Zu Besuch beim kleinen Bruder
Italien Der Idrosee liegt ein wenig im Schatten des ungleich größeren Lago di Garda, doch dafür geht es dort bei weitem nicht so rummelig zu. Und in der Umgebung gibt es etwas, das es anderswo nicht gibt
Es sieht fast aus, als würde Andrea Pelizzari den Käse streicheln. Seine Hand bewegt sich in kleinen kreisenden Bewegungen über die orangefarbene Oberfläche dieses Laibs von der Größe eines Autoreifens. Er reibt Salz und Öl auf die Rinde, um sie vor Bakterien zu schützen. Aber natürlich ist dabei eine gewisse Zärtlichkeit, wenn er einmal die Woche die 20 Kilo schweren Käse aus dem Regal wuchtet, die Oberfläche leicht abschabt und wieder eine neue Schicht Öl und Salz drüber reibt. Wie sehr ihm diese würzigen Wagenräder am Herzen liegen, die den reichlich unitalienisch klingenden Namen Bagòss tragen, wird deutlich, wenn er fast schwärmerisch über sie spricht. Schließlich sind sie tatsächlich etwas Besonderes, denn sie werden nur in und um dieses alte Städtchen Bagolino in den grünen lombardischen Bergen der Provinz Brescia hergestellt.
Und Andrea Pelizzari ist der Mann, der ihnen den endgültigen Geschmack verleiht. Er kauft die Käse von den Produzenten, lagert sie in einen seiner drei Keller ein, pflegt und „streichelt“sie: ein Jahr, zwei, drei oder auch vier Jahre lang. Wenn sie die nötige Reife erreicht haben, kommen sie in den kleinen Lebensmittelladen, den er von seinem Vater übernommen hat. Mittlerweile gehören sogar italienische Sterneköche zu seinen Kunden, denn der Bagòss hat in ihren Restaurants dem Parmesan Stück für Stück den Rang abgelaufen. Dank einer kleinen Prise Safran leuchtet er satt gelb, schmeckt kräftig, aber nicht scharf, und lässt sich perfekt zu einem Glas Sekt genießen. Sogar Touristen aus der Schweiz, die nun wahrlich nicht wegen eines Stückchen Käses, die Landesgrenze passieren müssten, kaufen ihn.
Ohnehin ist der Ort nicht gerade von Urlaubern überlaufen. Er gehört, wie die gesamte Region, in die
Kategorie Insidertipp. Das hat natürlich etwas mit der Lage zu tun. Während der bergige Landstrich oberhalb der Provinzhauptstadt Brescia eine gewisse Beschaulichkeit ausstrahlt, tobt das pralle Touristenleben nebenan, rund um den Gardasee, der liebsten Badewanne von Bayern, Schwaben und Badenern. Wer morgens daheim ins Auto steigt, kann nach ein paar Stunden Fahrt noch den Nachmittag unter italienischer Sonne genießen.
Wer weniger Rummel erleben aber dafür ein wenig Kunstsinn beweisen möchte, der bleibt noch ein wenig länger im Wagen und steuert den Iseosee an. Den kennt nun fast die ganze Welt. Selbst wer den Verpackungskünstler Christo nicht so sehr schätzt, hat zumindest von diesen stoffbespannten, dahliengelben Stegen namens The Floating Piers gehört, die er 2016 in den See setzen ließ und sie rund um die kleine Insel San Paolo führte. Die spektakuläre Installation wurde von Besuchern überrannt, denn sie alle wollte mal wissen, wie es sich anfühlt, übers Wasser zu wandeln.
Doch in den Idrosee, den etwas unscheinbaren Bruder des großen Lago di Garda, hat noch nie jemand etwas Spektakuläres gelegt. Nur an das Westufer haben die Venezianer im 15. Jahrhundert zur Sicherung ihrer Herrschaft die große Festung Roca d’Anfo in den steilen Hang geklotzt. Napoleon hat noch einiges draufgesetzt und ein Bollwerk geschaffen, das später dem Freiheitskämpfer Garibaldi als Stützpunkt diente. Heute trotzt sie keinen Soldaten mehr, sondern höchstens den von reichhaltigem Mittagessen ermatteten Touristen, die sich rund 1200 Treppenstufen nach oben quälen müssen, um das große See-Panorama genießen zu können. Wer es im Schweiße seines Angesichts bis ganz nach oben geschafft hat, dem bietet sich allerdings ein Blick, der die auf Hochtouren arbeitende Lunge mal eben innehalten lässt: Er ist im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend.
Unter einem liegt ein schmales Voralpengewässer von zehn Kilometern Länge. Es wird im Sommer genauso warm wie der deutlich tiefer liegende Gardasee. Während der mit den Worten „touristisch voll erschlossen“noch sehr positiv beschrieben ist, verströmt der kleine Idrosee eine gewisse verschlafene Beschaulichkeit: An den Ufern buhlen keine lang gestreckten Hotelreihen um Gäste, die Zahl der Windsurfer, Segler, Motorbootfahrer und Standup-Paddler (SUP) hält sich in überschaubaren Grenzen. Es ist eher ein Familiengewässer mit Campingplätzen und zwei Surfschulen. Für Anfänger ein ideales Revier: Morgens kräuselt kaum ein Hauch die Oberfläche, SUP-Neulinge können ungestört trainieren. Pünktlich am Mittag kommt Wind auf – die Stunde der Surfer beginnt.
Überhaupt bietet die Gegend eine Menge Möglichkeiten für ordentlich schweißtreibende und auch weniger anstrengende Freizeitaktivitäten. Wanderwege und Mountainbikestrecken durchziehen die bergige Landschaft. Wer es etwas herausfordernder haben und auch den Kindern ein wenig Abenteuer bieten möchte, sollte nach Casto fahren, wo einst Erz geschürft und Eisen verarbeitet wurde. Dort haben Kletterenthusiasten mit viel Freiwilligenarbeit einen Kraxelpark geschaffen, der 6000 Meter Klettersteige bietet, wobei einer spektakulär durch eine Klamm führt. Wer danach noch Kraft hat und eine Felswand bezwingt, wird über die „tibetische Brücke“geschickt. Sie besteht im Grunde aus vier Stahlseilen: Eines zum Balancieren, zwei zum Festhalten und eines für die Sicherungsleine. Sie ohne größeren Schweißausbruch zu passieren – 40 Meter über dem Boden – dazu gehört entweder Erfahrung oder der buddhistische
Die Region ist nicht so überlaufen
Adrenalinschübe auf der „tibetischen Brücke“
Gleichmut der Tibeter. Am Ende badet der Körper in Adrenalin – ein unglaubliches Gefühl.
Für Freunde von Kunst und Kultur bietet die Gegend um den Idrosee nicht sehr viel, außer noch in Bagolino, wo die von außen recht unscheinbare Kirche San Giorgio über dem Ort thront. Doch das Innere birst fast vor farbenfroher, recht gut erhaltener Fresken. Mit etwas Glück kann man in die Sakristei schlüpfen: Dort hängt ein kleiner, aber echter Tizian an der Wand.
Weit mehr als 2000 Jahre Kultur und Geschichte ballen sich dafür im Provinzzentrum Brescia, einer hübschen Stadt mit prächtigen Bauten und vielen kleinen Geschäften – die deutschen Zungen allerdings ein wenig Widerstand entgegensetzt: „Wie soll man für etwas werben, was die meisten in Deutschland nicht mal richtig aussprechen können“, fragt denn auch die Frau von der Tourismusorganisation Visit Brescia. Dabei ist es so einfach: Es heißt nicht Breskia, sondern Brescha. Die Aussprache fällt leichter nach einem Glas Pirlo, dem brescianischen Pendant zum venezianischen Spritz. Da kommt eben Campari statt Aperol zu Soda und Weißwein (oder Prosecco) ins Glas. Übrigens hat das Getränk nichts mit dem einst von Ex-Bundestrainer Jogi Löw gefürchteten italienischen Starkicker Andrea Pirlo zu tun, der aus der Nähe von Brescia stammt und in der Stadt seine Karriere begann.
Dabei dreht sich doch in Italien fast alles um Fußball. So sagte denn der Pfarrer von San Giorgio in Bagolino, nachdem er einer deutschen Reisegruppe die Kunstwerke der Kirche erklärt hatte und schon im Gehen war: „Heute Abend müsst ihr uns helfen und uns unterstützen!“Es war der Tag des EM-Endspiels. Die Gruppe gab dann vor dem Hotel-TV ihr Bestes. Das Ergebnis ist bekannt.