Angst vor der nächsten großen Massenflucht
Migration Weltweit haben 82 Millionen Menschen ihre Heimat verloren. Wie Experten die Lage einschätzen, was sie erwarten und wozu sie raten
Istanbul Schlauchboote vor der libyschen Küste, Flüchtlingstrecks aus dem Iran in die Türkei: Krisen und Konflikte von Afghanistan bis Syrien schüren in Europa die Angst vor der nächsten großen Fluchtbewegung aus Zentralasien, Nahost und Afrika. Panik und Populismus seien aber die falsche Antwort, sagen Experten. Ein Überblick über die wichtigsten Zahlen, Krisenländer und Lösungsvorschläge.
Die Lage
Weltweit sind laut Flüchtlingshilfswerk UNHCR etwa 82 Millionen Menschen auf der Flucht, 35 Millionen davon sind Kinder. Jedes Jahr werden rund 300000 Kinder als Flüchtlinge geboren. Allein in Europa haben Schutzsuchende aus aller Welt seit 2015 etwa 5,2 Millionen Asylanträge gestellt. Fast 50 der 82 Millionen Heimatlosen sind Flüchtlinge im eigenen Land – also nicht auf dem Weg in die EU. Von 2016 bis 2020 registrierte das UNHCR rund 840000 Flüchtlinge, die in EU-Mittelmeerländern ankamen: Diese Gesamtzahl für fünf Jahre war niedriger als die eine Million Menschen, die in 2015 gezählt wurden. In diesem Jahr kommen bisher „extrem wenige irreguläre Migranten“in der EU an, sagt Gerald Knaus von der Denkfabrik Europäische Stabilitätsinitiative ESI. Auf Ägäis-Inseln wurden seit Januar rund 1500 neue Flüchtlinge gezählt. Mehr als zwei Drittel aller Flüchtlinge, die außerhalb ihrer Länder Schutz suchen, kommen aus einer Handvoll Ländern. Mit 6,7 Millionen Vertriebenen führt Syrien die Liste an. Ebenso
tragen nur wenige Länder die Hauptlast bei der Versorgung der Migranten: Die Türkei kümmert sich um 3,6 Millionen Syrer und etliche hunderttausend Afghanen. Kolumbien, Pakistan und Uganda haben je rund 1,5 Millionen aufgenommen. Auch Deutschland gehört mit 1,2 Millionen Flüchtlingen zu den wichtigsten Zufluchtsstaaten.
Die Krisenländer
● Syrien Der seit zehn Jahren anhaltende Krieg hat zwölf Millionen Menschen, also jeden zweiten Bürger, heimatlos gemacht. Fast sieben Millionen sind ins Ausland geflohen. Die benachbarte Türkei befürchtet neue Kämpfe um die letzte verbliebene Rebellenhochburg Idlib, wo drei Millionen Menschen leben. Die Regierung in Ankara hat mehrmals erklärt, dass ihr Land nicht noch mehr Syrer aufnehmen könne. Die Opposition fordert, die syrischen Flüchtlinge nach Hause zu schicken. Syriens Staatschef Baschar al-Assad versucht, die Angst der Türken und der Europäer vor einer neuen Massenflucht auszunutzen. Er will erreichen, dass der Westen den Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes bezahlt, und stellt dafür eine Rückkehr der Flüchtlinge in Aussicht.
● Afghanistan Auch dieser Konflikt zwingt Tausende zur Flucht. Der Abzug der westlichen Truppen hat den radikal-islamischen Taliban einen neuen Vormarsch ermöglicht. Einige fliehen schon jetzt in den benachbarten Iran und von dort aus weiter in die Türkei. Jeden Tag kommen derzeit einige hundert Afghanen an. Magdalena Kirchner, Afghanistan-Direktorin der Friedrich-Ebert-Stiftung, rechnet mit einer steigenden Zahl. Gewalt, Armut und Perspektivlosigkeit ließen vielen Afghanen keine andere Wahl: „Der Druck, das Land zu verlassen, ist schon sehr groß.“Wer es sich leisten könne, besorge sich für sich und seine Familie ein Visum für die Türkei. Migrationsexperte Murat Erdogan von der Türkisch-Deutschen Universität Istanbul schätzt, dass die Zahl der afghanischen Flüchtlinge in der Türkei von derzeit 500 000 auf eine Million steigen könnte. Er erwartet, dass etwa zehn Prozent versuchen werden, von der Türkei in die EU zu kommen. Kirchner weist darauf hin, dass die Fähigkeit von Ländern wie der Türkei, viele Flüchtlinge zu absorbieren, ihre Grenzen erreicht habe. Die Regierungen geraten unter innenpolitischen Druck, weil ihre Bürger befürchten, dass ihre Länder zum „Parkplatz für die Elenden dieser Welt“werden, wie Kirchner sagt. ● Libyen Die UN und Europa bemühen sich um eine Stabilisierung Libyens nach zehn Jahren Chaos und Gewalt. Im Dezember soll eine Regierung gewählt werden, doch das Misstrauen zwischen den Politikern, Parteien und Milizen in verfeindeten Machtblöcken im Osten und Westen des Landes ist groß. Von Libyen aus starten nicht nur viele Flüchtlinge aus Afrika, sondern auch Schutzsuchende aus Nahost und Asien in Richtung Italien. Viele bezahlen die Reise mit ihrem Leben: Auf der Seeroute durch das Mittelmeer ertranken nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration seit Jahresbeginn mindestens 741 Menschen; im ganzen Mittelmeer waren es seit Januar fast 1150 Todesopfer, doppelt so viele wie im Vorjahreszeitraum.
● Tunesien Vom libyschen Nachbarn aus legen ebenfalls immer mehr Flüchtlingsboote ab. Nach Jahren relativer Stabilität ist die einzige Demokratie, die aus den Unruhen des
Arabischen Frühlings hervorging, in eine schwere Krise gerutscht. Präsident Kais Saied hat die Regierung entlassen und das Parlament aufgelöst. Seine Gegner werfen ihm einen Staatsstreich von oben vor. Gut ausgebildete Tunesier suchen ihr Glück in Europa: Seit Jahresbeginn kamen fast 3000 in Italien an.
● Auch in anderen Ländern des Nahen Ostens verlieren viele Menschen die Hoffnung auf ein besseres Leben. Im Irak protestieren tausende Menschen gegen schlechte Lebensbedingungen, die sich trotz des Ölreichtums nicht verbessern. Ausfälle der Strom- und Wasserversorgung, Korruption, Arbeitslosigkeit und Gewalt gehören zum Alltag. Wer kann, sucht im Ausland neue Chancen: Viele Iraker kaufen sich in der Türkei Immobilien. In Deutschland stellen die Iraker nach Syrern und Afghanen die drittstärkste Gruppe von Asylbewerbern.
● Iran Die repressive Politik der Islamischen Republik, eine Wirtschaftskrise und wachsende ökologische Probleme treiben viele Menschen aus dem Land. Mehr als 40 Jahre nach der Revolution von 1979 hat das Mullah-Regime, das als Beschützer der kleinen Leute auftrat, das Vertrauen verloren. Proteste werden von Polizei und Revolutionsgarde niedergeschlagen - allein bei Demonstrationen gegen eine Benzinpreiserhöhung 2019 wurden laut Amnesty International mehr als 300 Menschen erschossen. Dennoch gibt es immer wieder Unruhen, wie zuletzt wegen Trinkwassermangels. In Deutschland waren die Iraner mit rund 2600 Anträgen im vergangenen Jahr unter den zehn größten Gruppen von Asylbewerbern.
● Türkei Noch mehr Asylanträge als die Iraner stellen in Deutschland Schutzsuchende aus der Türkei – zuletzt mehr als 5000 in 2020. Gründe sind der wachsende Druck der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan auf Andersdenkende und die steigende Arbeitslosigkeit. Viele prominente Regierungskritiker wie der Journalist Can Dündar sind nach Deutschland geflohen.
Die Zukunft
Entwicklungen wie in Afghanistan oder Libyen müssten ernstgenommen werden, sagt Expertin Kirchner. Nach 2015 habe sich die europäische Politik vorgenommen, Fluchtursachen zu bekämpfen, sei damit aber gescheitert. „Da ist nicht viel passiert.“ESI-Chef Knaus plädiert für eine geregelte Aufnahme von Flüchtlingen durch westliche Industrienationen - so könnten jedes Jahr 300000 Menschen eine neue Heimat finden, ohne sich Schleuserbanden und löchrigen Schlauchbooten anvertrauen zu müssen. Die USA wollen im nächsten Jahr 125000 Flüchtlinge aufnehmen.
Deutschland könne in Europa eine Vorbildfunktion übernehmen und etwa 40000 Menschen pro Jahr aufnehmen, sagte Knaus unserer Redaktion. Dann könnten weitere Staaten folgen. „Dann könnte ein Schwung mit realistischen und mehrheitsfähigen Zahlen von aufgenommenen Flüchtlingen entstehen.“Vorbild wäre laut Knaus die Aufnahme vietnamesischer Bootsflüchtlinge Ende der 1970er Jahre. „Hysterie“helfe nicht weiter. Auch Kirchner hält die geregelte Wiederansiedlung von Flüchtlingen grundsätzlich für einen guten Weg.