Virus und Waffengewalt
Gewalt In New York starben zuletzt mehr Menschen durch Schüsse und Verbrechen als an Corona. Der Gouverneur ruft nun den Notstand aus. Was das für den Bundesstaat bedeutet
New York Allein am Wochenende des Nationalfeiertags sind im Bundesstaat New York mindestens 50 Personen durch Schüsse verletzt worden. Mehr als zwei Dutzend davon rund um diesen 4. Juli in New York City. „Wenn man sich die aktuellen Zahlen ansieht, sterben mehr Menschen an Waffengewalt und Verbrechen als an Covid-19“, sagt Gouverneur Andrew Cuomo danach – und ruft den Katastrophenfall aus.
Es gehe darum, Leben zu retten. New Yorks Zukunft hänge davon ab. Denn New York City werde sich nicht von der Pandemie erholen, bis die Straßen und U-Bahnen wieder sicher seien, betont der Demokrat bei öffentlichen Auftritten. Bis dahin kehre niemand in die Stadt zurück, kein Unternehmen investiere.
Nicht nur in New York wird die öffentliche Sicherheit diskutiert. Im ganzen Land steigt die Waffengewalt seit Beginn der Corona-Pandemie. 2019, im Jahr vor der Pandemie, wurden in den USA knapp 15500 Menschen erschossen. Im vergangenen Jahr waren es mehr als 19 400 Tote und fast 40 000 Verletzte. In diesem Jahr gibt es schon jetzt knapp 12 000 Todesopfer und mehr als 23000 Verletzte. Die Zahlen trägt die Forschungsgruppe Gun Archive (WaffengewaltArchiv) zusammen. Nach Angaben des Weißen Hauses war die Zahl der Tötungsdelikte zu Jahresbeginn um 49 Prozent höher als im gleichen Zeitraum 2019. Präsident Joe Biden spricht von einer „Epidemie“.
In New York hatte der demokratische Bürgermeister Bill de Blasio das Budget der Polizei im vergangenen Sommer aufgrund des Drucks der „Black Lives Matter“-Bewegung, die gegen Polizeigewalt gegen Schwarze protestiert, von sechs auf fünf Milliarden Dollar gesenkt. Er sagt, die Kriminalität sei gestiegen, weil die Gerichte im Rückstand und Kriminelle länger auf freiem Fuß seien. Die Polizei sagt, Schuld sei die Blasios Reform, nach der viele Festgenommene ohne Kaution wieder freigelassen würden.
Fakt ist aber auch: Waffen sind in den USA leicht zu kriegen und es werden jährlich mehr gekauft. Schätzungsweise 400 Millionen Waffen befinden sich dort in Privatbesitz – mehr als es Einwohner gibt. Und all das während einer Pandemie, die soziale Ungerechtigkeiten offenlegt, den Schul- und Arbeitsalltag unterbricht und viele verzweifeln lässt. Wie Corona trifft auch die Waffengewalt vor allem die Benachteiligten und Schwachen der Gesellschaft: 77 Prozent der Opfer in New York City sind nicht weiß. Schwarze sind zehn Mal häufiger betroffen als Weiße, Latinos 3,5-mal so oft.
Besonders alarmierend ist die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die sterben – oder zu Tätern werden. In Buffalo, im Norden New Yorks, sind drei Prozent der Jugendlichen in 60 Prozent aller Schusswechsel verwickelt, in New York City war es zuletzt knapp ein Prozent der Jugend bei 36 Prozent der Schießereien. Im gesamten Bundesstaat sind 4000 18- bis 24-Jährige an knapp der Hälfte der Schießereien beteiligt – meist in bestimmten „Hotspots“. Die sollen nun genauer identifiziert werden mithilfe von Polizeiberichten und übersichtlichen Landkarten, ähnlich wie bei der Ausbreitung von Corona.
Die Zahl der Schießereien in New York City stieg im ersten Halbjahr 2021 um 38 Prozent im Vergleich zum ersten Halbjahr 2020. Auch wenn die Zahlen im Juni und Juli deutlich sanken und bei weitem nicht so hoch sind wie in den 90er Jahren: Im Juli nun rief Andrew Cuomo den „Katastrophennotfall“aus – den ersten des Landes aufgrund von Waffengewalt. „So, wie wir es mit Covid-19 getan haben, wird New York die Nation wieder anführen“, sagte er. „Wenn wir UnViolence gerechtigkeit sehen, schauen wir nicht weg. Wir stehen auf und bekämpfen sie. Das ist der New Yorker Weg.“Heuchlerisch finden das die Republikaner, schließlich hätten die Demokraten die Situation verursacht mit ihrer laxen Strafverfolgung. „Warum jetzt?“, fragen sie und manche Kommentatoren in den Medien antworten: Cuomo wolle seine Wiederwahl 2022 sichern und von seinen Skandalen ablenken, darunter geschönte Corona-Zahlen im Seniorenheim, Vorwürfe der sexuellen Belästigung und das Versagen der Regierung bei der Verbrechensbekämpfung.
Nun ist ein 139-Millionen-Dollar Notfallpaket geschnürt – darin: 76 Millionen Dollar, um Arbeitsplätze für junge Menschen zu schaffen; ein Präventionsbeauftragter, der mit Behörden wie Gefängnisanstalten, Sozialdiensten und der Polizei kooperieren soll; Projekte, um das Vertrauen in die Polizei zu stärken; eine Spezialeinheit, um den Handel mit illegalen Schusswaffen zu bekämpfen, die aus Nachbarstaaten über die Grenze strömen; ein neues Gesetz, um Waffenhersteller und -händler leichter zu verklagen. Kurz: Hilfe soll schneller in den Gemeinden ankommen mit kurzfristigen und langfristigen Maßnahmen, wie schon während der Pandemie.