Mindelheimer Zeitung

Fred Uhlman: Der wiedergefu­ndene Freund (1)

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Stuttgart 1932: In die Schule von Hans Schwarz kommt ein Neuer, Konradin von Hohenfels. Eine Freundscha­ft entsteht, bis Hans erkennt, weshalb Konradins Eltern ihn meiden: Sie verach‰ ten Juden. Die Wege trennen sich. Jahre später stößt Hans noch einmal auf Konradin. © 1998 by Diogenes Verlag AG Zürich

Wir verfügten sogar über einen Prinzen: Hubertus von Schleim-Gleim-Lichtenhei­m, aber der war so blöde, dass selbst seine fürstliche Abkunft ihn nicht vor dem Gespött der Klasse rettete.

Mit diesem hier war das jedoch anders. Die Hohenfels gehörten zu unserer Geschichte. Ihre Burg auf der Schwäbisch­en Alb, irgendwo zwischen Hohenstauf­en, Teck und Hohenzolle­rn, lag zwar in Trümmern, die Türme waren zerstört und die Höhe selbst war kahl, aber der Ruhm des Geschlecht­s war nicht verblasst. Seine Taten waren mir so vertraut wie die Hannibals und die Cäsars oder des Scipio Africanus. Hildebrand­t von Hohenfels starb 1190, als er Kaiser Barbarossa aus der reißenden Strömung des Saleph zu retten suchte. Anno von Hohenfels war der Freund Friedrichs II. – des glanzvolls­ten aller Staufer, „Stupor mundi“genannt – und half ihm bei der Abfassung seines Buches „Über die Falkenjagd“. Nach seinem Tod im Jahr 1247 zu Salerno in den Armen des Kaisers wurde er in einem von vier Löwen getragenen Porphyr-Sarkophag in Catania beigesetzt. Friedrich von Hohenfels starb 1525 in der Schlacht von Pavia, nachdem er König Franz I. von Frankreich gefangen genommen hatte; er fand seine letzte Ruhestätte im Kloster Hirsau. Waldemar von Hohenfels fiel 1813 in der Schlacht von Leipzig. Zwei Brüder, Fritz und Ulrich, ließen 1870 bei Champigny ihr Leben, zuerst der jüngere, dann der ältere bei dem Versuch, den Bruder aus dem Gefecht zu tragen. Auch bei Verdun fiel ein Friedrich von Hohenfels.

Und nun saß hier, in Reichweite, ein Nachfahre dieser berühmten schwäbisch­en Familie, im selben Raum wie ich, vor meinen wachen, gebannten Augen. Jede seiner Bewegungen beschäftig­te mich: wie er seine blankgeput­zte Schulmappe öffnete, mit weißen, makellosen Händen (welch ein Gegensatz zu meiner kurzen, plumpen tintenvers­chmierten Hand), Füllfederh­alter und scharf gespitzte Bleistifte zurechtleg­te und wie er sein Schreibhef­t aufschlug und schloss. Alles an ihm erregte meine Neugier: die Sorgfalt, mit der er einen Bleistift wählte, seine Art zu sitzen – aufrecht, als sei er jeden Augenblick gewärtig, aufzustehe­n und einer unsichtbar­en Armee Befehle zu erteilen –, und auch wie er sich über das blonde Haar strich. Ich entspannte mich erst, als er sich wie die ganze Klasse zu langweilen begann und unruhig auf die Pausenklin­gel wartete. Ich betrachtet­e sein kühnes, gutgeschni­ttenes Gesicht – kein Anbeter hätte die schöne Helena eindringli­cher betrachten und von seiner eigenen Unwürdigke­it mehr überzeugt sein können. Durfte ich wagen, ihn anzusprech­en? In welchem europäisch­en Getto drängten sich meine Vorfahren, als der Stauferkai­ser Anno von Hohenfels seine juwelenges­chmückte Hand reichte? Was hatte ich – Sohn eines jüdischen Arztes, Enkel und Urenkel eines Rabbi und einer Reihe von Krämern und Viehhändle­rn – diesem goldhaarig­en Jungen zu bieten, dessen Name genügte, um meine Ehrfurcht zu wecken?

Wie konnte er in seiner Überlegenh­eit meine Schüchtern­heit begreifen, meinen argwöhnisc­hen Stolz und meine Verletzlic­hkeit? Was hatte er, Konradin von Hohenfels, mit einem Hans Schwarz gemein, dem es so sehr an Selbstbewu­sstsein und eleganten Manieren mangelte?

Seltsamerw­eise war ich nicht der Einzige, der sich scheute, ihn anzusprech­en. Fast alle Jungen schienen ihn zu meiden. Sie, die sich sonst so rauh und grob benahmen und auch so daherredet­en, sich Schimpfnam­en an den Kopf warfen: Rindvieh, Stinktier, Simpel, Schweinehu­nd oder Drecksau, einander mit und ohne Anlass knufften und stießen, sie alle verstummte­n verlegen in seiner Gegenwart und machten ihm Platz, wo er ging und stand. Auch sie schien er verhext zu haben. Hätte ich oder ein anderer gewagt, in einem solchen Aufzug zu erscheinen wie Hohenfels, er wäre gnadenlos lächerlich gemacht worden. Sogar Herr Zimmermann vermied, ihn zu behelligen.

Mehr noch: Zimmermann korrigiert­e seine Hausaufgab­en mit der größten Sorgfalt. Statt kurzer Bemerkunge­n, wie sie mein Heftrand aufwies: „Schlechter Aufbau“, „Was soll das bedeuten?“, „Nicht ganz schlecht“, „Bitte mehr Sorgfalt“, bedachte er seine Arbeiten mit einer Überfülle von Anmerkunge­n und Erläuterun­gen, hinter denen ein erhebliche­r Zeitaufwan­d steckte.

Es schien Hohenfels nicht zu kümmern, dass man ihn sich selbst überließ. Vielleicht war er dies gewohnt. Aber er war nicht im mindesten blasiert oder eitel, und jede bewusste Absicht, anders zu sein als wir, schien ihm fremd. Er war eben anders: Er benahm sich überaus höflich, lächelte, wenn man ihn ansprach, hielt die Tür auf, wenn jemand hinausging. Trotzdem blieben die Jungen in furchtsame­r Distanz. Vermutlich machte sie wie mich die Hohenfels-Aura scheu und befangen. Selbst der Prinz und der Baron ließen ihn zunächst in Ruhe. Eine Woche nach seinem Eintreffen sah ich, dass ihn die „Vons“in der Pause nach der zweiten Stunde stellten. Der Prinz sprach ihn an, dann der Baron und der Freiherr. Ich verstand nur ein paar Worte: „Meine Tante Hohenlohe“, „Maxi sagte“– wer war Maxi? Weitere Namen fielen, Namen, die ihm offenbar alle vertraut waren. Manche verursacht­en allgemeine Heiterkeit, andere wurden mit allen Zeichen des Respekts genannt, ja nur geflüstert, als ob Seine Königliche Hoheit persönlich zugegen wäre. Aber dieses Rencontre blieb folgenlos. Wenn sie sich begegneten, wurde genickt, gelächelt, wurden ein paar Worte gewechselt, Konradin jedoch blieb für sich wie bisher.

Ein paar Tage später unternahm der „Kaviar-Klub“einen Anlauf. Drei Jungen, Reutter, Müller und Frank, hatten diesen Spitznamen erhalten, weil sie sich strikt absonderte­n, überzeugt, sie – sie allein von uns allen – seien auserwählt, der Welt ihren Stempel aufzudrück­en. Sie gingen ins Theater und in die Oper, lasen Baudelaire, Rimbaud und Rilke, ließen sich über Paranoia und das Es aus, bewunderte­n „Dorian Gray“und die „Forsyte Saga“und selbstvers­tändlich sich selbst. Franks Vater war ein reicher Fabrikant. Sie verkehrten in seinem Haus und trafen sich dort mit Schauspiel­ern und Schauspiel­erinnen, auch mit einem Maler, der von Zeit zu Zeit nach Paris reiste, um „meinen Freund Pablo“zu besuchen, und mit einigen Damen, die literarisc­he Ambitionen und Beziehunge­n pflegten. Sie durften rauchen und die Schauspiel­erinnen beim Vornamen nennen. Nachdem sie einmütig entschiede­n hatten, dass ein von Hohenfels ein Gewinn für ihre Clique wäre, näherten sie sich ihm – nicht ohne gewisse Befürchtun­gen. Frank, der am wenigsten Nervosität zeigte, hielt ihn beim Verlassen der Klasse an und stotterte etwas von „unserem kleinen Salon“, von Lyriklesun­gen, von der Notwendigk­eit, sich gegen das „profanum vulgus“abzuschirm­en, und fügte hinzu, es wäre für sie eine Ehre, wenn er sich zu ihrem „Literaturb­und“geselle. »2. Fortsetzun­g folgt

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