Mindelheimer Zeitung

„Keiner weiß mehr, wohin mit dem Impfstoff“

Pandemie Erst waren sie rar und begehrt, jetzt gibt es sie im Überfluss: Vakzine gegen Corona. Bayernweit mussten bereits 37 000 Dosen weggeworfe­n werden. Warum Impfzentre­n nun ein Problem haben und Hausärzte nicht

- VON MARIA HEINRICH, MICHAEL POSTL UND OLIVER WOLFF

Memmingen Er sieht aus wie ein normaler Bus. Drei Türen, kein Gelenk. Zur Abdunklung sind die Fenster mit Werbung überklebt. Allerdings empfiehlt diese nicht den nächstbest­en Baumarkt, sondern zeigt eine blaue Nadel, die drauf und dran ist, auf ein Coronaviru­s einzustech­en. In der Realität soll die Nadel in den Oberarm eines Impflings, doch das gestaltet sich immer schwierige­r. Die Impfbereit­schaft sinkt landauf landab, weshalb seit einigen Wochen der beschriebe­ne Impfbus in Memmingen und Umgebung unterwegs ist.

Dessen Routen koordinier­t Monika Barth. Sie ist Verwaltung­sleiterin am Memminger Impfzentru­m und wird emotional, wenn sie über die mangelnde Impfbereit­schaft hierzuland­e spricht: „Wir sind gut versorgt mit Impfstoff, da fragt man sich schon, warum wir das nicht auch wahrnehmen.“Der Spezialbus solle dabei helfen, die Menschen zum Impfen zu bewegen, sagt Barth, was auch weitestgeh­end klappe. „Wenn wir am Kaufhaus parken und die Leute zwischen Lebensmitt­el einkaufen und einräumen impfen lassen, ist das bequemer, als den Weg zum Impfzentru­m auf sich zu nehmen“, sagt sie. Um der Nachfrage nachzukomm­en, kalkuliere­n die Malteser, die mit dem Bus unterwegs sind, mit etwa 100 bis 120 Impfdosen pro Tag. Die meisten davon konnten bislang auch verimpft werden.

Was jedoch, wenn trotz aller Kalkulatio­n doch mal etwas von dem Vakzin übrig bleibt? „Dann schicken wir es zurück ins Impfzentru­m“, sagt die Verwaltung­sleiterin. „Unsere Mitarbeite­rinnen telefonier­en stundenlan­g herum, um den übrigen Impfstoff an den Mann oder die Frau zu bringen“, sagt sie. Bisher habe das stets geklappt. Sinkt die Impfbereit­schaft jedoch weiter, könne das auf Dauer nicht gut gehen. „Dann muss der Stoff verworfen werden“, sagt Barth. Eine bessere Alternativ­e gebe es nicht.

Bayernweit mussten bereits rund 37000 Impfdosen weggeworfe­n werden, weil das Haltbarkei­tsdatum abgelaufen war, erklärt das Gesundheit­sministeri­um auf Nachfrage unserer Redaktion. AstraZenec­a ist bei normaler Kühlung sechs Monate haltbar, Johnson & Johnson drei Monate und Biontech sowie Moderna nur etwa 30 Tage. Auf dieses Problem habe man bereits frühzeitig und mehrmals den Bund aufmerksam gemacht – dieser habe es den Bundesländ­ern jedoch untersagt, selbststän­dig übrige Impfdosen beispielsw­eise an Drittlände­r weiterzuge­ben, erklärt ein Ministeriu­mssprecher. Aktuell lagern noch etwa 1,7 Millionen Impfdosen in den bayerische­n Zentrallag­ern, aus dieGrund seien bereits zugesagte Lieferunge­n des Bundes wieder abbestellt worden.

Dass zu viel Impfstoff übrig bleibt, ist ein großes Problem, bestätigt Dr. Max Kaplan, der ärztliche Koordinato­r der Impfzentre­n Bad Wörishofen und Memmingen, unserer Redaktion. „Es ist frustriere­nd und enttäusche­nd“, sagt er. „Endlich ist genügend Impfstoff da, die Infrastruk­tur steht, aber jetzt lassen sich einfach viel zu wenige Menschen impfen.“Gerade die mRNA-Impfstoffe bereiten Probleme, sagt Impfarzt Kaplan, weil sie nur so kurz gelagert werden dürfen.

„Da bleibt wenig Spielraum.“In Bad Wörishofen und Memmingen wurden aus diesem Grund bereits 1824 Biontech-Dosen vernichtet. Eine kostet 15,50 Euro, insgesamt landeten also knapp 30 000 Euro im Mülleimer. „Da ist leider nichts zu machen“, bedauert Kaplan. Den Impfstoff an andere abzugeben, sei aussichtsl­os, weil überall zu viele Dosen übrig seien und aktuell keiner zusätzlich­en Impfstoff gebrauchen könne. „Keiner weiß mehr, wohin mit dem Impfstoff.“

Etwas entspannte­r sei die Situation bei Johnson & Johnson, so Kaplan. Diese Dosen seien im Impfsem zentrum in Bad Wörishofen noch bis 21. Oktober haltbar. „Die kriegen wir weg“, ist Kaplan optimistis­ch. Und auch für AstraZenec­a wurde eine Lösung gefunden. „Wir haben 2000 Dosen zurückgege­ben an den Impfkoordi­nator für Schwaben, und dieser hat sie weitergebe­n an die Bundesregi­erung, die den Impfstoff dann an Länder in der Dritten Welt verteilt.“Auch für Biontech und Moderna wäre ein solches Vorgehen denkbar, erklärt Kaplan. „Die Bedingung ist allerdings, dass das Vakzin tiefgekühl­t transporti­ert wird. Denn sobald es auftaut, beginnt die Haltbarkei­tszeit abzulaufen.“

Bei den Hausärzten stellt sich das Problem aktuell nicht. „Jede Praxis bestellt individuel­l nach Bedarf“, erklärt Ruth Sharp vom Bayerische­n Hausärztev­erband. Vor einigen Monaten habe es aber einen Überschuss an AstraZenec­a gegeben. In den meisten Hausarztpr­axen seien nun die Warteliste­n abgearbeit­et, sodass zunehmend Einzelanfr­agen bedient werden. Daher fordert der Bayerische Hausärztev­erband, künftig auch Einzeldose­n bestellen zu können.

Zurück zu Impfarzt Kaplan. Noch mehr als die Haltbarkei­t der Impfstoffe beschäftig­t ihn die nachlassen­de Impfbereit­schaft. „Innerhalb von ein, zwei Wochen ist sie massiv gesunken.“Zu den Hochzeiten seien in seinen Impfzentre­n jeweils 3500 bis 4000 Dosen pro Woche verimpft worden, aktuell sind es nur noch etwa 500. „Ein großer Anteil davon sind Zweitimpfu­ngen.“

Vor allem bei den 20- bis 50-Jährigen ist seiner Erfahrung nach die Zurückhalt­ung groß. Diese Altersgrup­pe sei zwar weniger gefährdet, bei einer Ansteckung mit einem schweren Verlauf auf der Intensivst­ation zu landen. Doch wenn es passiert, müssten diese Patientinn­en und Patienten dort oft wochenlang behandelt werden. Und haben ein erhöhtes Risiko, am Long-CovidSyndr­om zu erkranken. „Wir haben so viel Impfstoff zur Verfügung, dass alle Menschen, die für eine Impfung infrage kommen, in den nächsten sechs Wochen geimpft werden könnten. So könnten wir entspannt in den Herbst gehen“, sagt Kaplan.

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 ?? Fotos: Hannibal Hanschke/dpa, Michael Postl, Ulrich Wagner ?? Dr. Max Kaplan bezeichnet die Gefahr ablaufende­r Impfstoffd­osen als „frustriere­nd und enttäusche­nd“. Maßnahmen wie der Ein‰ satz von Impfbussen sollen helfen, mehr Menschen zu erreichen.
Fotos: Hannibal Hanschke/dpa, Michael Postl, Ulrich Wagner Dr. Max Kaplan bezeichnet die Gefahr ablaufende­r Impfstoffd­osen als „frustriere­nd und enttäusche­nd“. Maßnahmen wie der Ein‰ satz von Impfbussen sollen helfen, mehr Menschen zu erreichen.
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