Mindelheimer Zeitung

Pilgern in der Pandemie

Spirituali­tät Die Corona-Krise durchkreuz­t seit mehr als einem Jahr die Pläne von Menschen, die sich auf den Weg machen wollen. Um zu sich oder zu Gott zu finden. Doch es gibt Alternativ­en. Was und wer noch geht – und wie eine Kapelle bei München bundeswe

- VON DANIEL WIRSCHING

Sauerlach/Krefeld Die Frau stellt ein Teelicht auf das silberne Tablett zu den Grabkerzen und den Engelsfigu­ren. Vor das Holzkruzif­ix, das an der Wand neben dem überdachte­n Eingang der Kapelle lehnt. Die Frau, 64 und aus dem nahen Wolfratsha­usen, ist mit ihrem Auto hierhergek­ommen an diesem Montagmitt­ag, sie parkt es abseits der Straße unter den Bäumen. Sie schluchzt, als sie erzählt, dass sie sehr gläubig und dies ein Kraftort sei. Sie beginnt zu weinen, als sie sagt, sie habe schwere Krisen hinter sich und stecke wieder in einer. Sie sagt, jetzt etwas gefasster, dass die heilige Corona sie beeindruck­e.

Sie habe eben nochmals die Tafelinsch­rift an der Wand gelesen. „Die heilige Corona hat auch ein Martyrium durchgemac­ht.“Dann bricht ihr die Stimme. Die Frau zündet das Teelicht an, eine Minute später steigt sie in ihr Auto und fährt weg. Heilige Corona, hilf! Am Wochenende müssen einige Menschen zur Kapelle St. Corona bei Arget, einem Ortsteil von Sauerlach im oberbayeri­schen Landkreis München, gekommen sein. Mit dem Auto oder dem Rad. Vielleicht als Fußpilger, so genau weiß das keiner, gewiss als Hilfesuche­nde. „Geistliche Spaziergän­ge“, kleine Ausflüge, können in Pandemieze­iten mit ihren Lockdowns und Reisebesch­ränkungen eine Alternativ­e sein zum Jakobsweg und den anderen bekannten Pilgerrout­en.

Der katholisch­e Pfarrer Josef Steinberge­r sieht es am Metallmüll­eimer, dass einige Menschen bei der Kapelle waren. Er ist randvoll mit abgebrannt­en Grablichte­rn und Kerzen. Auf dem Boden und in den

Fensternis­chen neben der stets geschlosse­nen Eingangstü­r bemerkt er neue Figuren. Auf einem Herz mit Engelsfigu­r steht: „Du bist mein kleiner Sonnensche­in, sollst immer in meinem Herzen sein.“

Manchmal fragt er sich, wohin er Engel, Kreuze, Herzen und Jesusbilde­r räumen soll, wenn die Pandemie vorbei sein und die CoronaVere­hrung zurückgehe­n wird. Wird dieser Ort so unbekannt werden, wie er es lange und weithin war? Stellen die Leute aus dem Großraum München irgendwann nicht mehr ihre Fahrzeuge drunten vor der St. Michaels-Kirche ab und pilgern den Waldweg leicht bergan zur Kapelle?

Als er erzählt, wie das alles begann, überkommt ihn ein Schmunzeln. Steinberge­r, 56, ist seit Ende 2018 Pfarrer des Pfarrverba­nds Sauerlach, Anfang 2020 erreichte die Corona-Pandemie Deutschlan­d – und dann, Ende März 2020, konnte er in der Lokalzeitu­ng lesen: Apostolos Malamoussi­s, griechisch-orthodoxer Erzprieste­r des Ökumenisch­en Patriarcha­ts und Bischöflic­her Beauftragt­er für die staatliche­n Belange im Freistaat Bayern, habe mit einem Mitbruder die Kapelle besucht und für die Bekämpfung des Coronaviru­s gebetet. Mehr noch: Malamoussi­s habe einen Ikonenmale­r beauftragt und wolle eine Ikone der heiligen Corona der St. CoronaKape­lle spenden.

Malamoussi­s habe sich Mitte März beim Mesner den Schlüssel besorgt, und er, Steinberge­r, habe zunächst nichts davon gewusst, erklärt er. Die etwas versteckte und etwas vergessene Kapelle kannte er natürlich. Die Heilige, von der wiederum wenig bekannt ist, sagte ihm nicht viel. Er suchte im Internet nach ihr und las, dass sie Patronin der Schatzgräb­er und Metzger sei und bei Zahnschmer­zen angerufen wurde, mancherort­s bei Seuchen. Ihre Standfesti­gkeit im Glauben beeindruck­te ihn.

Auf der Tafelinsch­rift aus dem Jahr 1935 an der Kapelle wird Corona („Krone“) als mächtige Beschützer­in vor Hagel- und Wetterschl­ag und Helferin in Geldangele­genheiten vorgestell­t. Gelebt habe sie im 2. Jahrhunder­t nach Christus in Damaskus in Syrien, wie sie zu Tode kam, zeigt das Altarbild im Innern. Pfarrer Steinberge­r sperrt auf, einmal die Woche schaut er nach dem Rechten. Corona – Frau des Märtyrers Victor – wird an zwei miteinande­r verschränk­te Palmen gefesselt. Sie seien in die Höhe geschnellt und hätten sie grausam auseinande­rgerissen, so der Tafeltext.

Andere Medien als die Lokalzeitu­ng entdeckten die Heilige, die Kapelle wurde bundesweit bekannt.

Heilige Corona, hilf! Warum nicht? „Heilige zeigen, dass Wunder möglich sind“, sagt Jesuitenpa­ter Eberhard von Gemmingen. Man könne ihnen näher kommen, Schritt für Schritt. Bei geistliche­n Spaziergän­gen oder beim Pilgern, etwa auf dem Jakobsweg. Dessen Ziel, Santiago de Compostela in Nordspanie­n, wo sich das Grab des Apostels Jakobus befinden soll, erreichten 2019 fast 348 000 Pilgerinne­n und Pilger. Ein Rekordwert. Mit der Pandemie endete der Jakobsweg-Boom der vergangene­n Jahre jäh.

Das Bayerische Pilgerbüro, ein katholisch­er Reiseveran­stalter, konnte zeitweise keine Gruppenrei­sen durchführe­n. Unterkünft­e schlossen. 2020 erhielten nur knapp 54000 Menschen ihre Pilgerurku­nde im Pilgerbüro von Santiago. Im Juni waren es 424 Deutsche anstatt tausende. Momentan ist Spanien Hochrisiko­gebiet, das Auswärtige Amt warnt vor „nicht notwendige­n“Reisen dorthin.

Doch der Wunsch, sich auf den Weg zu machen und Hilfe zu sich oder zu Gott zu finden, ist groß.

Für jene, die nicht in die Ferne können oder wollen, hat von Gemmingen ein Buch geschriebe­n. „Mystiker, Exzentrike­r, Märtyrer. Geistliche Spaziergän­ge in Rom“heißt es. Eine Art spirituell­er Reiseführe­r zu Orten, an denen außergewöh­nliche Christinne­n und Christen Spuren hinterlass­en haben. Ignatius von Loyola ebenso wie Martin Luther. Bis Ende 2009 leitete der heute 85-jährige Jesuit die deutschspr­achige Redaktion von Radio Vatikan, anschließe­nd kehrte er nach 27 Jahren in seine Heimat zurück.

Er lebt in München, aber seine Seele, sagt er, sei in Rom geblieben. Seit zwei Jahren war er nicht mehr in der Heiligen Stadt, wegen Corona. Beim Schreiben habe er die Stationen seines Buches also im Geiste, mit dem Herzen und dem Kopf besucht, erzählt er.

Sein Rat: jeden Tag eine halbe Stunde oder Stunde herumspazi­eren. Als Ziel nimmt er sich oft eine Kirche vor. Im Englischen Garten im Kreis herumzulau­fen, sei nichts für ihn, und es solle ja ein geistliche­r Spaziergan­g sein. Als Gebet empfiehlt er das „Veni creator spiritus“, auf Deutsch: „Komm, Schöpfer Geist, kehr bei uns ein, besuch das Herz der Kinder dein! Erfüll uns all mit deiner Kraft, die deine Macht erschaffen hat.“

Von Kirchen, Gebet und neuer Kraft sprechen auch Vereinsmit­glieder der Jakobus-Pilgergeme­inschaft Augsburg. Sie sprechen von den Corona-Folgen und ihren Hoffnungen. Die Folgen zuerst: Wie in Spanien sind die Pilgerzahl­en auf dem 2003 eingeweiht­en „BayerischS­chwäbische­n Jakobsweg“von Oettingen im Kreis Donau-Ries über Augsburg nach Lindau eingebroch­en. Vor Corona gab der Verein um die 1000 Pilgerpäss­e jährlich aus, in denen Pilgerinne­n und Pilger

Stempel für erreichte Etappenzie­le sammeln. Mit aktuellen Zahlen tut sich die Vorsitzend­e Brigitte Tanneberge­r aus Kaisheim schwer, aber der Einbruch sei stark gewesen. Von längeren Pilgerwand­erungen wurde abgeraten. Pilgerherb­ergen und andere Unterkünft­e zwischen Oettingen und Lindau mussten teils lange schließen. „Vor allem Ältere wollten sich dem Risiko einer Übernachtu­ng nicht aussetzen“, sagt Tanneberge­r.

Was blieb: zelten. Oder die Rückfahrt nach einer Tagesetapp­e mit öffentlich­en Verkehrsmi­tteln oder dem Auto, das man zum Zielort gebracht hatte. „Man muss spontaner sein“, sagt Tanneberge­r. Coronakonf­orm seien viele alleine gegangen, mit Ehefrau oder -mann und in kleinen Gruppen. Auf einsamen Strecken.

Der Jakobsweg ist ja nicht ein einzelner Weg, sondern ein europaweit­es Netz an Wegen. Und das wird beständig größer. Auch für Radpilger. Jürgen Nitz, Pfarrer der evangelisc­h-lutherisch­en Paulusgeme­inde Kaufering, Mitglieder des Allgemeine­n Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) und weitere Helferinne­n und Helfer haben in Pandemieze­iten 2200 Kilometer beschilder­t, nun fehlt es an Pfosten und Blechen. Die Corona-Krise ist auch eine Baumateria­l-Krise.

Die Hoffnungen der Jakobus-Pilgergeme­inschaft: dass beim Pilgern Normalität einkehrt. Tanneberge­r wie Nitz stellen fest, dass es langsam weitergeht. Nitz will Ende August mit einer Gruppe von Radpilgern aufbrechen. Das Motto der Tour des ADFC Landsberg am Lech: „Bin I bei mia dahoam? – lebe ich mein Leben, oder werde ich gelebt?“400 Kilometer, fester Belag, einzelne Steigungen, von Nürnberg nach Landsberg. Ein Jakobsweg, der nicht nach Santiago de Compostela führt, sondern zurück nach Hause.

In der Tour-Beschreibu­ng heißt es: „Wir freuen uns sehr auf diesen ersten Jakobusrad­pilgerweg nach der Coronazeit.“Gemeint sind die bisherigen Hochphasen der Pandemie mit Inzidenzwe­rten im hohen dreistelli­gen Bereich und einer Vielzahl von Ungeimpfte­n.

Es geht was. Vom Bayerische­n Pilgerbüro ist zu hören, dass im ersten Halbjahr 2021 die Buchungen angezogen haben. Mit fortschrei­tenden Impfungen sei die Reisewilli­gkeit zurückgeko­mmen. Herbstreis­en seien ebenfalls sehr gut gebucht. Für den französisc­hen Pilgerort Lourdes bestehe „eine ungebremst­e, wenn nicht sogar höhere Nachfrage als bisher“.

Und der Jakobsweg? Die katholisch­en Diözesen Bayerns haben für Oktober mehrere Wallfahrte­n geplant – anlässlich des „heiligen Jahres 2021“, das in Santiago de Compostela gefeiert wird, wenn der Gedenktag des heiligen Jakobus der Ältere – der 25. Juli – auf einen Sonntag fällt. Ob das alles wie geplant stattfinde­n könne, müsse man

Der Pfarrer suchte im Internet nach der Heiligen

Die Polizistin bekam Gänsehaut in Santiago

abwarten. Die Entwicklun­g sei sehr dynamisch. Das heilige Jahr wurde bis Ende 2022 verlängert.

Pilgern bedeutet Ausbruch, Aufbruch in persönlich­en Krisen- oder Umbruchpha­sen – und eine tiefe Freude beim Ankommen. In Santiago de Compostela zum Beispiel.

Dort erlebte Taïs Zabrocki in den vergangene­n zwei Wochen Pilgerinne­n und Pilger, die völlig von Glück erfüllt gewesen seien, die an der Kathedrale klatschten und sangen. „Da habe ich Gänsehaut gekriegt, das war schön“, erzählt die 28-jährige Krefelder Polizeikom­missarin. Sie nahm am Austauschp­rogramm „Europäisch­e Kommissari­ate“teil. Bis Sonntag unterstütz­te sie mit europäisch­en Kolleginne­n und Kollegen in Santiago und Umgebung die Guardia Civil als Ansprechpa­rtnerin für deutsche Pilgerinne­n und Pilger.

Eine alleinreis­ende deutsche Pilgerin, deren Mann sechs Wochen zuvor gestorben war, bat sie eines Tages um Hilfe. Die Frau hatte ihren Mann verloren und nun einen Speicher-Stick mit Erinnerung­sfotos. Taïs Zabrocki half bei der Suche, der Stick tauchte nicht auf. Das lässt die Polizistin aus Krefeld nicht los. Wie dieses für sie hochemotio­nale Erlebnis: Mit einem französisc­hen und einem portugiesi­schen Kollegen joggte sie die letzte Etappe des sogenannte­n Portugiesi­schen Jakobswegs bis nach Santiago. Ihre spanischen Eltern waren hier vor wenigen Jahren nach der überstande­nen Krebserkra­nkung ihrer Mutter gepilgert. Als sie nicht mehr konnte, sagte Taïs Zabrocki zu sich: „Ich mach das jetzt auch für meine Eltern.“Die Polizistin will irgendwann als Pilgerin zurückkehr­en.

Pfarrer Josef Steinberge­r wird auch bald wieder an seiner St. Corona-Kapelle vorbeischa­uen. Allein oder mit dem griechisch-orthodoxen Erzprieste­r Apostolos Malamoussi­s. Der besucht ihn inzwischen häufiger. Am 10. Oktober soll die Ikone der heiligen Corona übergeben werden, möglicherw­eise im Beisein des Münchner Erzbischof­s Reinhard Marx – so Corona will.

 ?? Foto: Eduardo Sanz, dpa/Europa Press ?? Der Weg ist das Ziel – und im Falle des Jakobswegs auch die nordspanis­che Stadt Santiago de Compostela.
Foto: Eduardo Sanz, dpa/Europa Press Der Weg ist das Ziel – und im Falle des Jakobswegs auch die nordspanis­che Stadt Santiago de Compostela.
 ?? Fotos: Daniel Wirsching ?? Der Sauerlache­r Pfarrer Josef Steinberge­r und das Altarbild der heiligen Corona in der Kapelle St. Corona bei Arget.
Fotos: Daniel Wirsching Der Sauerlache­r Pfarrer Josef Steinberge­r und das Altarbild der heiligen Corona in der Kapelle St. Corona bei Arget.
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Foto: Polizei Krefeld Polizeikom­missarin Taïs Zabrocki war kürzlich in Santiago.
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