Die Inflation – ein deutsches Trauma
Im Moment steigen die Preise so stark wie seit fast 30 Jahren nicht mehr. Ein Grund zur Sorge? Eher nicht. Trotzdem sollte die Regierung nicht untätig bleiben
Deutschland im November 1923. Wer noch die Muße hat, sich in ein Café zu setzen, bezahlt am besten gleich bei der Bestellung – eine Stunde später kann der Kaffee nämlich schon das Doppelte kosten. Bei einer Inflationsrate von knapp 30000 Prozent im Monat (!) stehen auf den Scheinen irrwitzige Summen wie „eine Milliarde Mark“. Weil die Wirtschaft nach dem Krieg in Trümmern liegt und die Regierung ihre Zahlungsverpflichtungen nicht mehr erfüllen kann, läuft die Notenpresse heiß. Was jemand sich über Jahre vom Mund abgespart hat, ist über Nacht nichts mehr wert – dafür ist der Staat seine Kriegsschulden über die Hyperinflation los.
Auch fast 100 Jahre danach sitzt das Trauma von damals noch tief im kollektiven Gedächtnis der Deuten, zumal der gigantischen Kapitalvernichtung nach dem Zweiten Weltkrieg ja noch eine zweite Phase folgte, in der die Mark praktisch wertlos war. Erst die Einführung der D-Mark 1948 sorgte wieder für stabile Verhältnisse – geblieben aber ist eine Art Urangst, sein Erspartes durch eine Inflation wieder zu verlieren. Wiederholt sich Geschichte nicht irgendwann doch?
Dass die Preise gerade so stark steigen wie seit fast 30 Jahren nicht mehr, ist noch kein Beleg für diese These. Die aktuelle Inflationsrate von 3,8 Prozent lässt sich vor allem mit Corona erklären: mit dem vielen frischen Geld, das sich Regierungen für den Kampf gegen das Virus geliehen haben. Mit der Mehrwertsteuer, deren vorübergehende Reduzierung Güter und Dienstleistungen in Deutschland erst verbilligt und dann wieder verteuert hat. Mit dem Schließen wichtiger Minen und dem Mangel an Kupfer und anderen Rohstoffen, der jetzt die Preise in die Höhe treibt. Mit den höheren Preisen, die Gastronomen oder Friseure verlangen, um ihre Verluste aus der Pandemie halbwegs zu kompensieren. Oder auch mit der Blockade des Suezkanals, die elektronische Bauteile aus Asien zu knappen (und teuren) Gütern gemacht hat.
Sobald Angebot und Nachfrage sich in den nächsten Monaten wieder halbwegs austarieren, wird das auch Druck von den Preisen nehmen. Selbst eine Inflationsrate von weit über fünf Prozent wie in den Vereinigten Staaten ist aus gesamtwirtschaftlicher Sicht noch kein allzu großes Risiko. Die Notenbanken haben Instrumente genug, um bei Bedarf einzugreifen – sei es über das Erhöhen der Zinsen, sei es über das sanfte Abbremsen ihrer Anleihenkäufe, mit denen sie Staaten zu billigem Geld verhelfen.
Das allerdings bedeutet nicht, dass eine Regierung wie die deutsche sich entspannt zurücklehnen und auf die alles regelnde Kraft der Europäischen Zentralbank vertrauen kann. Zumindest auf zwei der größten Preistreiber hat sie mehr Einfluss als jede Notenbank – die Energie- und die Wohnkosten. Tanken und Heizen, zum Beispiel, sind auch wegen der im Januar in Deutschland eingeführten Kohlendioxidabgabe teurer geworden. Und solange es der Politik nicht gelingt, den Mangel an Wohnraum zu lindern, werden in weiten Teilen des Landes auch die Mieten weiter steigen. Eine Reduzierung der Stromsteuer oder zusätzliche Investitionen in den sozialen Wohnungsbau würden also nicht nur Bürgerinnen und Bürger entlasten, sondern zumindest mittelfristig auch die Inflation in Schach halten.
Für die nächsten Tarifrunden allerdings verheißen die aktuellen Zahlen nichts Gutes. Zum ersten Mal seit zehn Jahren steigen die Preise in Deutschland wieder schneller als die Löhne – und damit werden die Gewerkschaften auch hohe Lohnforderungen begründen. Erbitterte Arbeitskämpfe am Beginn eines Aufschwungs aber sind ein ungleich größeres Konjunkturrisiko als 3,8 Prozent Inflation.
Es droht eine harte Tarifrunde