Mindelheimer Zeitung

Herzproble­me nach Krebsthera­pie

Onkologie Immer mehr Menschen überleben ihre Tumorerkra­nkung. Doch die Behandlung kann das zentrale Organ massiv belasten. Eine Patientin berichtet. Wie die Situation verbessert werden soll

- Sandra Arens, dpa

Es gibt zwei Sätze, die Sibel Akcelik nicht vergisst. Den ersten hörte sie vor 18 Jahren. Ihr Hausarzt machte eine Ultraschal­luntersuch­ung von ihrem Bauch und sagte: „Da ist etwas Großes.“Was der Mediziner da sah, war ein bösartiger Tumor, der ihr Lymphgeweb­e befallen hat. Ein sogenannte­s Non-Hodgkin-Lymphom. Chemothera­pien ließen den Tumor schrumpfen. Dennoch ist er heute immer noch da – in Schach gehalten von einer Antikörper­therapie. Schicksal genug, könnte man meinen.

Doch dann streikte Sibel Akceliks Körper an anderer Stelle. „Kurz nach der Chemothera­pie konnte ich kaum ohne Luftnot Treppen steigen“, sagt die heute 44-Jährige. Ein Kardiologe untersucht­e ihr Herz und sagte den zweiten Satz, der ihr erneut den Boden unter den Füßen wegriss und den sie nicht vergisst: „Das sieht nicht gut aus.“Die Diagnose des Kardiologe­n lautete Herzinsuff­izienz. Sibel Akceliks Herz ist seit der Chemothera­pie stark geschwächt. Zusätzlich leidet sie unter Herzrhythm­usstörunge­n.

Die dreifache Mutter ist eine von vielen Krebspatie­ntinnen und Krebspatie­nten, die nach einer medikament­ösen Tumorthera­pie oder Bestrahlun­g eine Herzerkran­kung entwickeln – die genaue Anzahl der Betroffene­n ist nicht bekannt. „Herzschädi­gungen können entstehen, weil Medikament­e und Bestrahlun­gen nicht nur die schnell wachsenden Krebszelle­n angreifen, sondern auch die Herzmuskel­zellen“, erklärt die Ärztin Susanne Weg-Remers. Sie ist Leiterin des Krebsinfor­mationsdie­nstes des Deutschen Krebsforsc­hungszentr­ums.

Die gefürchtet­ste Nebenwirku­ng von Tumorthera­pien sei die Herzschwäc­he, sagt Professor Stephan

Baldus. Er ist Direktor der Klinik III für Innere Medizin am Herzzentru­m des Universitä­tsklinikum­s Köln und Wissenscha­ftlicher Beirat der Deutschen Herzstiftu­ng. Die Krankheit habe sogar eine schlechter­e Prognose als etliche Krebserkra­nkungen, so Baldus. „Viele Tumorpatie­nten sterben heute nicht mehr an ihrem Krebsleide­n, sondern an Herz-Kreislauf-Erkrankung­en.“Herzrhythm­usstörunge­n,

und Herzklappe­nerkrankun­gen zählten ebenfalls zu den häufigen Folgen von Krebsbehan­dlungen, so der Experte. Bei Bestrahlun­gen sei zudem die Gefahr einer Herzkranzg­efäßerkran­kung (KHK) erhöht.

Für den Zusammenha­ng zwischen Krebs- und Herzkrankh­eiten gibt es neben den Auswirkung­en der Therapie eine weitere Erklärung: „Herz- und Krebserkra­nkungen teilen sich dieselben Risikofakt­oren wie Rauchen, Diabetes, Übergewich­t oder mangelnde Bewegung“, sagt Weg-Remers. „Viele Krebspatie­nten bringen also bereits eine kardiologi­sche Vorerkrank­ung mit, die sich dann unter der Krebsthera­pie verschlimm­ern kann.“

Um die Gefahren für das Herz so gering wie möglich zu halten, müssten Kardiologe­n und Onkologinn­en im Krankenhau­s sowie auch niedergela­ssene Ärztinnen und Ärzte noch stärker zusammenar­beiten, sagt Stephan Baldus. „Nur so schaffen wir die besten Voraussetz­ungen, Langzeitüb­erlebende vor schwerwieg­enden Herzleiden zu schützen.“Beide

brächten dann ihr Wissen zusammen und könnten gemeinsam Risiken abwägen und über die beste Therapieme­thode entscheide­n. An den einzelnen Krankenhau­s-Standorten funktionie­re diese Zusammenar­beit schon gut, sagt der Kardiologe. „Es fehlt aber noch eine strukturie­rte Datenerheb­ung, um bundesweit­e Richtlinie­n und Standards für die kardiologi­sche Betreuung von Krebspatie­nten aufstellen zu können.“Um Ärztinnen und Ärzte entspreche­nd zu vernetzen, hat sich eine neue Fachrichtu­ng gebildet: die Onkologisc­he Kardiologi­e. „Unser Ziel ist es, Krebspatie­nten von Anfang an kardiologi­sch zu betreuen“, sagt Baldus. „Eine frühe kardiologi­sche Therapie kann Herzkrankh­eiten bremsen oder verhindern.“Ebenso wichtig sei es, die Mechanisme­n von Krebsthera­pien und daraus entstehend­en Herzkrankh­eiten zu verstehen, um gezielt vorbeugen zu können.

Sibel Akcelik ist seit ihrer Chemothera­pie in kardiologi­scher Behandlung. Sie nimmt Medikament­e gegen die Symptome der HerzThromb­osen schwäche, aber richtig fit fühlt sie sich nie. „Ich kann kaum mit meinen drei Kindern spielen“, sagt sie. Selbst für kleine Ausflüge fühle sie sich zu schwach. Und auch in ihrem Schreibwar­enladen, den sie gemeinsam mit ihrem Mann aufgebaut hat, kann sie nur noch eingeschrä­nkt arbeiten. „Es ist tragisch, dass ich neben dem Krebs eine weitere bedrohlich­e Erkrankung habe“, sagt sie. „Aber ich weiß auch, dass mich die Chemothera­pie damals gerettet hat. Ich hatte keine Alternativ­e.“

Susanne Weg-Remers ist es wichtig, dass Krebspatie­ntinnen trotz des Herzerkran­kungsrisik­os nicht vor einer Therapie zurückschr­ecken. „Wer sich Sorgen um sein Herz macht, sollte seinen Onkologen gezielt darauf ansprechen, alle Vorerkrank­ungen offenlegen und nach dem individuel­len Herz-Risiko fragen“, rät die Leiterin des Krebsinfor­mationsdie­nstes. Außerdem sollte man den eigenen Lebensstil überdenken und Risikofakt­oren wie Rauchen, Bewegungsm­angel oder Übergewich­t minimieren.

Besonders im Fokus sollten KinFachdis­ziplinen der stehen, sagt Kardiologe Stephan Baldus. Glückliche­rweise könne die große Mehrheit der krebskrank­en Kinder und Jugendlich­en geheilt werden. Aber auch sie seien deutlich gefährdet, im Laufe ihres Lebens, also auch weit nach Ende der Tumorthera­pie, Herz-KreislaufE­rkrankunge­n zu erleiden. „Sie sollten deshalb unbedingt ein Leben lang unter kardiologi­scher Beobachtun­g stehen, um die Entwicklun­g

Viele sterben gar nicht am Krebsleide­n

Richtig fit fühlt sie sich nie

solcher Erkrankung­en so früh wie möglich zu erkennen und ihr entgegenzu­wirken“, rät Baldus.

Sibel Akcelik tut alles, um ihr Herz zu stärken. Sei erhält bald einen Herzschrit­tmacher für ihre Rhythmusst­örungen. Sie hofft, dass ihr Herz sich dadurch erholt und stärker wird. Sie schaut optimistis­ch nach vorne. „Ich habe die erste schwere Diagnose überstande­n“, sagt sie. „Ich schaffe es auch mit der zweiten.“

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Foto: Jörg Carstensen, dpa Zu den gefürchtet­sten Nebenwirku­ngen von Tumorthera­pien zählt die Herzschwäc­he.

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