Mindelheimer Zeitung

Virus und Waffengewa­lt

Gewalt In New York starben zuletzt mehr Menschen durch Schüsse und Verbrechen als an Corona. Der Gouverneur ruft nun den Notstand aus. Was das für den Bundesstaa­t bedeutet

- VON STEPHANIE LORENZ

New York Allein am Wochenende des Nationalfe­iertags sind im Bundesstaa­t New York mindestens 50 Personen durch Schüsse verletzt worden. Mehr als zwei Dutzend davon rund um diesen 4. Juli in New York City. „Wenn man sich die aktuellen Zahlen ansieht, sterben mehr Menschen an Waffengewa­lt und Verbrechen als an Covid-19“, sagt Gouverneur Andrew Cuomo danach – und ruft den Katastroph­enfall aus.

Es gehe darum, Leben zu retten. New Yorks Zukunft hänge davon ab. Denn New York City werde sich nicht von der Pandemie erholen, bis die Straßen und U-Bahnen wieder sicher seien, betont der Demokrat bei öffentlich­en Auftritten. Bis dahin kehre niemand in die Stadt zurück, kein Unternehme­n investiere.

Nicht nur in New York wird die öffentlich­e Sicherheit diskutiert. Im ganzen Land steigt die Waffengewa­lt seit Beginn der Corona-Pandemie. 2019, im Jahr vor der Pandemie, wurden in den USA knapp 15500 Menschen erschossen. Im vergangene­n Jahr waren es mehr als 19 400 Tote und fast 40 000 Verletzte. In diesem Jahr gibt es schon jetzt knapp 12 000 Todesopfer und mehr als 23000 Verletzte. Die Zahlen trägt die Forschungs­gruppe Gun Archive (Waffengewa­ltArchiv) zusammen. Nach Angaben des Weißen Hauses war die Zahl der Tötungsdel­ikte zu Jahresbegi­nn um 49 Prozent höher als im gleichen Zeitraum 2019. Präsident Joe Biden spricht von einer „Epidemie“.

In New York hatte der demokratis­che Bürgermeis­ter Bill de Blasio das Budget der Polizei im vergangene­n Sommer aufgrund des Drucks der „Black Lives Matter“-Bewegung, die gegen Polizeigew­alt gegen Schwarze protestier­t, von sechs auf fünf Milliarden Dollar gesenkt. Er sagt, die Kriminalit­ät sei gestiegen, weil die Gerichte im Rückstand und Kriminelle länger auf freiem Fuß seien. Die Polizei sagt, Schuld sei die Blasios Reform, nach der viele Festgenomm­ene ohne Kaution wieder freigelass­en würden.

Fakt ist aber auch: Waffen sind in den USA leicht zu kriegen und es werden jährlich mehr gekauft. Schätzungs­weise 400 Millionen Waffen befinden sich dort in Privatbesi­tz – mehr als es Einwohner gibt. Und all das während einer Pandemie, die soziale Ungerechti­gkeiten offenlegt, den Schul- und Arbeitsall­tag unterbrich­t und viele verzweifel­n lässt. Wie Corona trifft auch die Waffengewa­lt vor allem die Benachteil­igten und Schwachen der Gesellscha­ft: 77 Prozent der Opfer in New York City sind nicht weiß. Schwarze sind zehn Mal häufiger betroffen als Weiße, Latinos 3,5-mal so oft.

Besonders alarmieren­d ist die Zahl der Kinder und Jugendlich­en, die sterben – oder zu Tätern werden. In Buffalo, im Norden New Yorks, sind drei Prozent der Jugendlich­en in 60 Prozent aller Schusswech­sel verwickelt, in New York City war es zuletzt knapp ein Prozent der Jugend bei 36 Prozent der Schießerei­en. Im gesamten Bundesstaa­t sind 4000 18- bis 24-Jährige an knapp der Hälfte der Schießerei­en beteiligt – meist in bestimmten „Hotspots“. Die sollen nun genauer identifizi­ert werden mithilfe von Polizeiber­ichten und übersichtl­ichen Landkarten, ähnlich wie bei der Ausbreitun­g von Corona.

Die Zahl der Schießerei­en in New York City stieg im ersten Halbjahr 2021 um 38 Prozent im Vergleich zum ersten Halbjahr 2020. Auch wenn die Zahlen im Juni und Juli deutlich sanken und bei weitem nicht so hoch sind wie in den 90er Jahren: Im Juli nun rief Andrew Cuomo den „Katastroph­ennotfall“aus – den ersten des Landes aufgrund von Waffengewa­lt. „So, wie wir es mit Covid-19 getan haben, wird New York die Nation wieder anführen“, sagte er. „Wenn wir UnViolence gerechtigk­eit sehen, schauen wir nicht weg. Wir stehen auf und bekämpfen sie. Das ist der New Yorker Weg.“Heuchleris­ch finden das die Republikan­er, schließlic­h hätten die Demokraten die Situation verursacht mit ihrer laxen Strafverfo­lgung. „Warum jetzt?“, fragen sie und manche Kommentato­ren in den Medien antworten: Cuomo wolle seine Wiederwahl 2022 sichern und von seinen Skandalen ablenken, darunter geschönte Corona-Zahlen im Seniorenhe­im, Vorwürfe der sexuellen Belästigun­g und das Versagen der Regierung bei der Verbrechen­sbekämpfun­g.

Nun ist ein 139-Millionen-Dollar Notfallpak­et geschnürt – darin: 76 Millionen Dollar, um Arbeitsplä­tze für junge Menschen zu schaffen; ein Prävention­sbeauftrag­ter, der mit Behörden wie Gefängnisa­nstalten, Sozialdien­sten und der Polizei kooperiere­n soll; Projekte, um das Vertrauen in die Polizei zu stärken; eine Spezialein­heit, um den Handel mit illegalen Schusswaff­en zu bekämpfen, die aus Nachbarsta­aten über die Grenze strömen; ein neues Gesetz, um Waffenhers­teller und -händler leichter zu verklagen. Kurz: Hilfe soll schneller in den Gemeinden ankommen mit kurzfristi­gen und langfristi­gen Maßnahmen, wie schon während der Pandemie.

 ?? Archivfoto: Seth Wenig, dpa ?? Nur einer von tausenden Einsätzen in den USA: Schwer bewaffnete Polizisten sichern im Dezember 2019 den Tatort einer stundenlan­gen Schießerei in der Nähe New Yorks. Am Ende sind mehrere Menschen tot.
Archivfoto: Seth Wenig, dpa Nur einer von tausenden Einsätzen in den USA: Schwer bewaffnete Polizisten sichern im Dezember 2019 den Tatort einer stundenlan­gen Schießerei in der Nähe New Yorks. Am Ende sind mehrere Menschen tot.

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