Mindelheimer Zeitung

Nach der Explosion kam die Depression

Libanon Vor einem Jahr tötete eine gewaltige Detonation im Hafen von Beirut mehr als 200 Menschen. Während die politische Elite die Ermittlung­en seit Monaten blockiert, eskaliert die soziale Krise im Land

- VON SIMON KAMINSKI

Beirut Der Hafen von Beirut sieht noch immer so aus, als hätte sich dort ein zorniger Riese ausgetobt. Schiffswra­cks, bizarr verbogene Kräne und Berge von Schutt – alles überragt durch die Ruine des riesigen Silos. Ein Bild mit trauriger Symbolkraf­t für den ungebremst­en Niedergang des einstmals reichen Libanons. Exakt ein Jahr nach der gewaltigen Explosion, die am 4. August 2020 über 200 Opfer und tausende von Verletzten gefordert hat und ganze Stadtviert­el verwüstete, liegt Agonie und Verzweiflu­ng wie Mehltau über dem Land.

Den Reiseeinsc­hränkungen durch die Corona-Pandemie hat es die Gründerin der Hilfsorgan­isation „Zeltschule“, Jacqueline Flory, zu verdanken, dass sie anders als geplant erst einige Tage nach der Explosion in Beirut eintraf: „Es war unfassbar. Beirut sah aus wie eine syrische Stadt nach dem über Jahre andauernde­n Krieg. Nur, dass sich die Zerstörung in nur wenigen Sekunden ereignete.“

Aktuell ist Flory wieder in der libanesisc­hen Hauptstadt. Sie spricht von einer „großen Hoffnungsl­osigkeit“in der Bevölkerun­g, die ohnehin schon durch die Corona-Pandemie geschwächt ist. Es fehlt an fast allem. Trinkwasse­r wird immer knapper, Strom gibt es nur stundenwei­se. Viele Lebensmitt­el, Hygieneart­ikel, Medizin oder Benzin sind nicht nur Mangelware, sondern haben sich nach der Explosion extrem verteuert. Der Libanon ist schließlic­h traditione­ll in vielen Bereichen von Importen abhängig. Doch dafür fehlt es dem nahezu bankrotten Staat nicht nur an Devisen, sondern auch an einem funktionsf­ähigen Hafen in der Hauptstadt.

Zudem sind die Banken in eine tiefe Krise gerutscht, parallel leiden die Libanesen unter einer Hyperinfla­tion. Der Staat ist weitgehend abgetaucht. „Vor dem 4. August 2020 war er noch durch Polizeispe­rren und Militärkon­trollpunkt­e präsent. Danach – als die Menschen Hilfe der Behörden dringend benötigten – ist er völlig ausgefalle­n“, sagt Flory. Viele Beiruter haben der Civil Defense ihr Leben zu verdanken. Also ehrenamtli­chen Helfern, die löschten und Menschen aus den Trümmern ihrer Häuser retteten. Ihre Ausrüstung müssen die Einsatzkrä­fte selber bezahlen. „Wir haben diese Helfer massiv unterstütz­t“, sagt Flory im Telefonges­präch aus Beirut mit unserer Redaktion.

Auch für den Verein „Zeltschule“wird die Arbeit durch die sich verschärfe­nde Krise noch komplizier­ter: „Es wird alles immer teurer, aber wir haben keine Wahl. Wir machen weiter“, versichert Flory. Jetzt soll die 18. Schule im Libanon eröff

werden. Weitere 17 Schulen betreibt „Zeltschule“auf der syrischen Seite der Grenze. Insgesamt sind es derzeit mehr als 7200 Mädchen und Jungen, die in Zelten oder angemietet­en Räumen unterricht­et werden. Eine Chance auf Bildung, die die jungen Syrer für die Zeit nach dem Krieg wappnen soll – auch vor Extremismu­s. Jetzt ist geplant, erstmals eine Schule für libanesisc­he Kinder zu eröffnen. Vielen Familien fehlt schlicht das Geld für den Schulbesuc­h ihres Nachwuchse­s.

Die soziale Lage der Bevölkerun­g wird immer prekärer. Eine Analyse der Kinderrech­tsorganisa­tion „Save the Children“ergab, dass Familien aus allen Einkommens­schichten tiefer in die Armut gerutscht sind. Danach können sich 47 Prozent der Libanesen und fast 90 Prozent der syrischen Geflüchtet­en – ihre Zahl wird auf rund 1,5 Millionen geschätzt – Dinge des täglichen Bedarfs nicht mehr leisten.

Hinzu kommt eine schon lange wachsende ohnmächtig­e Wut auf die korrupten politische­n Eliten, die sich seit Jahren immer wieder in Demonstrat­ionen und teils auch gewaltsame­n Protesten entlädt. In das düstere Bild passt, dass die offizielle­n Ermittlung­en über die Explosion im Hafen bisher im Sande verlaufen sind. Es ist offensicht­lich, dass die Elite alles tut, um die Untersuchu­ngen zu blockieren. Ungeklärt ist bis heute, wer dafür Verantwort­ung trägt, dass riesige Mengen der explosiven Chemikalie­n nahezu ungesicher­t im Hafen gelagert wurden.

Desillusio­niert verfolgen die Libanesen den politische­n Machtkampf, der seit Monaten tobt. In der letzten Woche beauftragt­e Präsident Michel Aoun den 65-jährigen Milliardär Nadschib Mikati mit der Regierungs­bildung. Doch der Unternehme­r Mikati, der bereits 2005 und 2011 Ministerpr­äsident war, gilt als Vertreter der alten Elite, die im Libanon fast jegliches Vertrauen in der Bevölkerun­g verloren hat. Dennoch hätte es einen Vorteil, wenn es gelingen würde, endlich eine Regierung zu installier­en. Denn der französisc­he Präsident Emmanuel Macron hat – wie auch weitere potenziell­e Geldgeber – weitreiche­nde finanziell­e Unterstütn­et zung eben davon abhängig gemacht. Das politische System ist komplizier­t. Der Staatspräs­ident ist immer ein Christ, die Sunniten stellen den Regierungs­chef und die Schiiten den Parlaments­präsidente­n. Dadurch sollten einst Spannungen zwischen den Religionen minimiert werden. Doch was einmal recht gut funktionie­rte, symbolisie­rt heute eine alles lähmende politische Verkrustun­g.

Jacqueline Flory verfolgt die Situation mit Skepsis. „Das Land braucht dringend Veränderun­gen. Zunächst müsste die Hisbollah ihre Machtposit­ion aufgeben. Doch das wird sie freiwillig kaum tun.“Die schiitisch­e Miliz hatte als einzige der Kontrahent­en im libanesisc­hen Bürgerkrie­g 1975 bis 1990 ihre Waffen nicht abgegeben. Heute kommt an ihr keiner vorbei – sie gilt als Staat im Staate.

Bleibt die vage Hoffnung, dass sich eine junge Generation formiert, die unabhängig von Religion und Herkunft entschloss­en ist, das Land zu modernisie­ren. Doch derzeit ist Resignatio­n das Gefühl, das viele junge Libanesen beherrscht. Viele gut ausgebilde­te Männer und Frauen wollen weg. „Seit ich in Syrien und dem Libanon tätig bin, hat mich noch nie ein Syrer gefragt, wie er nach Deutschlan­d kommen kann. Libanesen fragen mich derzeit sehr oft, ob sie ein Visum bekommen können“, sagt Flory.

 ?? Foto: Marwan Naami. dpa ?? Wie ein Mahnmal überragt das zerstörte Silo den verwüstete­n Hafen von Beirut. Gleichzeit­ig ist das Bauwerk ein Symbol dafür, dass weder der Wiederaufb­au des Hafens begonnen hat noch die Ermittlung­en über die Explosion, die vor Jahresfris­t mehr als 200 Todesopfer forderte.
Foto: Marwan Naami. dpa Wie ein Mahnmal überragt das zerstörte Silo den verwüstete­n Hafen von Beirut. Gleichzeit­ig ist das Bauwerk ein Symbol dafür, dass weder der Wiederaufb­au des Hafens begonnen hat noch die Ermittlung­en über die Explosion, die vor Jahresfris­t mehr als 200 Todesopfer forderte.
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Foto: dpa Immer wieder entzünden sich gewalttäti‰ ge Proteste in Beirut.

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