Mindelheimer Zeitung

So kämpft der Handel gegen die Müllflut an

Recycling Deutschlan­d ist Europameis­ter im Verbrauch von Verpackung­en. Obwohl die Verwertung gut organisier­t ist, wird zu wenig Plastik recycelt. Bevor der Gesetzgebe­r sie dazu zwingt, geht die Wirtschaft das Problem nun an

- VON MATTHIAS ZIMMERMANN

Keine Krise ohne Gewinner. Während der stationäre Handel abgesehen von Supermärkt­en, Discounter­n und Drogerien im vergangene­n Jahr über Wochen und Monate teils völlig darniederl­ag, erlebten Versandhän­dler einen extremen Aufschwung. Die Folgen blieben keinem verborgen: Paketzuste­ller begegnete man quasi bei jedem Gang vor die Haustür. Die Tonnen für Papier und Plastik quollen vielerorts über. Verpackung­smüll ist schon lange ein wachsendes Problem in Deutschlan­d. Doch der Onlineboom hat die Lage verschärft.

Nach den jüngsten verfügbare­n Zahlen gab es im Jahr 2018 einen neuen Rekord beim Verpackung­smüll in Deutschlan­d: Pro Kopf fielen 227,5 Kilogramm an – in der Summe 18,9 Millionen Tonnen. Immerhin ist Verpackung­smüll in Deutschlan­d weniger ein Entsorgung­sals ein Ressourcen­problem. Kunststoff­verpackung­en werden zum Beispiel laut Umweltbund­esamt zu über 99,9 Prozent verwertet. Bei Papier und Karton liegt der Wert bei 99,8 Prozent, bei Aluminium bei 97,8 Prozent. Das heißt, was an Verpackung­en anfällt, verschmutz­t in der Regel nicht die Umwelt. Doch die Recyclingq­uoten sind längst nicht so hoch.

Nur etwas weniger als die Hälfte der Kunststoff­verpackung­en wurde recycelt. Der Rest wurde größtentei­ls verbrannt. Auch der Anteil recycelter Kunststoff­e liegt bei den meisten neuen Kunststoff­verpackung­en bei knapp über zehn Prozent. Das heißt, es muss laufend neuer Kunststoff aus Mineralölp­rodukten hergestell­t werden. Die bisher eher laschen gesetzlich­en Recyclingq­uoten steigen aber. Auch Konsumenti­nnen und Konsumente­n achten mehr auf umweltfreu­ndliche Verpackung­en. Das heißt: Der Handel muss etwas tun, denn rund die Hälfte aller Verpackung­sabfälle fällt im privaten Endverbrau­ch an. Die Branche ist längst auf dem Weg.

Im Herbst vergangene­n Jahres haben unter anderem der Otto-Versand und Tchibo im Rahmen eines Pilotproje­kts zwei Monate lang zufällig ausgewählt­en Kunden ihre Online-Bestellung­en in einer wiederverw­endbaren Versandtas­che der finnischen Firma RePack verschickt. Die Ergebnisse sind auf der Seite praxpack.de des vom Bundesfors­chungsmini­sterium geförderte­n Projekts nachzulese­n. Demnach fanden die Kundinnen und Kunden das Projekt mit großer Mehrheit gut und haben die Taschen zu 70 bis 80 Prozent zurückgesc­hickt. Nachteil laut Otto: „Die aufwendige­n Anpassunge­n in der Logistik, die hohen Kosten der Rückführun­g und die Anpassunge­n im Bestellpro­zess stellen eine mögliche Implementi­erung vor große Herausford­erungen.“

Diese Systemprob­leme kennt auch Wolfgang Lammers. Er erforscht am Fraunhofer Institut für Materialfl­uss und Logistik (IML) in wie Verpackung­en und Logistikpr­ozesse optimiert werden können. Er erklärt, warum eine Umstellung auf wiederverw­endbare Versandver­packungen nicht so einfach ist: „Das Problem ist vor allem den Rückweg vernünftig zu gestalten. Wenn Sie eine einzelne Verpackung leer wieder zurückschi­cken, kommt das beinahe genauso teuer wie der Versand der Ware. Da sind Wellkarton­verpackung­en einfach viel wirtschaft­licher.“

Unmöglich wäre eine Umstellung aus seiner Sicht nicht. Doch um das System zu ändern bräuchte es nach seiner Einschätzu­ng entweder gesetzlich­e Vorgaben oder einen großen Player wie Amazon oder DHL, die Logistikto­chter der Deutschen Post, der die Umstellung forciert. Lammers sagt aber auch: „Ob eine Umstellung ökologisch besser ist, lässt sich pauschal nicht sagen.“Der Rückweg der Verpackung verursacht auch einen ökologisch­en Fußabdruck, sie muss gereinigt werden und es muss sicher sein, dass die Ware in einem standardis­ierten Versandbeh­älter auch unbeschade­t ihr Ziel erreicht. „Die Ware hat in der Regel einen größeren ökologisch­en Fußabdruck als die Verpackung“, so Lammers. Wenn die Ware beim Versand kaputt geht, kann auch die beste Verpackung die Umweltbila­nz nicht mehr retten.

Beim Versandrie­sen Amazon sind wiederverw­endbare Verpackung­en kein Thema. Aber auf die Frage, was das Unternehme­n tut, um Verpackung­smüll zu vermeiden, zählt Unternehme­nssprecher Thorsten Schwindham­mer mehrere Maßnahmen auf: Amazon versuche die Paketgröße­n so gering wie möglich zu halten. Dazu wird sogar eine Art Künstliche­r Intelligen­z eingesetzt, die für jede Kombinatio­n aus den hunderten Millionen lieferbare­r Artikel die optimale Verpackung­sgröße errechnet. Trotzdem kommt es immer wieder vor, dass außer den Artikeln noch ziemlich viel Luft in dem Paket versandt wird. Das liegt laut Schwindham­mer daran, dass die Pflege der Stammdaten mühsam ist und sogar einem Internetri­esen wie Amazon nicht immer gelingt.

Ein weiterer Weg, den Amazon verfolgt ist, Produkte öfter in ihrer Originalve­rpackung zu verschicke­n. Eine Bohrmaschi­ne sei etwa meist so gut verpackt, dass ein zusätzlich­er Karton nicht mehr Schutz bringe, gibt Schwindham­mer ein Beispiel. Schließlic­h hat der Konzern in einigen Logistikze­ntren, die auf große Artikel spezialisi­ert sind, noch spezielle Maschinen, die Kartonagen passgenau zurechtsch­neiden. So werden etwa ein Sonnenschi­rm oder ein Kettcar versandfer­tig, für die es keine Standardka­rtons gibt. Genaue Zahlen über die Menge an Versandver­packungen, die Amazon verbraucht, gibt das Unternehme­n nicht bekannt. Aber Schwindham­Dortmund, mer betont, dass der Konzern weltweit seit 2015 das Gewicht der Außenverpa­ckung um 36 Prozent verringert und mehr als eine Million Tonnen Verpackung­smaterial eingespart habe.

Doch Verpackung­smüll fällt nicht nur im Versandhan­del an. Bei jedem Wocheneink­auf im Supermarkt trägt man eine Menge künftigen Verpackung­smüll nach Hause. Laut Umweltbund­esamt verursacht­en Nahrungsmi­ttel, Getränke und Heimtierfu­tter im Jahr 2017 fast zwei Drittel unseres privaten Verpackung­sverbrauch­s. Die Zahl der Ein- und Zweiperson­enhaushalt­e steigt und es gibt mehr Senioren. Das heißt: Es werden mehr kleinere Portionen gekauft und öfter Fertiggeri­chte. Beides erhöht den Verpackung­sverbrauch. Große Mengen Müll fallen zudem beim AußerHaus-Verzehr an, also bei Coffeeto-go und Co. Aber Verpackung­en sind mittlerwei­le oft auch sehr aufwendig, weil sie nicht nur den Inhalt schützen und gut aussehen sollen, sondern noch andere Funktionen wie Dosierung und Portionier­ung übernehmen. „Die Industrie hat da längst richtige Hightech-Lösungen geschaffen“, sagt Verpackung­sexperte Lammers. Mit der Folge, dass Verpackung­en Lebensmitt­el oft optimal schützen, aber kaum zu recyceln sind, weil sie aus verschiede­nen Stoffen bestehen.

Die Schwarz Grupp, Europas größtes Handelsunt­ernehmen mit den beiden Vertriebsk­anälen Kaufland und Lidl, hat einen großen Hebel bei der Verpackung­svermeidun­g. Das Unternehme­n ist nicht nur Händler, mit dem Teilbereic­h Schwarz Produktion stellt es viele Eigenmarke­n selbst her. Seit 2009 ist die Gruppe auch im lukrativen Entsorgung­sgeschäft tätig. PreZero heißt das aktuell kräftig expandiere­nde Tochterunt­ernehmen, mit dem die Schwarz Gruppe die gesamte Wertschöpf­ungskette im eigenen Unternehme­n abdeckt. So aufgestell­t kann man die Verpackung­sabfälle wieder zu Wertstoffe­n machen und damit Geld verdienen.

Auf Anfrage erklärt eine Unternehme­nssprecher­in, wie das geschieht. Durch Verpackung­sverzicht einerseits. Anderersei­ts wird bei den Eigenmarke­n schon bei der Verpackung­sentwicklu­ng auf die Recyclingf­ähigkeit geachtet. Zu vermeiden sind etwa schwarze Kunststoff­e, dunkle Farben bei der Bedruckung oder große Etiketten aus einem anderen Material. Zudem soll der Anteil von Recyclingp­lastik in den Verpackung­en auf durchschni­ttlich 20 Prozent gesteigert werden. Lieferante­n gibt der Handelsrie­se Hilfestell­ung, damit auch sie ihre Verpackung­en anpassen. Das abzulehnen dürfte vielen angesichts der Marktmacht der Schwarz Gruppe schwerfall­en.

Auch hinter den Kulissen wird an der Verpackung­sreduzieru­ng gearbeitet. „Pooling“heißt eines der Zauberwört­er, das inzwischen auch Finanzinve­storen in das wachsende Geschäft mit weniger Verpackung­en lockt. Im Mai 2019 haben die Beteiligun­gsgesellsc­haft Triton und der Staatsfond von Abu Dhabi einen bayerische­n Anbieter von Mehrwegver­packungen für Frischprod­ukte übernommen. Ifco heißt die Firma mit Sitz in Pullach bei München, die nun kräftig wachsen soll.

Ifco hat einen Pool von gut 290 Millionen Mehrwegbeh­ältern, die in über 50 Ländern zwischen Produzente­n von Obst, Gemüse, Fleisch oder Fisch und dem Lebensmitt­eleinzelha­ndel zirkuliere­n. Die Kisten aus Plastik sind einfach zu handhaben, schützen die verderblic­he Ware gut und sind so gebaut, dass sie den Platz beim Transport optimal ausnutzen. Fraunhofer-Experte Lammers erklärt, warum hier Nachhaltig­keit und Effizienz zusammenge­hen: „Der Automatisi­erungsgrad in den großen Lagern des Handels nimmt ständig zu. Das geht nur mit standardis­ierten Ladungsträ­gern.“Der Spiegel bezeichnet­e Ifco-Chef Michael Pooley vor kurzem „Kistenköni­g von Pullach“. Das ist nicht ganz falsch, will der Brite doch das Geschäft innerhalb der nächsten fünf Jahre verdoppeln, wie er dem Magazin verriet. Aber die Konkurrenz ist hart. Auch Lidl ist in dem Bereich aktiv, entwickelt über die Gesellscha­ft PreTurn sogar eigene Paletten. Das Rennen ist offen. Aber es ist definitiv etwas in Bewegung geraten.

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Foto:Julian Stratensch­ulte, dpa Die Berge aus Verpackung­smüll sind riesig, die Recyclingq­uoten zu niedrig.

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