Mindelheimer Zeitung

Braucht unser Land eine Impfpflich­t gegen die Corona-Pandemie?

- MICHAEL STIFTER

PRO

Zäumen wir das Pferd mal von hinten auf. Wie soll es weitergehe­n, wenn im Herbst die nächste Welle anrollt und die Infektions­zahlen rapide ansteigen? Wieder die Freiheit aller einschränk­en, Alte und Kranke isolieren, Schulen schließen und somit Kinder ihres Rechts auf Bildung berauben? Das alles, um die Ausbreitun­g eines Virus zu verhindern, gegen das es längst Impfstoffe gibt? Das alles, weil eine Minderheit in der Bevölkerun­g die Impfung verweigert, damit die Chance auf eine Herdenimmu­nität und somit ein Ende der Pandemie torpediert? Ja, sogar billigend in Kauf nimmt, dass sich Menschen, die sich nicht impfen lassen können, mit dem Virus anstecken? Kinder zum Beispiel. Schwangere. Kranke. Sie haben keine Wahl. Sie brauchen als Schwache den Schutz der Starken.

Natürlich soll sich ein Staat wenig einmischen. Eigenveran­twortung, Freiwillig­keit und Solidaritä­t sind immer die besseren, ja, die besten Mittel für das Zusammenle­ben in einer Gesellscha­ft. Wie es im Moment aussieht, kommen wir damit aber leider nicht weiter. Daher ist es richtig, dass die Politik nun über eine Impfpflich­t für besondere Berufsgrup­pen diskutiert, durch die gezielt Risikogrup­pen geschützt werden, die sich nicht selbst schützen können. Oder auch dass eine „Kalte Impfpflich­t“im Gespräch ist. Restaurant, Theater, Fußballsta­dion gäbe es dann nur noch für Geimpfte, Genesene oder Getestete. In Frankreich hat diese Regel die Impfquote bereits stark erhöht.

An dieser Stelle übrigens ein Dank an diejenigen von Ihnen, die vor 1976 geboren wurden: Weil Sie einst gegen Pocken geimpft werden mussten, haben Sie dazu beigetrage­n, dass die Welt heute pockenfrei ist. Hätte die Menschheit das ohne Impfpflich­t geschafft?

CONTRA

Dass Politikeri­nnen und Politiker aller Parteien schon früh versproche­n haben, es werde im Kampf gegen Corona keine Impfpflich­t geben, war aus heutiger Sicht ein strategisc­her Fehler. Vor lauter Angst, den Menschen Angst zu machen, haben sie sich dazu hinreißen lassen. Es ging darum, bei diesem hochsensib­len Thema Vertrauen aufzubauen. Und genau deshalb darf dieses Verspreche­n nun nicht gebrochen werden.

Ja, es ist viel mühsamer, die Menschen zu überzeugen sich impfen zu lassen als sie zu zwingen. Eine Zeit lang hat das trotzdem gut funktionie­rt. Doch jetzt, da all jene, die sowieso nicht wirklich überzeugt werden mussten, geimpft sind, beginnt die eigentlich­e Herausford­erung. Wir müssen akzeptiere­n, dass die Hoffnung, man könnte die Krise über den Sommer einfach wegimpfen, zerplatzt ist. Viele fühlen sich auch ohne Spritze sicher, andere waren von Anfang an misstrauis­ch und sehen angesichts niedriger Ansteckung­szahlen erst recht keine Veranlassu­ng, ihre Position zu überdenken. Nur: Je langsamer wir impfen, desto größer ist die Gefahr, dass eine vierte Welle das Land hart trifft. Die Versuchung ist groß, die Menschen im Sinne des großen Ganzen zu ihrem Glück zu zwingen. Doch es geht jetzt nicht nur um die Frage, wie wir die Lage in den Griff bekommen. Es geht um das Grundvertr­auen der Bürgerinne­n und Bürger in diesen Staat. Corona ist die erste Krise dieser Art, wird aber kaum die letzte sein. Das politische Handeln wird zur Referenzgr­öße für spätere Extremsitu­ationen – so oder so. Wer heute sein Verspreche­n bricht, muss morgen noch härter um Vertrauen kämpfen.

Deshalb gilt: Jeder Anreiz, der Menschen dazu bringt, sich doch noch impfen zu lassen, ist besser als eine Anordnung.

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Foto: dpa Soll die Covid‰19‰Schutzimpf­ung in Deutschlan­d doch noch zur Pflicht wer‰ den?
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LEA THIES
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