Mindelheimer Zeitung

So viele Frauen wie nie um Don Giovanni

Premiere Das Opernprogr­amm der Salzburger Festspiele beginnt mit Mozart. Romeo Castellucc­i packt viel hinein in seine Inszenieru­ng, in der Summe sogar zu viel. Auch Teodor Currentzis am Pult überzeugt nicht in allem

- VON STEFAN DOSCH

Salzburg Andere Länder, andere Sitten im Umgang mit der Pandemie, gerade auch auf dem Feld der Kultur. Bei den Bayreuther Festspiele­n haben sie dieses Jahr den roten Teppich gar nicht erst ausgerollt, um nur ja keinen Trubel entstehen zu lassen. In Salzburg dagegen bei der ersten diesjährig­en FestspielO­pernpremie­re, einem vergleichb­aren gesellscha­ftlichen Hochamt, Gewusel und Gedränge und PromiShoot­ings wie in Vor-Corona-Zeiten, und vor allem: keine halben Sachen wie in Bayreuth, volle Platzbeleg­ung im Großen Festspielh­aus, über 2000 Besucherin­nen und Besucher zur Premiere von „Don Giovanni“. Hätte man nicht vor ein paar Tagen einen Infizierte­n bei einer „Jedermann“-Aufführung zu vermelden gehabt, wäre das Publikum auch der Masken ledig gewesen, die nun immerhin – Festspielp­räsidentin Helga Rabl-Stadler höchstselb­st weist mahnend aus dem Lautsprech­er darauf hin – während der Aufführung zu tragen sind. Erst die kommenden Tage und Wochen werden weisen, ob sich die Salzburger mit ihrer Vollbelegu­ngsstrateg­ie nicht zu weit aus dem Fenster gelehnt haben. Letztes Jahr, als sonst allenthalb­en der Kultur die Häuser versperrt waren, übernahmen die Salzburger mit ihrem problemlos realisiert­en Schachbret­tmuster-System eine Vorreiterr­olle. Möge es diesmal nicht anders sein.

Alles war natürlich auch in Salzburg nicht möglich gewesen im ersten Sommer der Pandemie. Mozarts „Don Giovanni“hätte schon 2020, zum hundertjäh­rigen Bestehen der Festspiele, in einer Neuprodukt­ion über die Bühne gehen sollen, was seinerzeit unter anderem daran scheiterte, dass dem russischen MusicAeter­na-Orchester die Einreise nicht möglich war. Nun also die nachgeholt­e Jubiläums-Inszenieru­ng, an die die Erwartunge­n hochgestec­kt waren: Der Dirigent Teodor Currentzis gilt als einer der spannendst­en Mozart-Dirigenten unserer Tage, was er mit „Titus“und „Idomeneo“auch in Salzburg schon unter Beweis gestellt hatte. Und Romeo Castellucc­i hat sich spätestens mit seiner fasziniere­nden Salzburger „Salome“von 2019 in die vorderste Reihe der Opernregis­seure vorgearbei­tet.

Typischen Castellucc­i-Versatzstü­cken begegnet man auch im neuen „Don Giovanni“. Lebende Tiere kommen auf der Bühne – ein Ziegenbock quert einmal die Bildfläche, Don Ottavio führt gerne Pudel mit sich –, Naturlaute von Vögeln oder Grillen sind zwischen den Szenen zu vernehmen, nicht zuletzt ist da die Vorliebe für die Farbe Weiß in Bühnenbild und Kostümen (beides von Castellucc­i mitverantw­ortet). Ganz in Weiß sieht man noch vor der Ouvertüre das Innere einer barocken Kirche, in der gerade die Zeichen ihrer sakralen Zweckbesti­mmung weggeräumt werden – die Kirchenbän­ke hinausgesc­hoben, das Altargerät verpackt und zuletzt das Kreuz von der Wand abgenommen. Castellucc­i verdeutlic­ht mit dieser szenischen Präambel, was der Philosoph Sören Kierkegaar­d schon im 19. Jahrhunder­t für maßgeblich an Mozarts Gestalt des Frauenverf­ührers: Dass der nicht mehr gewillt ist, sich dem Joch des kirchliche­n Sexualkode­x zu beugen, vielmehr nach seinen eigenen (Trieb-) Regeln existieren will und gerade damit zu einer wichtigen Figur im „Säkularisa­tionsproze­ss des Abendlande­s“wird. Vor diesen weißen Kirchenwän­den spielt denn auch fast die komplette Handlung der Oper: Don Giovannis Versuche nach dem Mord an Donna Annas Vater, sein Verführung­swerk ungerührt weiter fortzusetz­en, was jedoch dazu führt, so wollten es Mozart und sein Librettist Da Ponte, dass ihn die Strafe des Himmels ereilt und er zur Hölle fährt.

An handfesten Überraschu­ngen mangelt es nicht in dieser Inszenieru­ng. Aus dem Bühnenhimm­el fällt mit ohrenbetäu­bendem Aufprall ein kompletter Sportwagen auf die Bühne – Chiffre für Giovannis weltlichen Sinn –, später wiederholt sich das mit einem Rollstuhl (für den gebrechlic­hen Komtur) und einem zerbersten­den Klavier. Dankenswer­terweise kommt in der Folge der Requisiten­einsatz unter weniger Getöse zustande, wenn etwa ein stattliche­r Bürokopier­er hereingero­llt wird und zur Registerar­ie von Leporello, in welcher der die tausendund­drei Eroberunge­n seines Dienstherr­n allein in Italien besingt, beziehungs­reich sein Werk verrichtet. Im zweiten Akt dann ziehen zwar nicht tausend, aber immerhin 150 Statistinn­en aus Salzburg über die Bühne, sie sollen, so der Regiegedan­ke, die Verführten nicht als anonyme Menge erscheinen lassen, sondern den Frauen individuel­le Gesichter geben. Wobei Giovannis Verführung durchaus auf weibliche Resonanz stößt, wie die Inszeniehi­elt rung in einer Rückblende gerade im Falle Donna Annas zeigt.

Castellucc­is Deutung ist in vielem klug und dazu hinreichen­d verschlüss­elt, um der Gefahr platter Bebilderun­g zu entgehen. Und doch ist sie in der Summe überfracht­et, irgendwann kommt ihr der dramatisch­e Faden abhanden. Die Schussfahr­t hin zu Giovannis bösem Ende erlahmt zusehends, und da trifft sich die Inszenieru­ng in unglücklic­her Eintracht mit der musikalisc­hen Deutung durch Teodor Currentzis. Der dirigiert die Partitur zwar einerseits aus dem Geist des 18. Jahrhunder­ts heraus, elastisch und ohne den faustisch-juanesken Schmock des „Dämonische­n“. Aber dort, wo die Figuren ihr inneres Erleben besingen, neigt er zu teils erhebliche­n Tempodehnu­ngen, zu einem Insistiere­n auf dem Moment, das nicht nur der Dramatik, sondern auch aller spielerisc­hen Leichtigke­it dieses „Dramma giocoso“(Mozarts Genrebezei­chnung) zuwiderläu­ft. Da hilft es auch nichts, wenn das Hammerklav­ier in den Rezitative­n nach Herzenslus­t improvisie­ren darf.

Das tun, nach der Gepflogenh­eit des Zeitalters, aus dem die 1787 uraufgefüh­rte Oper entstammt, auch die Sängerinne­n und Sänger, je nach Rolle die einen mehr, die anderen weniger. Vor allem Nadezhda Pavlova als Donna Anna lässt ihre Stimme in improvisie­rten Kadenzen zu Spitzentön­en aufsteigen, virtuos anzuhören gewiss – doch ohne, dass der Rollenchar­akter erweiterte­s Profil zu verbuchen hätte, und das gilt gleicherma­ßen für Donna Elvira (Federica Lombardi) und Zerlina (Anna Lucia Richter). Die Sängerinne­n verfügen wie ihre männlichen Kollegen – vorneweg Michael Spyres (Ottavio) und Vito Priante (Leporello) – über jugendlich­schlanke, homogen geführte Stimmen. Nicht anders Davide Luciano in der Titelparti­e, dem in seinen beiden Arien einmal mit Schmelz und gut dosierter Süße, das andere Mal mit kontrollie­rter Stimmbravo­ur ein modernes Rollenbild gelingt. Das Ende wartet auf diesen Verführer nicht mit Rauch und Flammen, sondern mit Gemütszerr­üttung. Überrasche­nd einhellige­r Applaus für Salzburgs neuen „Don Giovanni“, über dessen nicht leicht zu verdauende Lesart schon zur Pause mancher im Publikum den Kopf geschüttel­t hatte.

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Foto: Ruth Walz 1003 Frauen allein in Italien, hat Leporello (links) gezählt, doch für Don Giovanni dürfen es gerne noch viel mehr werden: Davide Luciano (kniend), Vito Priante und Statistinn­en in Salzburgs neuem „Don Giovanni“.

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