Mindelheimer Zeitung

Tom Schilling im Berlin der 30er Jahre

Kino Dominik Graf schafft es mit seiner Kästner-Verfilmung drei Stunden lang, nicht nur eine Liebesgesc­hichte, sondern auch die Zeit jenseits aller Sepia-Ästhetik lebendig werden zu lassen

- VON MARTIN SCHWICKERT

Der Zug fährt ein im Berliner U-Bahnhof Heidelberg­er Platz. Alles sieht gegenwärti­g aus. Die orangefarb­enen Waggons. Die Werbetafel­n. Die Kleidung der Fahrgäste, die aussteigen und Richtung Ausgang streben. Die Kamera folgt ihnen durch die langen Gänge und hängt sich an einen Mann mit dunkler Jacke, den man nur von hinten sieht. Er eilt die Treppe hinauf. Das helle Tageslicht blendet ein wenig. Bevor sich die Augen daran gewöhnt haben, ist der Mann in der Menge verschwund­en. Aber die Menschen hier oben sehen anders aus. Die Männer tragen Hüte und Anzüge, die Frauen Kleider aus einer anderen Zeit, denn die Stufen haben das Publikum aus der Gegenwart geradewegs ins Berlin des Jahres 1931 geführt.

„Dieser verdammte Krieg“, hört man eine Stimme sagen. Mit Tom Schilling kommt erstmals ein bekanntes Gesicht ins Bild. Fast schon schwerelos und gleichzeit­ig eindringli­ch verzahnt Dominik Graf gleich zu Beginn seiner Erich-Kästner-Verfilmung „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“Vergangenh­eit und Gegenwart miteinande­r.

Anfangssze­ne wirkt wie ein Zauber, der dafür sorgt, dass sich die folgenden drei Kinostunde­n im Berlin der Weimarer Republik auch ohne angestreng­te Modernisie­rungen ungeheuer heutig anfühlen. Wie Kästners Roman so ist auch Grafs Film nicht von ausgeklüge­lten Plotstrukt­uren, sondern von einer mäandernde­n Erzählung angetriebe­n.

Dieser Jakob Fabian, der als Werbetexte­r für eine Zigaretten­fabrik arbeitet und zur Untermiete in einer Wilmersdor­fer Wohnung lebt, lässt sich durch die Berliner Nächte treiben und versteht sich eher als Beobachter denn als Akteur seines eigenen Lebens. Tom Schilling ist wunderbar in der Rolle des urbanen Drifters, die er vor neun Jahren in dem stilvollen Berlin-Film „Oh Boy“schon einmal eingenomme­n hat. Es gibt keinen deutschen Schauspiel­er, dem man so gerne beim Zuschauen zuschaut, wie ihm.

Mühelos vereint er die Melancholi­e und wache Lebensfreu­de, die Abgeklärth­eit und zärtliche Empathie seiner Figur in sich. Denn irgendwann ist es für Fabian mit dem bloßen Beobachten vorbei, als er die Barfrau, Juristin und angehende Filmschaus­pielerin Cornelia (Saskia Rosendahl) kennenlern­t, die für ihn die Liebe seines Lebens ist und sich selbst nicht von Gefühlen abhängig machen will. Eine Wahl, die Fabian nicht hat, wenn er beim Besuch seiner Eltern in Dresden den halben Tag auf den Treppenstu­fen neben dem Telefon auf ihren Anruf wartet. Als Cornelia ihn schließlic­h für eine pragmatisc­he Beziehung zu einem einflussre­ichen Filmproduz­enten sitzen lässt, nimmt Fabian das scheinbar klaglos hin. Aber man sieht ihm an, dass die Welt unter seinen Füßen davon geschwemmt wird.

Der „Steinhaufe­n“Berlin treibt ohnehin einer düsteren Zukunft entgegen. Auf der Straße wie an der Universitä­t sind die Nazis auf dem Vormarsch. Gefühlvoll inszeniert Graf die Romanze vor der Kulisse des babylonisc­hen Berlins, in das langsam das Stiefelkna­llen der SATruppen einsickert. Liebesgesc­hichte und Sittengemä­lde greifen bruchlos ineinander in diesem langen, aber nie langweilig­en Filmrausch, aus dem der Protagonis­t wie auch das Publikum durch die heranDie nahende Machtergre­ifung unsanft erwacht.

Und dazwischen gibt es immer wieder zärtliche Miniaturen. Wenn Cornelia, Fabian und sein Freund Labude (Albrecht Schuch) einen Sommertag im Umland verbringen, liegt ein Hauch von Truffauts „Jules und Jim“in der Luft. Als Fabians Mutter ihren Jungen in Berlin besucht, geht die wechselsei­tige Fürsorglic­hkeit, die die beiden sich entgegenbr­ingen, auf ganz sanfte Art zu Herzen.

In den drei, angenehm unepischen Kinostunde­n lotet Graf die Möglichkei­ten cineastisc­hen Erzählens voll aus. Er arbeitet mit wechselnde­n Off-Kommentare­n, in die Kästners Originalte­xt mit einfließt, verschiede­nen Filmformat­en, hineingesc­hnittenen historisch­e Dokumentar­aufnahmen und grobkörnig­em Super-8-Bildern. Sein Film ist Lichtjahre entfernt von der konvention­ellen Sepia-Ästhetik deutscher Historienf­ilme und ebenso nah am Atem der Geschichte wie am Puls seiner eigenen Zeit.

Tom Schilling ist wunderbar in der Rolle

» Fabian oder Der Gang vor die Hun‰ de – 2021, 176 min, R: Dominik Graf, D: Tom Schilling, Saskia Rosendahl, Albrecht Schuch, Start am 5. August

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Foto: dpa, Lupa Film, Hanno Lentz Tom Schilling spielt in Dominik Grafs Literaturv­erfilmung „Fabian“die Titelrolle.

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