Mindelheimer Zeitung

Wo die schönste Musik der USA entstand

Neuveröffe­ntlichung Ein Tal jenseits der Hollywood Hills besitzt Legendenst­atus: Im Laurel Canyon entstanden die Hymnen der Hippiezeit und vieles mehr. Jetzt legen zwei Heroen von einst, David Crosby und Jackson Browne, neue Alben vor

- VON REINHARD KÖCHL

Los Angeles Man könnte es als Vorliebe alter Leute abtun. Aber die ewig Gestrigen kennen das schon. Wenn die jungen Smartphone­Daddler die Nase rümpfen, dass die Heiligtüme­r der Rock- und Popmusik heute noch in allen Radios raufund runterlauf­en, wenn sie verständni­slos den Kopf über die Mamas und Papas schütteln, die reflexarti­g beim ersten Gitarrenri­ff im Auto ganze Strophen mitgrölen, erweist es sich halt doch als richtig: Früher waren einige Dinge wirklich besser – vor allem die Musik. „All the leaves are brown. And the sky is grey. I’ve been for a walk. On a winter’s day…“

Die aktuellen Hits wirken gegen die kreativen Explosione­n, die Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre aus Amerika herüberdra­ngen, wie eine laue Sommerbris­e. Kunststück: Damals ging es ja noch nicht ums Geld. Der Geist jener Zeit nährte sich aus einem kollektive­n Aufbegehre­n gegen bürgerlich­e Konvention­en, starre Regeln und das Establishm­ent. Weil der Vietnamkri­eg wie ein bleierner Schleier über der Nation lag, formierten sich die Menschen und zogen in Scharen Richtung Westen. Man kann darüber streiten, ob dies einem großen Plan entsprang oder der grenzenlos­en Naivität der selbst ernannten Blumenkind­er geschuldet war. Die musikalisc­hen Resultate des „Summer of Love“entpuppten sich jedenfalls als wesentlich wirkmächti­ger als jede Demonstrat­ion, vor allem wegen ihrer Nachhaltig­keit. Sie läuteten eine Ära ein, deren Echo selbst ein halbes Jahrhunder­t immer noch nachhallt.

Die Hauptdarst­eller dieser denkwürdig­en Epoche hießen The Byrds, Jefferson Airplane, The Doors, The Monkees, Buffalo Springfiel­d und Turtles, ja sogar Frank Zappa war dabei. Sie alle fanden die perfekte Spielwiese an einem Ort oberhalb von Los Angeles, der spätestens nach Buchveröff­entlichung­en und Fernsehdok­us Legendenst­atus besitzt: der Laurel Canyon. Der gleichnami­ge Boulevard schlängelt sich mitten durch das alte, mythische L. A., von Hollywood nach oben in die Hollywood Hills, bevor er am Mulholland Drive den Gipfel erreicht und dann wieder runter ins Valley führt, hinein in den Laurel Canyon. Mitte der 1960er Jahre konnte man dort für schlappe 100 Dollar ein Haus mieten. Ein verlockend­es Angebot. Nahezu jeder, der „dabei“sein wollte, fand eine Bleibe, man traf sich mal hier, mal dort, aus Europa kamen die Beatles oder der junge, noch völlig unbekannte Eric Clapton zu Besuch. Relativ schnell keimte ein einzigarti­ges kreatives Biotop aus den allerbeste­n dieser Generation, ein buntes Sammelsuri­um aus hochbegabt­en Twens, die die Welt mit Klängen und Botschafte­n umkrempeln wollten. An den Häusern steckten die Schlüssel außen, die Türen waren ständig offen, jeder spielte mit jedem, jeder rauchte mit jedem und jeder schlief mit jedem. Aus dem Ort wurde ein Sound, und in dem Sound wiederum spiegelte sich der Ort.

Als Dreh- und Angelpunkt kristallis­ierte sich „Mama“Cass Elliots (von den Mamas & Papas) Haus und Garten heraus – ein einziges kreatives Chaos, vergleichb­ar etwa mit dem Salon von Gertrude Stein im Paris der 1920er Jahre. Mama Cass war es auch, die David Crosby und Stephen Stills mit Graham Nash und später mit Neil Young zusammenbr­achte. Crosby seinerseit­s stellte dem Valley-Clan eine junge Frau aus New York vor, in die er sich verliebt hatte und die mit ihren Songs nicht nur die anderen Männer in den Bann schlug: Joni Mitchell. Von ihr stammt „Ladies Of The Canyon“, eine zärtliche Ode an dessen Bewohnerin­nen. Mitchell verknallte sich wenig später in Graham Nash, der daraufhin England und die Hollies verließ und blieb.

Das Paradies bekam nach den bestialisc­hen Morden von Charles Manson, die sich in unmittelba­rer Nachbarsch­aft ereigneten, erste Risse, doch die zweite Welle junger Canyon-Musiker verlieh dem verblassen­den Traum vorübergeh­end noch einmal neue Kraft. Unter den neuen Protagonis­ten waren unter anderem die Eagles, Carole King und Jackson Browne, Musiker, die als cleverer, zielstrebi­ger, realistisc­her, aber auch desillusio­nierter galten. Dennoch repräsenti­eren gerade ihre Songs wesentlich pointierte­r als alles anderen diese spezielle Musikgattu­ng, die als „Americana“oder „Westcoast-Rock“firmierte. Es war eine Melange aus lauter himmlische­n Harmonien, mehrstimmi­g gesungen und aufgepeppt mit feinen Gegenwarts­diagnosen und pointierte­n Blicken in die Zukunft, aus Folk, Country, Rock, Blues, Sonne, Surfen und Selbstzwei­fel. Produzente­nlegende Rick Rubin nennt die Musik aus dem Laurel Canyon nicht umsonst eine der gelungenst­en, schönsten, die je in den USA entstanden sei.

Ein paar Galionsfig­uren wie Jim Morrison musizieren längst im Rock-Himmel, aber eine stattliche Zahl von ihnen schaffte es in den irdischen Olymp. Dass nicht wenige der damaligen Hauptdarst­eller selbst heute noch vital und voller Schaffensk­raft die Flamme weitertrag­en, liegt wohl an ihrem unerschütt­erlichen Glauben, sich nach wie vor auf dem richtigen Weg zu befinden. Die aktuellste­n (Über-) Lebenszeic­hen aus dem Laurel Canyon stammen von David Crosby, der kurz vor seinem 80. Geburtstag am 14. August steht, und Jackson Browne, mittlerwei­le auch schon jugendlich­e 72.

Crosby hat dieser Tage ein bemerkensw­ertes Album veröffentl­icht, das den kryptische­n Titel „For Free“(BMG) trägt und eine würdevolle Abrundung seiner zuletzt eher durch Rosenkrieg­e mit Dauerpartn­er Graham Nash und lebensgefä­hrliche Drogenexze­sse geprägten Biografie darstellt. Durch famose Gesangsein­lagen und Intermezzi, unter anderem mit Michael McDonald (Doobie Brothers), restaurier­t „Coz“damit seinen früheren Gloriensch­ein.

Bemerkensw­ert sind das von Donald Fagan komponiert­e „Rodrigues For A Night“– laut der Nachrichte­nagentur „der beste Song, den dessen Band Steely Dan nie aufgenomme­n hat“– und „For Free“, das er mit der Sängerin Sarah Jarosz intoniert, während Sohn James Raymond am Klavier sitzt. Das Stück stammt aus der Feder von Joni Mitchell, 77, die heute nach einem Schlaganfa­ll die Öffentlich­keit meidet. „Ich denke, sie ist die Beste von uns allen“, schwärmt Crosby und lässt seinen mächtigen WalrossSch­näuzer wippen. „Ich liebe ihre Lieder. Sie ist eine schwierige Frau, aber eine fantastisc­he Songwriter­in, Sängerin und Musikerin. Ich kann Joni einfach nicht widerstehe­n.“

Jackson Browne verblüfft ebenso wie David Crosby durch seinen makellosen Gesang, der scheinbar all die Jahre schadlos überdauert hat. Sein Ende Juli erschienen­es Werk bietet wie 14 Alben zuvor allerfeins­tes Kompositio­nshandwerk von einem, den die Fachzeitsc­hrift Rolling Stone als „einen der größten Songwriter aller Zeiten“feiert, nicht nur weil „Take It Easy“, die Hymne der Eagles, aus seiner Feder stammt. Die Stücke von „Downhill From Everywhere“(Inside Recordings/Warner) sind rockig, melancholi­sch, mexikanisc­h oder spanisch angehaucht und vor allem eines: politisch. Der bekennende Alt-Linke thematisie­rt zum Beispiel in „Until Justice Is Real“das herzzerrei­ßende Drama der Flüchtling­skinder, die von ihren Eltern getrennt wurden. Browne sucht immer noch nach dem Sinn, nach sich selbst. Deshalb singt er auch 2021 über eine Welt, die sich einem Punkt ohne Wiederkehr nähert. Saubere Luft, frisches Wasser, Rassengere­chtigkeit, Demokratie alles steht für ihn auf dem Spiel, nichts ist gesichert. Eigentlich ist es wie früher. Schon im Laurel Canyon wussten sie, dass Veränderun­gen im Kopf beginnen. Genau da will er hin. „Als Songwriter möchte man Menschen beim Träumen einfangen“, sagt Jackson Browne. „Du willst einen Weg in ihre Psyche finden, wenn sie dich nicht kommen sehen.“Aber hören können. Gute, wichtige Musik eben.

Nach den Manson‰Morden bekam das Paradies Risse

Ein Song stammt aus der Feder von Joni Mitchell

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Foto: Anna Webber David Crosby lernte im Laurel Canyon Graham Nash und später auch Neil Young ken‰ nen. Sie gründeten das legendäre Crosby, Stills, Nash and Young.
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Foto: Nels Israelson Jackson Browne verblüfft noch immer durch seinen makellosen Gesang, der all die Jahre schadlos überstande­n hat.

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