Mindelheimer Zeitung

Zweifelhaf­te Freude

100 Meter Die schnellste Frau der Welt läuft an eine Zeit heran, die ungute Erinnerung­en weckt. Bei den Männern wiederum siegt ein Italiener mit Europareko­rd – auch das passiert nicht jeden Tag

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Tokio Ungläubig schlug der Italiener Lamont Marcell Jacobs die Hände über dem Kopf zusammen – dann sprang ihm auch noch sein Landsmann Gianmarco Tamberi in die Arme. Nach den Triumph-Jahren von Legende Usain Bolt hat der gebürtige US-Amerikaner Jacobs sensatione­ll Gold bei den Olympische­n Spielen in Tokio über 100 Meter gewonnen. Der 26-Jährige verwies mit einem Europareko­rd über 9,80 Sekunden am Sonntag den US-Amerikaner Fred Kerley und Andre de Grasse aus Kanada auf die Plätze zwei und drei. Jacobs ist der erste europäisch­e Olympiasie­ger im Sprint seit Linford Christie 1992.

„Es war mein Traum als Kind“, sagte Jacobs und meinte mit Blick auf die Ehrung: „Ich kann es kaum erwarten, die Hymne zu hören.“Mit einer Flagge in den Nationalfa­rben um die Schultern drehte Jacobs nach seinem irren Sprint euphorisie­rt eine Ehrenrunde an der Seite von Kerley und de Grasse. Nur Minuten zuvor hatte sein Landsmann Tamberi – zusammen mit Mutaz Essa Barshim aus Katar – Gold im Hochsprung gewonnen.

Bolt war über lange Zeit der Poster-Boy der Olympische­n Spiele gewesen. Der Showman aus Jamaika hatte 2008 in Peking, 2012 in London und 2016 in Rio jeweils Gold über die 100 und 200 Meter gewonnen. Nach seinem Karriereen­de 2017 ging es nun um die Nachfolge. Und erstmals seit dem Jahr 2000 stand sogar gar kein Jamaikaner im Olympia-Finale über die 100 Meter.

Überrasche­nd als Topmann der Halbfinals hatte sich der Chinese Su Bingtian vor dem zeitgleich­en Ronnie Baker aus den USA (beide 9,83 Sekunden) erwiesen. Su Bingtian stellte zugleich einen asiatische­n Rekord auf. Jacobs war da in 9,84 Sekunden schon Europareko­rd gelaufen. Dann kam das Finale – Zeit zum Luftanhalt­en! Zunächst wurde aber der Brite Zharnel Hughes wegen eines Fehlstarts disqualifi­ziert. Dann legte der Italiener den Auftritt seines Lebens hin. Und auch wenn Überraschu­ngs-Mann Jacobs im Sprintfina­le nicht einzuholen war, an Entertaine­r und Ausnahmesp­ortler Bolt reicht er natürlich nicht heran. „Niemand wird auf Anhieb in Bolts Fußstapfen treten“, hatte Weltverban­dspräsiden­t Sebastian Coe schon zuvor geäußert.

Bolt wiederum schwärmte nach den 100 Meter der Frauen von einem „süßen Triple“– doch eigentlich herrschte nach dem Medaillenr­ausch von Jamaikas Super-Sprinterin­nen Eiszeit. Ein flüchtiger Klaps der geschlagen­en Shelly-Ann Fraser-Pryce auf die Schulter von Olympiasie­gerin Elaine ThompsonHe­rah. Und dann wieder auf Abstand – statt jubelnd mit der Dritten Shericka Jackson auf eine gemeinsame Ehrenrunde. Goldgewinn­erin Thompson-Herah fehlten in Tokio bei ihrem zweiten Olympia-Triumph über 100 Meter nach Rio nur elf Hundertste­l zum Jahrhunder­tWeltrekor­d von Florence GriffithJo­yner. Die Amerikaner­in war vor 33 Jahren in 10,49 Sekunden eine Fabelzeit scheinbar für die Ewigkeit gelaufen. Griffith-Joyner, die 1988 in Seoul in 10,62 Sekunden siegte und stets von Dopinggerü­chten umgeben war, starb 1998 im Alter von nur 38 Jahren. So bedeuteten die 10,61 Sekunden von ThompsonHe­rah am Samstag olympische­r Rekord. „Ich habe so laut geschrien, weil ich so glücklich war. Ich wusste, dass die Zeit drin ist, aber ich hatte meine Höhen und Tiefen mit Verletzung­en. Ich habe immer daran geglaubt. Es ist einfach toll!“, sagte sie völlig aufgelöst. Schon 2016 in Rio de Janeiro hatte ThompsonHe­rah Gold nicht nur über 100, sondern auch über 200 Meter geholt. Hoffentlic­h könne sie „eines Tages den Weltrekord brechen“, meinte sie. „Ich bin erst 29. Ich bin nicht 30. Ich bin nicht 40.“Fraser-Pryce durfte diese Worte durchaus an sich gerichtet sehen. Sie verpasste als Zweite in 10,74 Sekunden ihren dritten Olympiasie­g über 100 Meter nach 2008 und 2012 – und bangt plötzlich um ihren Legenden-Status in der Heimat neben Bolt. Den Erfolg für Jamaika komplett machte Shericka Jackson als Dritte in 10,76 Sekunden.

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Foto: Witters Elaine Thompson‰Herah war die schnellste Frau des jamaikanis­chen Trios. Nicht mal die legendäre Florence Griffith‰Joyner ist bei Olympische­n Spielen schneller gelaufen.
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Foto: David Goldmann, dpa Nach Eurovision Songcontes­t und Fußball‰Europameis­terschaft freuen sich die Italie‰ ner über 100‰Meter‰Olympiasie­ger Lamont Marcell Jacobs.

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