„Keiner weiß mehr, wohin mit dem Impfstoff“
Pandemie Erst waren sie rar und begehrt, jetzt gibt es sie im Überfluss: Vakzine gegen Corona. Bayernweit mussten bereits 37 000 Dosen weggeworfen werden. Warum Impfzentren nun ein Problem haben und Hausärzte nicht
Memmingen Er sieht aus wie ein normaler Bus. Drei Türen, kein Gelenk. Zur Abdunklung sind die Fenster mit Werbung überklebt. Allerdings empfiehlt diese nicht den nächstbesten Baumarkt, sondern zeigt eine blaue Nadel, die drauf und dran ist, auf ein Coronavirus einzustechen. In der Realität soll die Nadel in den Oberarm eines Impflings, doch das gestaltet sich immer schwieriger. Die Impfbereitschaft sinkt landauf landab, weshalb seit einigen Wochen der beschriebene Impfbus in Memmingen und Umgebung unterwegs ist.
Dessen Routen koordiniert Monika Barth. Sie ist Verwaltungsleiterin am Memminger Impfzentrum und wird emotional, wenn sie über die mangelnde Impfbereitschaft hierzulande spricht: „Wir sind gut versorgt mit Impfstoff, da fragt man sich schon, warum wir das nicht auch wahrnehmen.“Der Spezialbus solle dabei helfen, die Menschen zum Impfen zu bewegen, sagt Barth, was auch weitestgehend klappe. „Wenn wir am Kaufhaus parken und die Leute zwischen Lebensmittel einkaufen und einräumen impfen lassen, ist das bequemer, als den Weg zum Impfzentrum auf sich zu nehmen“, sagt sie. Um der Nachfrage nachzukommen, kalkulieren die Malteser, die mit dem Bus unterwegs sind, mit etwa 100 bis 120 Impfdosen pro Tag. Die meisten davon konnten bislang auch verimpft werden.
Was jedoch, wenn trotz aller Kalkulation doch mal etwas von dem Vakzin übrig bleibt? „Dann schicken wir es zurück ins Impfzentrum“, sagt die Verwaltungsleiterin. „Unsere Mitarbeiterinnen telefonieren stundenlang herum, um den übrigen Impfstoff an den Mann oder die Frau zu bringen“, sagt sie. Bisher habe das stets geklappt. Sinkt die Impfbereitschaft jedoch weiter, könne das auf Dauer nicht gut gehen. „Dann muss der Stoff verworfen werden“, sagt Barth. Eine bessere Alternative gebe es nicht.
Bayernweit mussten bereits rund 37000 Impfdosen weggeworfen werden, weil das Haltbarkeitsdatum abgelaufen war, erklärt das Gesundheitsministerium auf Nachfrage unserer Redaktion. AstraZeneca ist bei normaler Kühlung sechs Monate haltbar, Johnson & Johnson drei Monate und Biontech sowie Moderna nur etwa 30 Tage. Auf dieses Problem habe man bereits frühzeitig und mehrmals den Bund aufmerksam gemacht – dieser habe es den Bundesländern jedoch untersagt, selbstständig übrige Impfdosen beispielsweise an Drittländer weiterzugeben, erklärt ein Ministeriumssprecher. Aktuell lagern noch etwa 1,7 Millionen Impfdosen in den bayerischen Zentrallagern, aus dieGrund seien bereits zugesagte Lieferungen des Bundes wieder abbestellt worden.
Dass zu viel Impfstoff übrig bleibt, ist ein großes Problem, bestätigt Dr. Max Kaplan, der ärztliche Koordinator der Impfzentren Bad Wörishofen und Memmingen, unserer Redaktion. „Es ist frustrierend und enttäuschend“, sagt er. „Endlich ist genügend Impfstoff da, die Infrastruktur steht, aber jetzt lassen sich einfach viel zu wenige Menschen impfen.“Gerade die mRNA-Impfstoffe bereiten Probleme, sagt Impfarzt Kaplan, weil sie nur so kurz gelagert werden dürfen.
„Da bleibt wenig Spielraum.“In Bad Wörishofen und Memmingen wurden aus diesem Grund bereits 1824 Biontech-Dosen vernichtet. Eine kostet 15,50 Euro, insgesamt landeten also knapp 30 000 Euro im Mülleimer. „Da ist leider nichts zu machen“, bedauert Kaplan. Den Impfstoff an andere abzugeben, sei aussichtslos, weil überall zu viele Dosen übrig seien und aktuell keiner zusätzlichen Impfstoff gebrauchen könne. „Keiner weiß mehr, wohin mit dem Impfstoff.“
Etwas entspannter sei die Situation bei Johnson & Johnson, so Kaplan. Diese Dosen seien im Impfsem zentrum in Bad Wörishofen noch bis 21. Oktober haltbar. „Die kriegen wir weg“, ist Kaplan optimistisch. Und auch für AstraZeneca wurde eine Lösung gefunden. „Wir haben 2000 Dosen zurückgegeben an den Impfkoordinator für Schwaben, und dieser hat sie weitergeben an die Bundesregierung, die den Impfstoff dann an Länder in der Dritten Welt verteilt.“Auch für Biontech und Moderna wäre ein solches Vorgehen denkbar, erklärt Kaplan. „Die Bedingung ist allerdings, dass das Vakzin tiefgekühlt transportiert wird. Denn sobald es auftaut, beginnt die Haltbarkeitszeit abzulaufen.“
Bei den Hausärzten stellt sich das Problem aktuell nicht. „Jede Praxis bestellt individuell nach Bedarf“, erklärt Ruth Sharp vom Bayerischen Hausärzteverband. Vor einigen Monaten habe es aber einen Überschuss an AstraZeneca gegeben. In den meisten Hausarztpraxen seien nun die Wartelisten abgearbeitet, sodass zunehmend Einzelanfragen bedient werden. Daher fordert der Bayerische Hausärzteverband, künftig auch Einzeldosen bestellen zu können.
Zurück zu Impfarzt Kaplan. Noch mehr als die Haltbarkeit der Impfstoffe beschäftigt ihn die nachlassende Impfbereitschaft. „Innerhalb von ein, zwei Wochen ist sie massiv gesunken.“Zu den Hochzeiten seien in seinen Impfzentren jeweils 3500 bis 4000 Dosen pro Woche verimpft worden, aktuell sind es nur noch etwa 500. „Ein großer Anteil davon sind Zweitimpfungen.“
Vor allem bei den 20- bis 50-Jährigen ist seiner Erfahrung nach die Zurückhaltung groß. Diese Altersgruppe sei zwar weniger gefährdet, bei einer Ansteckung mit einem schweren Verlauf auf der Intensivstation zu landen. Doch wenn es passiert, müssten diese Patientinnen und Patienten dort oft wochenlang behandelt werden. Und haben ein erhöhtes Risiko, am Long-CovidSyndrom zu erkranken. „Wir haben so viel Impfstoff zur Verfügung, dass alle Menschen, die für eine Impfung infrage kommen, in den nächsten sechs Wochen geimpft werden könnten. So könnten wir entspannt in den Herbst gehen“, sagt Kaplan.