Braucht unser Land eine Impfpflicht gegen die Corona-Pandemie?
PRO
Zäumen wir das Pferd mal von hinten auf. Wie soll es weitergehen, wenn im Herbst die nächste Welle anrollt und die Infektionszahlen rapide ansteigen? Wieder die Freiheit aller einschränken, Alte und Kranke isolieren, Schulen schließen und somit Kinder ihres Rechts auf Bildung berauben? Das alles, um die Ausbreitung eines Virus zu verhindern, gegen das es längst Impfstoffe gibt? Das alles, weil eine Minderheit in der Bevölkerung die Impfung verweigert, damit die Chance auf eine Herdenimmunität und somit ein Ende der Pandemie torpediert? Ja, sogar billigend in Kauf nimmt, dass sich Menschen, die sich nicht impfen lassen können, mit dem Virus anstecken? Kinder zum Beispiel. Schwangere. Kranke. Sie haben keine Wahl. Sie brauchen als Schwache den Schutz der Starken.
Natürlich soll sich ein Staat wenig einmischen. Eigenverantwortung, Freiwilligkeit und Solidarität sind immer die besseren, ja, die besten Mittel für das Zusammenleben in einer Gesellschaft. Wie es im Moment aussieht, kommen wir damit aber leider nicht weiter. Daher ist es richtig, dass die Politik nun über eine Impfpflicht für besondere Berufsgruppen diskutiert, durch die gezielt Risikogruppen geschützt werden, die sich nicht selbst schützen können. Oder auch dass eine „Kalte Impfpflicht“im Gespräch ist. Restaurant, Theater, Fußballstadion gäbe es dann nur noch für Geimpfte, Genesene oder Getestete. In Frankreich hat diese Regel die Impfquote bereits stark erhöht.
An dieser Stelle übrigens ein Dank an diejenigen von Ihnen, die vor 1976 geboren wurden: Weil Sie einst gegen Pocken geimpft werden mussten, haben Sie dazu beigetragen, dass die Welt heute pockenfrei ist. Hätte die Menschheit das ohne Impfpflicht geschafft?
CONTRA
Dass Politikerinnen und Politiker aller Parteien schon früh versprochen haben, es werde im Kampf gegen Corona keine Impfpflicht geben, war aus heutiger Sicht ein strategischer Fehler. Vor lauter Angst, den Menschen Angst zu machen, haben sie sich dazu hinreißen lassen. Es ging darum, bei diesem hochsensiblen Thema Vertrauen aufzubauen. Und genau deshalb darf dieses Versprechen nun nicht gebrochen werden.
Ja, es ist viel mühsamer, die Menschen zu überzeugen sich impfen zu lassen als sie zu zwingen. Eine Zeit lang hat das trotzdem gut funktioniert. Doch jetzt, da all jene, die sowieso nicht wirklich überzeugt werden mussten, geimpft sind, beginnt die eigentliche Herausforderung. Wir müssen akzeptieren, dass die Hoffnung, man könnte die Krise über den Sommer einfach wegimpfen, zerplatzt ist. Viele fühlen sich auch ohne Spritze sicher, andere waren von Anfang an misstrauisch und sehen angesichts niedriger Ansteckungszahlen erst recht keine Veranlassung, ihre Position zu überdenken. Nur: Je langsamer wir impfen, desto größer ist die Gefahr, dass eine vierte Welle das Land hart trifft. Die Versuchung ist groß, die Menschen im Sinne des großen Ganzen zu ihrem Glück zu zwingen. Doch es geht jetzt nicht nur um die Frage, wie wir die Lage in den Griff bekommen. Es geht um das Grundvertrauen der Bürgerinnen und Bürger in diesen Staat. Corona ist die erste Krise dieser Art, wird aber kaum die letzte sein. Das politische Handeln wird zur Referenzgröße für spätere Extremsituationen – so oder so. Wer heute sein Versprechen bricht, muss morgen noch härter um Vertrauen kämpfen.
Deshalb gilt: Jeder Anreiz, der Menschen dazu bringt, sich doch noch impfen zu lassen, ist besser als eine Anordnung.