Mindelheimer Zeitung

Der Weitsprung‰Thriller

Leichtathl­etik Der Wettbewerb beginnt wie eine Seifenoper und steigert sich zum Nervendram­a, an dessen Ende Malaika Mihambo mit sieben Metern Gold gewinnt. Dann bricht ein Schrei aus ihr heraus

- VON ANDREAS KORNES

Tokio Es begann wie die x-te Wiederholu­ng einer Seifenoper im Vormittags­programm. Ganz nett, aber im Kern dann doch eher langweilig. Die besten Weitspring­erinnen der Welt ließen es vermeintli­ch locker angehen im olympische­n Finale von Tokio. Malaika Mihambo hatten die Experten im Vorfeld zur Favoritin erklärt. Dabei wusste niemand so genau, wo die Weltmeiste­rin von 2019 steht. Nicht einmal sie selbst. Die wenigen Wettkämpfe in Zeiten von Corona hatten mittelmäßi­ge Ergebnisse gezeitigt. Probleme im Anlauf habe sie, war zu hören. Das Timing stimme nicht. Erst lief sie kürzer an, um dann wieder zur alten Länge zurückzuke­hren. Im Vollsprint auf einen kleinen Balken zuzustürme­n und diesen dann beim Absprung zu treffen, ist genau so schwierig, wie es sich liest.

Da Mihambo aber vor zwei Jahren in Doha überlegen Weltmeiste­rin geworden war, galt sie nun eben auch in Tokio als Favoritin auf Olympiagol­d. Davon war anfangs aber wenig zu sehen. Die Nigerianer­in Ese Brume und die Amerikaner­in Brittney Reese setzten sich an die Spitze der Konkurrenz. Dahinter lauerte Mihambo.

Entspannt hatte sie die Tartanbahn betreten. Keine Spur von Nervosität. Im engen, brütend heißen Olympiasta­dion blieb sie cool. Im zweiten Versuch landete die Deutsche nach 6,95 Metern. Vorerst Platz drei. Gut, aber war Gold noch möglich? Der dritte Sprung: nicht weiter. Der vierte: durchgelau­fen. Der fünfte: übertreten.

Und plötzlich war aus der lauen Seifenoper ein knallharte­r Thriller geworden. Ein letzter Sprung blieb Mihambo noch. Bronze hatte sie in diesem Moment schon sicher. Als Drittplatz­ierte musste sie direkt vor Brume und Reese springen. „Für mich ist es die Position, die ich am wenigsten mag. Weil man nichts mehr machen kann. Ich mag es lieber, wenn ich im letzten Versuch die Letzte bin und weiß: Okay, ich schau mir jetzt an, was die anderen machen – und weiß dann, dass ich schon habe, was ich will. Oder dass ich mich noch anstrengen muss“, erzählte Mihambo später.

Trotzdem habe sie ein gutes Gefühl gehabt. „Ich wusste, ich habe jetzt nur noch diesen letzten Versuch und muss mein Bestes geben. Aber es war auch das Gefühl: Ich will mein Bestes geben. Ich weiß, dass ich es besser kann.“Sie habe einen starken Glauben daran gehabt, es doch noch zu schaffen, nach ganz zu springen. „Ich habe diese innere Stärke gefühlt.“

Nun ist es im Sport aber oft so, dass Athleten voll innerer Stärke an den Start gehen und danach erklären müssen, warum es nicht geklappt hat. Das ist auch den größten Favoriten schon passiert. Druck kann lähmen. Erwartunge­n erfüllen zu müssen kann die Muskeln bleiern machen. Nicht zuletzt die Turnerin Simone Biles hat der Weltöffent­lichkeit gerade erst vor Augen geführt, wie sehr selbst die besten Athletinne­n und Athleten unter diesem Druck leiden. Auch Mihambo hatte diese inneren Kämpfe zu führen. Aber dann habe sie für sich herausgefu­nden, dass sie niemandem etwas beweisen müsse. „Dass ich nichts zu verlieren habe. Ich muss nicht nach Tokio reisen, um Gold zu holen. Ich kann mich auch ohne Gold wohlfühlen. Ich bin eine gute Sportlerin und mag mich als Mensch. Ich bin glücklich mit dem, was ich erreicht habe.“Das zu realisiere­n habe ihr die Lockerheit gegeben, bis zum Schluss an sich zu glauben.

In dem Moment, als Mihambo zum Flug ansetzte, war klar, dass er zu Gold reichen würde. 19,5 Zentivorne meter hatte sie am Absprung verschenkt und landete trotzdem bei 7,00 Metern. Es sollte der einzige Sieben-Meter-Sprung an diesem Vormittag bleiben. Erst aber musste Mihambo noch die letzten Versuche ihrer härtesten Konkurrent­innen abwarten. Mit geschlosse­nen Augen saß sie da. „Für mich war das ein schlimmer Moment. Ich wusste ja, dass sieben Meter geschlagen werden können. Das kann jede von den beiden auch springen. Und ich konnte nichts mehr machen. Nur warten.“

Dann brach es aus ihr heraus. Ein wilder Schrei hallte durch das leere Rund. Der Rest war Freude. Weil der Weg zu Gold so hart und steinig gewesen sei. Weil sie immer wieder Selbstzwei­fel gequält hätten, „als ich nicht mehr daran anknüpfen konnte, wo ich in Doha aufgehört habe“. Damals war sie 7,30 Meter gesprungen.

Diesmal reichten 30 Zentimeter weniger zum größten Sieg ihrer Karriere. Europameis­terin, Weltmeiste­rin, Olympiasie­gerin. Was soll denn jetzt noch kommen? Erst einmal Urlaub, sagte Mihambo in den weitläufig­en Katakomben des Stadions in Tokio, eine Deutschlan­dfahne über den Schultern. Und dann wolle sie herausfind­en, wie weit sie noch springen könne. „Klar, dieses Jahr habe ich noch keine neue Bestleistu­ng aufstellen können. 7,30 Meter muss man auch erst mal wieder schlagen. Aber ich weiß, dass ich das kann.“

Druck machen will sie sich nicht mehr. Warum auch? Mihambo hat alles gewonnen, was man gewinnen kann. Vor allem den Kampf gegen sich selbst.

„Ich muss nicht nach Tokio reisen, um Gold zu holen. Ich kann mich auch ohne Gold wohlfühlen. Ich bin eine gute Sportlerin und mag mich als Mensch. Ich bin glücklich mit dem, was ich erreicht habe.“

Maleika Mihambo

 ?? Foto: David J. Philipp, dpa ?? Europameis­terin, Weltmeiste­rin, Olympiasie­gerin – Malaika Mihambo.
Foto: David J. Philipp, dpa Europameis­terin, Weltmeiste­rin, Olympiasie­gerin – Malaika Mihambo.

Newspapers in German

Newspapers from Germany