sehr hart.“
Bei Instagram schrieb sie damals: „Ruhe in Frieden, geliebte Rosi. Du bist für immer in unseren Herzen.“Es wird vermutet, dass die Stute an einem Aortenabriss starb. „Das war eine ganz schreckliche Erfahrung für Dorothee“, sagte Bundestrainerin Monica Theodorescu. Viele Wochen hatte Schneider zudem körperliche Schmerzen. Trotzdem stieg die 52-Jährige daheim in Framersheim schnell wieder aufs Pferd. Schließlich stand die Tokio-Qualifikation auf dem Programm. Die Zeit drängte. Mit Showtime, Sammy Davis jr. und Faustus gehörte sie zum Olympia-Kader, die drei Pferde mussten trainiert werden.
Nur dank einer Spezialweste, die Mannschaftsarzt Manfred Giensch entwickelt hat, konnte sie überhaupt wieder reiten. „Die hat sehr geholfen“, berichtete Schneider. Sechs Wochen trug sie die aus Neopren gefertigte Giensch-Weste, die schon einigen Reitern geholfen hat. „Bei fast 35 Grad wurde es mit Neopren schwierig, dann musste ich sie weglassen“, berichtete sie von den Übungseinheiten im heißen Frühsommer. Dennoch: Kurz danach schaffte sie bei den deutschen Meisterschaften in Balve und bei der zweiten Sichtung in Kronberg tatsächlich mit Showtime die Qualifikation.
Auch die Bundestrainerin war glücklich. Schließlich ist Schneider seit dem olympischen Gold in Rio eine feste Größe in Theodorescus Team, gehörte zu den siegreichen Mannschaften bei der WM 2018 sowie bei den Europameisterschaften 2017 und 2019. „Sie ist einfach eine tolle Reiterin“, schwärmte die Trainerin. Inzwischen sei sie „völlig schmerzfrei“, versicherte Schneider, die sich im Grand Prix auch souverän für die Einzelentscheidung am Mittwoch qualifiziert hat. „Ich habe viel Physiotherapie gemacht.“Physisch hat sie die Folgen des albtraumhaften Sturzes also überwunden. Und psychisch? „Ich bin mental gut drauf“, erklärte die Reiterin rund 24 Stunden vor dem Start des Teamwettbewerbes, bei dem sie im Team mit Jessica von BredowWerndl auf Dalera und Isabell Werth mit Bella Rose absolute Topfavoritin auf Gold ist. Schneider sagte: „Ich habe es im Griff.“ waren. Wie mehrere andere Stadien gehörte der Reitpark schon 1964, als Japans Hauptstadt erstmals die Olympischen Spiele veranstaltete, zu den Spielstätten. So wird vom japanischen Reitsportverband, dem Organisationskomitee und japanischen Medien gern betont, wie historisch dieser Ort ist.
Wobei wenige wissen, wie historisch er wirklich ist. Was man auf der Anlage, wo dieser Tage auch Goldmedaillen vergeben werden, kaum herausfinden wird: Diese Anlage existierte schon im Jahr 1940. Denn bereits damals hätte Tokio das werden sollen, was es schließlich 1964 war: die erste asiatische Gastgeberstadt der größten Sportveranstaltung der Welt. Da Japan in den 1930er Jahren aber einen Invasionskrieg im Pazifik führte, gab Tokio das 1936 in Berlin gewonnene Austragungsrecht zwei Jahre später wieder zurück. Die Waffenindustrie forderte das für die Stadionbauten eingeplante Metall ein. Die für den Sport gedachten Pferde brauchte die Kavallerie.
Historiker bezeichnen „Tokyo 1940“heute als „maboroshii orinpikku“, die Phantomspiele. Denn während sie nie stattgefunden haben, ist ihr Erbe doch vorhanden. Es ist nur weitgehend unbekannt. „An 1940 denkt hier sicherlich niemand“, sagt Torsten Weber, Historiker am Deutschen Institut für Japanstudien in Tokio. „Egal, an welcher Sportstätte man vorbeigeht und was man in der Stadt mit Olympia in Verbindung bringt: Es ist klar, dass der Bezug immer wieder zu 1964 hergestellt wird.“
Schließlich lässt sich mit den Spielen „Tokyo 1964“die wesentlich angenehmere Geschichte erzählen. 19 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, der für Japan mit zwei Atombomben über Hiroshima und Nagasaki sowie Luftangriffe auf die meisten Großstädte geendet hatte, markierte Tokio damals die unmittelbare Nachkriegszeit für beendet. Japan war als hochmoderne Industrienation mit dem Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen und neuen Flughäfen wieder aufgebaut. Die sportlichen Wettkämpfe, bei denen sich Japan als weltoffen präsentierte, wurden erstmals weltweit live per Satellit übertragen.
Über die Spiele von 1964 weiß in Japan jedes Kind Bescheid. Von jenen, die für das Jahr 1940 geplant gewesen waren, hat dagegen längst nicht jeder Erwachsene gehört. „Es ist einfach ein sehr unangenehmes Thema“, sagt Takuji Hayata, der im Jahr 1940 geboren wurde und 1964 als Turner an den Ringen und im Mannschaftsmehrkampf Gold für Japan holte. Später wurde Hayata Lehrer und erinnert sich: „Über
im Zentrum der Stadt, eine wichtige Autobrücke, die über einen Fluss und eine große Straße führt“, sagt der Historiker Torsten Weber. Die fünf Farben sollen für die olympischen Ringe stehen. Aber ein an der Brücke angebrachtes Schild führe die Öffentlichkeit in die Irre, so Weber. „Da steht, sie wurde 1962 gebaut für 1964. Aber ursprünglich wurde sie schon 1938 errichtet für 1940.“
Doch sowohl bei der Fünf-Farben-Brücke als auch im Reitpark in Setagaya und sonst wo in Tokio: Wenn von „Legacy“die Rede ist, also der historischen Hinterlassenschaft, wird das unangenehme Kapitel um den Zweiten Weltkrieg gern vergessen. So ist es auch auf der Website des japanischen Reitsportverbands, der den nun für Olympia renovierten Reitpark Baji Koen betreibt. Zur Geschichte der Anlage steht dort: „Gebaut 1940, um Pferdesport zu fördern. 24 Jahre später hatte er das Privileg, einige Wettkämpfe der Olympischen Spiele zu veranstalten.“Von den ursprünglichen Olympia-Plänen, die sich wegen eines Kriegs nie realisierten, kein Wort.