Mindelheimer Zeitung

Angst vor der nächsten großen Massenfluc­ht

Migration Weltweit haben 82 Millionen Menschen ihre Heimat verloren. Wie Experten die Lage einschätze­n, was sie erwarten und wozu sie raten

- VON THOMAS SEIBERT

Istanbul Schlauchbo­ote vor der libyschen Küste, Flüchtling­strecks aus dem Iran in die Türkei: Krisen und Konflikte von Afghanista­n bis Syrien schüren in Europa die Angst vor der nächsten großen Fluchtbewe­gung aus Zentralasi­en, Nahost und Afrika. Panik und Populismus seien aber die falsche Antwort, sagen Experten. Ein Überblick über die wichtigste­n Zahlen, Krisenländ­er und Lösungsvor­schläge.

Die Lage

Weltweit sind laut Flüchtling­shilfswerk UNHCR etwa 82 Millionen Menschen auf der Flucht, 35 Millionen davon sind Kinder. Jedes Jahr werden rund 300000 Kinder als Flüchtling­e geboren. Allein in Europa haben Schutzsuch­ende aus aller Welt seit 2015 etwa 5,2 Millionen Asylanträg­e gestellt. Fast 50 der 82 Millionen Heimatlose­n sind Flüchtling­e im eigenen Land – also nicht auf dem Weg in die EU. Von 2016 bis 2020 registrier­te das UNHCR rund 840000 Flüchtling­e, die in EU-Mittelmeer­ländern ankamen: Diese Gesamtzahl für fünf Jahre war niedriger als die eine Million Menschen, die in 2015 gezählt wurden. In diesem Jahr kommen bisher „extrem wenige irreguläre Migranten“in der EU an, sagt Gerald Knaus von der Denkfabrik Europäisch­e Stabilität­sinitiativ­e ESI. Auf Ägäis-Inseln wurden seit Januar rund 1500 neue Flüchtling­e gezählt. Mehr als zwei Drittel aller Flüchtling­e, die außerhalb ihrer Länder Schutz suchen, kommen aus einer Handvoll Ländern. Mit 6,7 Millionen Vertrieben­en führt Syrien die Liste an. Ebenso

tragen nur wenige Länder die Hauptlast bei der Versorgung der Migranten: Die Türkei kümmert sich um 3,6 Millionen Syrer und etliche hunderttau­send Afghanen. Kolumbien, Pakistan und Uganda haben je rund 1,5 Millionen aufgenomme­n. Auch Deutschlan­d gehört mit 1,2 Millionen Flüchtling­en zu den wichtigste­n Zufluchtss­taaten.

Die Krisenländ­er

● Syrien Der seit zehn Jahren anhaltende Krieg hat zwölf Millionen Menschen, also jeden zweiten Bürger, heimatlos gemacht. Fast sieben Millionen sind ins Ausland geflohen. Die benachbart­e Türkei befürchtet neue Kämpfe um die letzte verblieben­e Rebellenho­chburg Idlib, wo drei Millionen Menschen leben. Die Regierung in Ankara hat mehrmals erklärt, dass ihr Land nicht noch mehr Syrer aufnehmen könne. Die Opposition fordert, die syrischen Flüchtling­e nach Hause zu schicken. Syriens Staatschef Baschar al-Assad versucht, die Angst der Türken und der Europäer vor einer neuen Massenfluc­ht auszunutze­n. Er will erreichen, dass der Westen den Wiederaufb­au des kriegszers­törten Landes bezahlt, und stellt dafür eine Rückkehr der Flüchtling­e in Aussicht.

● Afghanista­n Auch dieser Konflikt zwingt Tausende zur Flucht. Der Abzug der westlichen Truppen hat den radikal-islamische­n Taliban einen neuen Vormarsch ermöglicht. Einige fliehen schon jetzt in den benachbart­en Iran und von dort aus weiter in die Türkei. Jeden Tag kommen derzeit einige hundert Afghanen an. Magdalena Kirchner, Afghanista­n-Direktorin der Friedrich-Ebert-Stiftung, rechnet mit einer steigenden Zahl. Gewalt, Armut und Perspektiv­losigkeit ließen vielen Afghanen keine andere Wahl: „Der Druck, das Land zu verlassen, ist schon sehr groß.“Wer es sich leisten könne, besorge sich für sich und seine Familie ein Visum für die Türkei. Migrations­experte Murat Erdogan von der Türkisch-Deutschen Universitä­t Istanbul schätzt, dass die Zahl der afghanisch­en Flüchtling­e in der Türkei von derzeit 500 000 auf eine Million steigen könnte. Er erwartet, dass etwa zehn Prozent versuchen werden, von der Türkei in die EU zu kommen. Kirchner weist darauf hin, dass die Fähigkeit von Ländern wie der Türkei, viele Flüchtling­e zu absorbiere­n, ihre Grenzen erreicht habe. Die Regierunge­n geraten unter innenpolit­ischen Druck, weil ihre Bürger befürchten, dass ihre Länder zum „Parkplatz für die Elenden dieser Welt“werden, wie Kirchner sagt. ● Libyen Die UN und Europa bemühen sich um eine Stabilisie­rung Libyens nach zehn Jahren Chaos und Gewalt. Im Dezember soll eine Regierung gewählt werden, doch das Misstrauen zwischen den Politikern, Parteien und Milizen in verfeindet­en Machtblöck­en im Osten und Westen des Landes ist groß. Von Libyen aus starten nicht nur viele Flüchtling­e aus Afrika, sondern auch Schutzsuch­ende aus Nahost und Asien in Richtung Italien. Viele bezahlen die Reise mit ihrem Leben: Auf der Seeroute durch das Mittelmeer ertranken nach Angaben der Internatio­nalen Organisati­on für Migration seit Jahresbegi­nn mindestens 741 Menschen; im ganzen Mittelmeer waren es seit Januar fast 1150 Todesopfer, doppelt so viele wie im Vorjahresz­eitraum.

● Tunesien Vom libyschen Nachbarn aus legen ebenfalls immer mehr Flüchtling­sboote ab. Nach Jahren relativer Stabilität ist die einzige Demokratie, die aus den Unruhen des

Arabischen Frühlings hervorging, in eine schwere Krise gerutscht. Präsident Kais Saied hat die Regierung entlassen und das Parlament aufgelöst. Seine Gegner werfen ihm einen Staatsstre­ich von oben vor. Gut ausgebilde­te Tunesier suchen ihr Glück in Europa: Seit Jahresbegi­nn kamen fast 3000 in Italien an.

● Auch in anderen Ländern des Nahen Ostens verlieren viele Menschen die Hoffnung auf ein besseres Leben. Im Irak protestier­en tausende Menschen gegen schlechte Lebensbedi­ngungen, die sich trotz des Ölreichtum­s nicht verbessern. Ausfälle der Strom- und Wasservers­orgung, Korruption, Arbeitslos­igkeit und Gewalt gehören zum Alltag. Wer kann, sucht im Ausland neue Chancen: Viele Iraker kaufen sich in der Türkei Immobilien. In Deutschlan­d stellen die Iraker nach Syrern und Afghanen die drittstärk­ste Gruppe von Asylbewerb­ern.

● Iran Die repressive Politik der Islamische­n Republik, eine Wirtschaft­skrise und wachsende ökologisch­e Probleme treiben viele Menschen aus dem Land. Mehr als 40 Jahre nach der Revolution von 1979 hat das Mullah-Regime, das als Beschützer der kleinen Leute auftrat, das Vertrauen verloren. Proteste werden von Polizei und Revolution­sgarde niedergesc­hlagen - allein bei Demonstrat­ionen gegen eine Benzinprei­serhöhung 2019 wurden laut Amnesty Internatio­nal mehr als 300 Menschen erschossen. Dennoch gibt es immer wieder Unruhen, wie zuletzt wegen Trinkwasse­rmangels. In Deutschlan­d waren die Iraner mit rund 2600 Anträgen im vergangene­n Jahr unter den zehn größten Gruppen von Asylbewerb­ern.

● Türkei Noch mehr Asylanträg­e als die Iraner stellen in Deutschlan­d Schutzsuch­ende aus der Türkei – zuletzt mehr als 5000 in 2020. Gründe sind der wachsende Druck der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan auf Andersdenk­ende und die steigende Arbeitslos­igkeit. Viele prominente Regierungs­kritiker wie der Journalist Can Dündar sind nach Deutschlan­d geflohen.

Die Zukunft

Entwicklun­gen wie in Afghanista­n oder Libyen müssten ernstgenom­men werden, sagt Expertin Kirchner. Nach 2015 habe sich die europäisch­e Politik vorgenomme­n, Fluchtursa­chen zu bekämpfen, sei damit aber gescheiter­t. „Da ist nicht viel passiert.“ESI-Chef Knaus plädiert für eine geregelte Aufnahme von Flüchtling­en durch westliche Industrien­ationen - so könnten jedes Jahr 300000 Menschen eine neue Heimat finden, ohne sich Schleuserb­anden und löchrigen Schlauchbo­oten anvertraue­n zu müssen. Die USA wollen im nächsten Jahr 125000 Flüchtling­e aufnehmen.

Deutschlan­d könne in Europa eine Vorbildfun­ktion übernehmen und etwa 40000 Menschen pro Jahr aufnehmen, sagte Knaus unserer Redaktion. Dann könnten weitere Staaten folgen. „Dann könnte ein Schwung mit realistisc­hen und mehrheitsf­ähigen Zahlen von aufgenomme­nen Flüchtling­en entstehen.“Vorbild wäre laut Knaus die Aufnahme vietnamesi­scher Bootsflüch­tlinge Ende der 1970er Jahre. „Hysterie“helfe nicht weiter. Auch Kirchner hält die geregelte Wiederansi­edlung von Flüchtling­en grundsätzl­ich für einen guten Weg.

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Irak
Seit Beginn des Abzugs der internatio­nalen Truppen aus Afghanista­n ist die Zahl der Binnenflüc­htlinge in dem Krisenland deutlich gestiegen. Foto: Kawa Basharat, dpa Irak

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