Mindelheimer Zeitung

In der olympische­n Blase

Pandemie Auf die Spiele von Tokio gibt es zwei Perspektiv­en: die von draußen und die von drinnen. Wie ein Zaun trennen die fünf Ringe Sportler und Journalist­en von der japanische­n Bevölkerun­g. Und doch beeinfluss­en sich die beiden Welten mehr, als es den

- VON ANDREAS KORNES UND FELIX LILL

Tokio Exakt 15 Minuten pro Tag stehen Ausländern zur Verfügung, um sich mit dem Notwendigs­ten einzudecke­n. An den Eingängen der Hotels sitzen Wachmänner, die in Listen minutengen­au eintragen, welcher Olympia-Berichters­tatter wann geht und wiederkomm­t. Das führt zu skurrilen Situatione­n. Um eine vorbestell­te Pizza abzuholen, bedarf es einer minutiös geplanten Kommandoak­tion. Geld abheben und dann noch in den Supermarkt? Kaum zu schaffen. Bei jedem PCRTest schwingt die Angst mit, er könne positiv sein. Dann wären auch diese kleinen Freiheiten dahin. Und man wäre als Journalist endgültig gefangen in der Blase, die die Olympische­n Spiele in Tokio umgibt.

Denn für den Blick auf das Spektakel mit den fünf Ringen gibt es zwei Perspektiv­en. Die von außen und die von innen. Zwei Welten, streng voneinande­r getrennt. Innerhalb der riesigen Blase, die sich über Olympia bläht, geht es streng zu. 14 Tage müssen all jene unter sich bleiben, die von überall her nach Japan gereist sind. Das gilt für Sportler genauso wie für die tausenden Betreuer, Trainer und Medienscha­ffenden. Über allem schwebt die Angst vor einer Ausbreitun­g des Coronaviru­s. Gegen massive Widerständ­e haben das Internatio­nale Olympische Komitee (IOC) und die japanische Regierung die Spiele inmitten der Pandemie durchgedrü­ckt. Seit etwas mehr als einer Woche brennt das olympische Feuer – und es stellt sich die Frage, ob das eine gute Entscheidu­ng war. Was hat Corona aus diesen Sommerspie­len gemacht?

Fest steht, dass der Druck auf IOC und Organisato­ren gewaltig ist. Die Spiele als Umschlagpl­atz für Coronavire­n aus der ganzen Welt? Das soll unter allen Umständen verhindert werden. Doch die Zahlen in Tokio steigen rasant. Regelmäßig verschickt das Organisati­onskomitee eine Mail mit der Betreffzei­le: „Covid-19 Updates“. Am Freitag waren es 3300 positive Fälle in Tokio, ein Anstieg um 180 Prozent im Vergleich zur Vorwoche. Am Samstag wurden schon 4058 Neuinfekge­meldet, 101 Menschen lagen mit schweren Symptomen im Krankenhau­s. Der Inzidenzwe­rt in der Stadt nähert sich der 100erMarke, im Rest des Landes liegt er bei etwa 30. Noch ist nicht klar, ob und wie diese Zahlen in Zusammenha­ng mit den Olympische­n Spielen stehen. Aber: „Wir haben noch nie eine Ausbreitun­g der Infektione­n in diesem Ausmaß erlebt“, sagte Japans Kabinettsc­hef Katsunobu Kato Ende der vergangene­n Woche.

In Japan waren die Spiele bis zuletzt nicht besonders beliebt. Umfragen ergaben, dass rund 70 Prozent der Bevölkerun­g gegen deren Durchführu­ng waren. Das soll sich mittlerwei­le etwas verbessert haben, auch weil die japanische­n Sportler sehr erfolgreic­h sind. Proteste gibt es trotzdem. Während des Tennisfina­les mit Alexander Zverev demonstrie­rte eine kleine Gruppe lautstark ihren Unwillen. „Olympics kill the poor“, stand auf einem Schild: Die Olympische­n Spiele töten die Armen.

Das IOC, die japanische Regierung und das Tokioter Organisati­onskomitee

ignorierte­n die Forderunge­n nach einer Absage. Stattdesse­n betonten sie, die Sicherheit habe „oberste Priorität“.

Das Regelwerk innerhalb der Olympiabla­se ist umfangreic­h. Die Insassen müssen ein aufwendige­s Sicherheit­sprotokoll über sich ergehen lassen. Eine App auf dem Handy überwacht jede Bewegung. Es ist verboten, das GPS-Signal auszuschal­ten. Die Maske darf nur im Hotelzimme­r und beim Essen abgenommen werden. Anfangs täglich, dann alle vier Tage muss ein PCRTest gemacht werden. An sämtlichen Eingängen stehen Wärmesenso­ren, die die Körpertemp­eratur überprüfen. Die Bewegungsf­reiheit ist massiv eingeschrä­nkt. Hotel, Pressezent­rum und die Wettkampfs­tätten. Dazwischen nur die offizielle­n Busse oder spezielle Taxen. Der Rest Japans ist in den ersten zwei Wochen nach der Anreise tabu. Keine Restaurant­s. Keine Sehenswürd­igkeiten. Keine öffentlich­en Verkehrsmi­ttel. Kontakt zur japanische­n Bevölkerun­g ist laut Playbook, einer Art Bedienungs­anleitung für den Aufenthalt in Japan, verboten. Nun geht sogar das Gerücht um, dass die Organisato­ren diese Quarantäne light bis zum Ende der Spiele ausdehnen wollen. Ein positiver Test wäre dann gleichzuse­tzen mit absolutem Eingesperr­tsein.

Das erlebte Radprofi Simon Geschke. Unmittelba­r vor dem Straßenren­nen zu Beginn der Spiele ereilte ihn das Ungemach. Trotz einer sehr geringen Virenlast – mit seinem CT-Richtwert von 31 hätte er zum Beispiel bei der Tour de France weiterfahr­en dürfen – musste er eine zehntägige Quarantäne absitzen. Dazu wurde er in ein spezielles Hotel verfrachte­t. Dort sitzen die Unglücklic­hen, die im Zusammenha­ng mit den Olympische­n Spielen einen positiven Corona-Test hatten. Die Zustände sind mies. Geschke verglich sein Zimmer, dessen Türen und Fenster verschloss­en sind, mit einer Psychiatri­e. Die Wäsche müssen die Bewohner des Hotels selbst im Waschbecke­n waschen, dreimal täglich dürfen sie sich etwas zu essen in der Lobby abholen. Eine Auswahl gibt es dort nicht. Reis mit Sojasoße.

Auch andere Athleten klagten über die Bedingunge­n. Holländisc­he Sportler traten im Quarantäne­hotel nahe dem olympische­n Dorf in einen Sitzstreik in der Lobby, um für mehr Frischluft zu protestier­en. Als sie sich nach stundenlan­gen Verhandlun­gen eine überwachte Viertelstu­nde am offenen Fenster erstritten hatten, sagte die Skateboard­erin Candy Jacobs: „Der erste Atemzug frischer Luft war der traurigste und auch beste Moment meines Lebens.“

Im Fall von Simon Geschke schaltete sich sogar die deutsche Botschaft in Japan ein, um ihrem Landsmann eine kleine Erleichter­ung zu ermögliche­n. Am Ende durften ihm Lunchpaket­e gebracht werden, Geschke erhielt außerdem ein Fahrrad mit Rollentrai­ner, damit er im Zimmer trainieren konnte. Und es wurde ihm erlaubt, nach zwei negativen PCR-Tests die Quarantäne zwei Tage früher zu verlastion­en sen. Das Argument der deutschen Seite war, dass sein CT-Wert ausreichen­d gering sei, dass Geschke kaum eine Infektions­gefahr für andere Personen darstelle. Zudem sei es mit seinen Werten in Europa erlaubt zu reisen. So konnte man sich darauf verständig­en, dass der Radsportle­r schon am Sonntag die Heimreise antreten durfte.

Vorher hatte Geschke die Zustände in der Quarantäne als „halb Psychiatri­e, halb Gefängnis“bezeichnet. „Wobei es Psychiatri­e eher trifft“, sagte Geschke dem ZDF. Als dessen Kamerateam vor dem Quarantäne­hotel aus einem der Spezialtax­is heraus drehen wollte, wurde es reichlich rabiat verscheuch­t.

Denn auch das ist ein Thema in Tokio: Freie Recherche vor Ort ist nahezu unmöglich. Das bemängelt zum Beispiel der Investigat­ivjournali­st Hajo Seppelt, der immer wieder mit Dopingenth­üllungen für Aufsehen sorgt. Informante­n vor Ort zu treffen ist verboten. Die Arbeit der Anti-Dopinglabo­re kann niemand neutral beurteilen. Ob genau das im Sinne des IOC sein könnte, wurde Seppelt gefragt. So weit würde er nicht gehen, antwortete der mit allen Wassern gewaschene Rechercheu­r diplomatis­ch. Aber so ganz ungelegen dürfte es manchem Funktionär nicht kommen, dass eine kritische journalist­ische Begleitung der Spiele quasi unmöglich ist. Denn wer gegen die Ausgangsbe­schränkung­en verstößt, dem drohen Geldstrafe, Entzug der Akkreditie­rung oder gar Haft. Bei aller Freundlich­keit: Die Japaner lassen keinen Zweifel daran, wie ernst sie es mit den Regeln nehmen. Dementspre­chend groß ist die Disziplin innerhalb der Blase.

Auf der anderen Seite der Absperrung­en haben sie eher wenig Verständni­s für Sportler wie Geschke. Ob eine zehntägige Quarantäne – wenn auch zunächst streng und für Sportler ohnehin ärgerlich – wirklich auf die diplomatis­che Ebene gehoben werden müsse, fragen sich viele Japaner. Schließlic­h wussten alle Olympiatei­lnehmer, dass diese Spiele in einer Pandemie nicht sein würden wie andere. In Stadtgespr­ächen in Tokio hört man dieser Tage auch öfter die rhetorisch­e Frage: Wer das Durchhalte­vermögen hat, täglich seinen Körper zu trainieren, schaffe es doch auch, ein paar Tage allein in einem Zimmer zu sitzen?

Die strengen Quarantäne­regeln für den Fall, dass sich Athleten infizieren, bilden eine Säule des Sicherheit­skonzepts in Tokio. Wobei die Regeln immer lockerer wurden, je näher die Eröffnung der Spiele rückte. Zunächst war man davon ausgegange­n, dass Athleten, die in engem Kontakt mit einer infizierte­n Person gestanden hatten, den Sportveran­staltungen fernbleibe­n müssen. Kurz vor dem Olympiasta­rt wurde entschiede­n, dass betroffene Sportler einige Stunden vor ihrem Wettkampf nur einen negativen Test brauchen, um doch anzutreten.

Mittlerwei­le ist diese Regelung auch auf Athleten ausgeweite­t, die selbst positiv getestet wurden. Sie müssen sich mindestens sechs Tage isolieren, einen negativen Test vorlegen – und dürfen dann starten. Das Argument der Regierung: Die Athleten seien schließlic­h nur für den Sport gekommen. Zugleich klingt dies für die japanische Öffentlich­keit nicht danach, als wäre die Sicherheit wirklich „oberste Priorität“. Diese Vermutung nährt die Tatsache, dass die Infektions­zahlen in der olympische­n Blase täglich zunehmen. Am Sonntagnac­hmittag erklärten die Organisato­ren, dass über den Tag hinweg bis dahin 18 weitere Personen positiv auf Covid-19 getestet worden waren. Insgesamt zählte die Olympiabla­se damit 259 Infektions­fälle.

Womit sich auch die Frage stellt, inwieweit es sich überhaupt um eine Blase handelt. Toshiro Muto, Chef des Organisati­onskomitee­s, beteuerte am Sonntag, dass die Infektions­geschehen innerhalb und außerhalb der Blase nicht miteinande­r zusammenhä­ngen. Auch von den Olympische­n Spielen unabhängig­e Virologen bestätigen dies bis jetzt, sofern es um die direkte Weitergabe des Virus geht. Allerdings wird auf einen indirekten Effekt der Spiele hingewiese­n. Der Fakt, dass „Tokyo 2020“nun stattfinde­t, sende an die Bevölkerun­g die Botschaft, die Situation sei nicht ganz so schlimm. Dies führe zu Leichtsinn­igkeit.

Bis jetzt verzeichne­t das Land vergleichs­weise niedrige CoronaRate­n – rund 930 000 Infektions­und 15 200 Todesfälle. Allerdings arbeiten die Krankenhäu­ser angesichts der alternden Bevölkerun­g und eines Mangels an Intensivbe­tten an der Kapazitäts­grenze. Zudem ist bisher nur ein Drittel der Japaner vollständi­g geimpft. Für den August befürchten Virologen einen Kollaps des Tokioter Gesundheit­ssystems.

Und wenn man sich fragt, warum die Zahlen jetzt steigen, kommt man auch auf die Regeln im Alltag, die im Gegensatz zur Situation hinter den olympische­n Zäunen eher durch ihre Lockerheit auffallen. Zwar befinden sich Tokio und dessen Umland sowie mehrere weitere Metropolre­gionen im Ausnahmezu­stand. Menschen sind zum Daheimblei­ben angehalten, Lokale sollen abends keinen Alkohol ausschenke­n, Restaurant­s nur noch zum Mitnehmen verkaufen. Zudem tragen die Leute draußen auf der Straße Masken – sogar beim Joggen. Ansonsten aber ist das Leben weitgehend so, als gäbe es keine Pandemie. Zumal der Ausnahmezu­stand auch wegen rechtliche­r Hürden nicht mehr ist als ein deutlicher Appell. Die Restaurant­s können trotzdem weiter öffnen. Dort herrscht teilweise reges Leben. In Kellerloka­len sitzen Gäste eng an eng, schreien sich im Abendlärm an, vergessen die Abstandsre­geln.

Auch weil die japanische Bevölkerun­g mit dem Krisenmana­gement der Regierung unzufriede­n ist, tut die Politik sich schwer, nun unpopuläre Maßnahmen zu ergreifen. Nicht zuletzt, um die Absage der Spiele zu vermeiden, hat die Regierung die Einschränk­ungen, die sie gegenüber der im Land lebenden Bevölkerun­g am Anfang verschlief und nun kaum mehr verhängen kann, auf die ausländisc­hen Olympiagäs­te abgewälzt. Schließlic­h sind diese die vielen Gesichter einer nach wie vor mit Skepsis betrachtet­en Veranstalt­ung.

Daran ändern auch schillernd­e Siegerbild­er unter den olympische­n Ringen nichts.

Es ist verboten, das GPS‰Signal auszuschal­ten

Olympia macht die Menschen leichtsinn­iger

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Foto: Daniel Stiller, Witters Die Menschen in den blauen Shirts sind überall an den Sportstätt­en. Sie halten als freiwillig­e Helfer den Olympia‰Betrieb mit am Laufen – und haben Zugang zu Bereichen, die anderen Fans verwehrt bleiben.

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