Heinrich Mann: Der Untertan (123)
Er suchte Diederich auf, aber Diederich ließ sich verleugnen. Der Künstler seinerseits brauchte Ausflüchte. Da geschah es tatsächlich, daß Wulckow auf der Straße an Guste herantrat. Die Geschichte mit dem Platz bei den offiziellen Damen sei ein Mißverständnis. „Schön hat er gemacht wie unser Männe“, berichtete Guste. „Aber nun gerade nicht!“entschied Diederich, und er nahm keinen Anstand, die Geschichte umherzuerzählen. „Soll man sich Zwang antun“, sagte er zu Wolfgang Buck, „wo der Mann doch geliefert ist. Herr Oberst von Haffke gibt ihn auch schon auf.“Kühn setzte er hinzu: „Jetzt sieht er, es gibt noch andere Mächte. Wulckow hat es zu seinem Schaden nicht verstanden, sich beizeiten den modernen Lebensbedingungen einer großzügigen Öffentlichkeit anzupassen, die dem heutigen Kurs ihren Stempel aufdrücken.“
„Absolutismus, gemildert durch Reklamesucht“, ergänzte Buck.
Angesichts des Wulckowschen Niederganges fand Diederich jenen
Grundstückshandel, der ihn selbst so sehr benachteiligt hatte, immer anstößiger. Seine Entrüstung nahm einen solchen Umfang an, daß der Besuch, den gerade jetzt der Reichstagsabgeordnete Fischer in Netzig machte, für Diederich zur wahrhaft befreienden Gelegenheit ward. Parlamentarismus und Immunität hatten doch ihr Gutes! Denn Napoleon Fischer stellte sich umgehend im Reichstag hin und enthüllte. Er enthüllte, ohne daß ihm das geringste geschehen konnte, die Schiebungen des Regierungspräsidenten von Wulckow in Netzig, seinen Riesengewinn am Grundstück des KaiserWilhelm-Denkmals, der nach Napoleon Fischers Behauptung von der Stadt erpreßt war, und das Ehrengeschenk von angeblich fünftausend Mark, dem er den Titel „Schmiergeld“gab. Der Zeitung zufolge bemächtigte sich hier der Volksvertreter ungeheure Erregung. Freilich galt sie nicht Wulckow, sondern dem Enthüller. Wütend verlangte man Beweise und Zeugen; Diederich zitterte, in der nächsten Zeile konnte sein Name kommen. Zum Glück kam er nicht, Napoleon Fischer blieb sich der Pflicht seines Amtes bewußt. Statt dessen redete der Minister, er überließ den unerhörten, leider unter dem Schutze der Immunität begangenen Angriff auf einen Abwesenden, der sich nicht verteidigen konnte, dem Urteil des Hauses. Das Haus urteilte, indem es dem Herrn Minister Beifall klatschte. Parlamentarisch war der Fall erledigt, es erübrigte nur noch, daß auch die Presse ihren Abscheu äußerte und, soweit sie nicht einwandfrei gesinnt war, ganz leicht dabei mit dem Auge zwinkerte. Mehrere sozialdemokratische Blätter, die die Vorsicht außer acht gelassen hatten, mußten ihren verantwortlichen Redakteur den Gerichten ausliefern, so auch die Netziger „Volksstimme“. Diederich benutzte diesen Anlaß, um zwischen sich und denen, die an dem Herrn Regierungspräsidenten hatten zweifeln können, glatt das Tischtuch zu zerschneiden. Er und Guste machten Besuch bei Wulckows. „Ich weiß aus erster Quelle“, sagte er nachher, „dem Mann ist die größte Zukunft gewiß. Er war neulich auf der Jagd mit Majestät und hat einen großartigen Witz gerissen.“Acht Tage später brachte die „Woche“ein ganzseitiges Bildnis, Glatze und Bart auf der einen Hälfte, ein Bauch auf der anderen, und dazu die Unterschrift: „Regierungspräsident von Wulckow, der geistige Schöpfer des Netziger Kaiser-WilhelmDenkmals, gegen den kürzlich ein allgemein als empörend empfundener Angriff im Reichstag erfolgte, und dessen Ernennung zum Oberpräsidenten bevorsteht.“Das Bild des Generaldirektors Heßling mit Frau hatte nur eine Viertelseite eingenommen. Diederich überzeugte sich, daß der gebührende Abstand wiederhergestellt war. Die Macht blieb, auch unter den modernen Lebensbedingungen einer großzügigen Öffentlichkeit, unangreifbar wie je – was ihn trotz allem tief befriedigte. Er ward hierdurch innerlich auf das günstigste vorbereitet für seine Festrede.
Sie war entstanden in den ehrgeizigen Gesichten vom Schlaf gemiedener Nächte und bei regem Gedankenaustausch mit Wolfgang Buck und besonders mit Käthchen Zillich, die für die Größe des kommenden Ereignisses ein merkwürdig klares Verständnis zeigte. Am Schicksalstage, als Diederich, das Herz klopfend gegen die Niederschrift seiner Rede, um halb elf mit seiner Gattin beim Festplatz anfuhr, bot der Platz einen noch wenig belebten, aber um so besser geordneten Anblick. Vor allem, der Militärkordon war schon gezogen! – und gelangte man auch nur nach Gewährung aller Garantien hindurch, so lag doch eben hierin eine feierliche Erhebung angesichts des nicht privilegierten Volkes, das hinter unseren Soldaten und am Fuß einer großen schwarzen Brandmauer in der Sonne die schwitzenden Hälse reckte. Die Tribünen, links und rechts von den langen weißen Tüchern, hinter denen man Wilhelm den Großen vermuten durfte, empfingen den Schatten ihrer Zeltdächer sowie zahlreicher Fahnen. Links die Herren Offiziere waren, wie Diederich feststellte, durch ihre ins Blut übergegangene Disziplin befähigt, sich und ihre Damen ohne fremde Hilfe einzurichten; alle Strenge der polizeilichen Überwachung war nach rechts verlegt, wo das Zivil sich um die Sitze balgte. Auch Guste gab sich nicht zufrieden mit dem ihren, einzig das offizielle Festzelt gegenüber dem Denkmal schien ihr würdig, sie aufzunehmen, sie war eine offizielle Dame, Wulckow hatte es anerkannt. Diederich mußte hin mit ihr, wenn er kein Feigling war, aber natürlich ward sein tollkühner Angriff so nachdrücklich zurückgewiesen, wie er es vorausgesehen hatte. Der Form wegen und damit Guste nicht an ihm zweifelte, verwahrte er sich gegen den Ton des Polizeileutnants und wäre beinahe verhaftet worden. Sein Kronenorden vierter Klasse, seine schwarz-weiß-rote Schärpe und die Rede, die er vorzeigte, retteten ihn gerade noch, konnten aber keineswegs, weder vor der Welt noch vor ihm selbst, als vollwertiger Ersatz gelten für die Uniform. Sie, die einzige wirkliche Ehre, gebrach ihm nun einmal, und Diederich mußte auch hier wieder bemerken, daß man ohne Uniform, trotz sonstiger Erstklassigkeit, doch mit schlechtem Gewissen durchs Leben ging.
Im Zustand der Auflösung trat das Ehepaar Heßling seinen allseitig bemerkten Rückzug an, Guste bläulich geschwollen in ihren Federn, Spitzen und Brillanten, Diederich schnaufend und nach Kräften den Bauch mit der Schärpe vorgestreckt, als breitete er die Nationalfarben über seine Niederlage. So mußten sie hindurch zwischen dem Kriegerverein, der, Eichenkränze um die Zylinderhüte, unterhalb der Militärtribüne stand, an seiner Spitze Kühnchen als Landwehrleutnant, und den Ehrenjungfrauen drüben, weiß mit schwarz-weiß-roten Schärpen und befehligt von Pastor Zillich im Talar. Nun sie aber anlangten, wer saß, in der Haltung einer Königin, auf Gustes Stuhl? Man war starr: Käthchen Zillich. Hier fühlte Diederich sich denn doch bemüßigt, seinerseits ein Machtwort zu sprechen. »124. Fortsetzung folgt