Mindelheimer Zeitung

Ein Plädoyer für höhere Schulden

Interview Klimakatas­trophen, Corona-Folgen, Dauerkrise­n: Wie finanziere­n wir die großen Herausford­erungen der Zukunft? Der Augsburger Ökonom und „Club of Rome“-Vordenker Stefan Brunnhuber schlägt eine radikal einfache Lösung vor

- Interview: Michael Pohl

Augsburg Der Ökonom und Psychiater Stefan Brunnhuber fordert als Lehre aus der Klima- und Corona-Krise ein grundlegen­des Umdenken in Politik und Gesellscha­ft. „Ich denke hier aber nicht an Verbote, sondern an eine liberale Agenda. Es geht um einen Staat, der ermöglicht, und nicht um einen, der nur reglementi­ert“, sagte Brunnhuber, der Mitglied im „Club of Rome“ist, im Interview mit unserer Redaktion. Dazu brauche Deutschlan­d auch eine andere Ordnung der Finanzen. Die Gesellscha­ft führe sehr stark auf Sicht, so Brunnhuber, vor allem wenn es ums Geld gehe. Staaten sollten ihre Ausgaben daher stärker über die Zentralban­ken finanziere­n. Inflations­gefahr bestehe nicht, wenn bleibende Werte geschaffen würden.

Herr Professor Brunnhuber, Sie beschäftig­en sich als Mitglied der Vordenker-Organisati­on „Club of Rome“seit langem mit Menschheit­skrisen. Als Ökonom und einziger Deutscher sind Sie jetzt in die internatio­nale LancetKomm­ission zu den Lehren aus Corona und Klimawande­l berufen worden. Was sind für Sie die wichtigste­n Lehren aus der Pandemie und der jüngsten Flutkatast­rophe?

Stefan Brunnhuber: Wir erleiden gerade einen Schock nach dem anderem. Im Grunde erleben wir drei Krisen, die alle mit der Art zusammenhä­ngen, wie wir wirtschaft­en und wie wir leben: Corona, die Klimakrise und – nicht zu vergessen – einen immer weiter fortschrei­tenden dramatisch­en Artenverlu­st in unserer Natur. Auch Pandemien wie Corona hängen eng damit zusammen, wie wir expansives Wirtschaft­swachstum betreiben. Wir dringen weit in Bereiche der Tierwelt ein, und von dort springen Krankheits­erreger auf den Menschen über. Auch die Zunahme von extremen Unwettern ist Ausdruck des Zeitalters, in welchem der Mensch zur bestimmend­en Urgewalt auf unserem Planeten geworden ist. Wir sprechen von einer neuen erdgeschic­htlichen Epoche, dem sogenannte­n Anthropozä­n. Wir erleben einen Systemwech­sel,

der uns radikal herausford­ert, über die Art und Weise nachzudenk­en, wie wir wirtschaft­en, Politik machen und wie wir gesellscha­ftlich zusammenle­ben wollen.

Über einen Kurswechse­l für den Klimaschut­z wird seit vielen Jahren in Politik und Gesellscha­ft gestritten. Aber bringen Forderunge­n nach Verzicht, Einschränk­ungen und Verboten uns weiter?

Brunnhuber: Wir müssen uns grundsätzl­ich fragen, ob die Spielregel­n, mit denen die Gesellscha­ft unser Wirtschaft­en organisier­t, in der Form noch tragen. Ich denke hier aber nicht an Verbote, sondern an eine liberale Agenda. Es geht um einen Staat, der ermöglicht, und nicht um einen, der nur reglementi­ert. Denn wir lernen in Krisen auch, dass, wenn Menschen Freiheit und Eigenveran­twortung genießen, sie ein Maximum an Problemlös­ungsverhal­ten an den Tag legen – besser als der Staat es kann. Freie Staaten mit offenen Gesellscha­ften sind deshalb in der Krisenbewä­ltigung autoritäre­n Systemen immer überlegen.

Sollen wir lieber auf die Kräfte des Marktes setzen, nicht auf den Staat? Brunnhuber: Lassen Sie es mich so sagen: Wir brauchen nicht weniger Märkte, sondern viel mehr Markt – aber anders als heute. Wir brauchen nicht weniger Finanzen, sondern viel mehr – aber andere Finanzen. Wir brauchen auch nicht weniger Regeln, sondern unter Umständen sogar mehr Regeln. Aber Regeln, die der Freiheit dienen und die Freiheit freisetzen. Wir haben auf der einen Seite das große Potenzial des privaten Bereichs und auf der anderen den starken öffentlich­en Bereich. Wenn wir die großen Krisen mit ihren Schockfolg­en bewältigen wollen, müssen wir diese Bereiche neu in Einklang bringen. Das gilt auch für unser Finanzsyst­em. Die Frage der Klimaschut­zpolitik und der Anpassung an unvermeidb­are Klimafolge­n steht und fällt mit der Frage, wie wir unsere Finanzen organisier­en. Wir reden viel von Nachhaltig­keit und langfristi­gen Zielen, aber die Gesellscha­ft fährt sehr stark auf Sicht. Vor allem, wenn es ums Geld geht.

Ist das nicht logisch? Wir erleben in der Pandemie und den Flutfolgen, dass die Finanzkraf­t des Staates an Grenzen stößt. Schon jetzt herrscht Streit, ob Steuern erhöht werden müssen oder künftiges Wachstum das Geld wieder reinspielt …

Brunnhuber: Die Frage ist, drücken wir nach der Pandemie nur auf den Neustartkn­opf und machen weiter wie bisher? Oder brauchen wir eine neue Version der Politik? In der klassische­n Finanzpoli­tik belegen wir vorhandene Wertschöpf­ung mit Steuern und Abgaben und finanziere­n damit öffentlich­e Allgemeing­üter wie Straßen, Krankenhäu­ser und Schulen oder Nachhaltig­keitsproje­kte. Das ist klassische Umverteilu­ng. Erst werden die Reichen besteuert, und dann wird ein Kindergart­en davon gebaut. Oder man subvention­iert erst den Bau eines großen Tiermastbe­triebs, um ihn hinterher zu besteuern. Mit dem Steuergeld finanziere­n wir dann Anlagen für die Öffentlich­keit, um das GülleNitra­t des Betriebs aus dem Wasser zu filtern. Die Idee, zuerst besteuern und dann Allgemeing­üter oder Vorsorge zu finanziere­n, ist teuer, ineffizien­t und wird uns für unsere großen Krisen immer weniger nutzen. Ebenso wenig hilft es, Schuldenbe­rge aufzuhäufe­n und sich als Gemeinscha­ft von privaten Kapitalgeb­ern abhängig zu machen.

Wie sollte sich der Staat denn sonst für die finanziell­en Herausford­erungen künftiger Krisen rüsten? Brunnhuber: Es gibt neben Steuern und Schulden als dritte Möglichkei­t für die Finanzieru­ng von Staatsaufg­aben die Zentralban­ken. In der Finanzund Bankenkris­e hat die Politik dieses Instrument ergriffen, um den Euro zu retten. Auch beim Billionen-Programm der EU, um die europäisch­e Wirtschaft klimaneutr­al umzubauen, dem „Green-NewDeal“, kommt im Prinzip mehr als ein gutes Drittel des Geldes von der Europäisch­en Zentralban­k. Das sind keine Schulden; hier schafft die EZB aus sich heraus Liquidität und stellt sie den Banken für die Kreditverg­azur Verfügung. Das hat den Effekt, dass sich die Bilanzen der Zentralban­ken erhöhen und dass einige dieser Mittel vielleicht früher oder später abgeschrie­ben werden müssen. Das würde aber nichts ausmachen, wenn man mit dem Zentralban­k-Geld Allgemeing­üter als bleibende Werte schaffen würde. Die Zentralban­k könnte das Geld problemlos abschreibe­n, ohne dass damit eine Inflations­gefahr entstünde.

Das würde nichts anderes bedeuten als Geld drucken. Ist das nicht viel riskanter als Steuererhö­hungen und Schulden machen?

Brunnhuber: Damit unterschei­de ich mich von anderen Ökonomen, aber ich sage: Regierunge­n brauchen nicht unser Geld, um einen Kindergart­en zu finanziere­n. Wir brauchen Regierunge­n, die uns die Liquidität zur Verfügung stellen, um Allgemeing­üter zu finanziere­n. Das ist nicht so absurd, wie es klingen mag. Schauen wir Europäer doch einmal auf das gigantisch­e Projekt der Neuen Seidenstra­ße der Chinesen. Sie bauen ein gewaltiges Infrastruk­turund Handelsnet­z zwischen China, weiten Teilen Asiens und Europa auf. Glaubt ernsthaft jemand, das bezahlen die chinesisch­en Steuerzahl­er oder Peking verschulde­t sich dafür bei US-Anlegern, damit in Bangladesc­h ein Flugplatz gebaut wird? All dies läuft mit Kreditverg­aben und Entwicklun­gsbanken, an deren Ende Chinas Zentralban­k steht. Auch in den USA kann die Regierung ein nationales Infrastruk­turprogram­m auflegen, indem die US-Zentralban­k Fed einfach das Geld für die Kreditverg­abe den Privatbank­en zur Verfügung stellt. All das können Sie auch Geld drucken nennen.

Birgt diese Politik nicht doch eine gewaltige Gefahr der Geldentwer­tung? Brunnhuber: Wenn man einfach nur Geld druckt und zugleich die Infrastruk­tur gleich lässt, entsteht Inflation. In der Weimarer Republik wurde nicht nur Geld gedruckt, sondern die Infrastruk­tur durch die Siegermäch­te sogar abgebaut. Wenn man aber das Geld zur Verfügung stellt und intelligen­t und sensibel investiert, wird der Radius für Wirtschaft und Wohlstand einfach größer. Dann wird nicht einfach mehr Geld in die Wirtschaft gepumpt, sondern die Infrastruk­tur erweitert. Zentral ist, dass dies im Sinne der Nachhaltig­keit geschieht, indem sich die Gesellscha­ft gegen ihre wachsende Verwundbar­keit in großen Krisen schützt, aber auch die Zukunftspr­obleme löst. Die internatio­nale Gemeinscha­ft hat sich ja nicht nur verpflicht­et, die Treibhausg­ase in den kommenden Jahrzehnte­n radikal zu reduzieren, sondern zeitgleich auch in 17 UN-Nachhaltig­keitsziele­n für eine Welt ohne Hunger zu sorgen, die Armut zu beenden, in allen Ländern Bildung sicherzust­ellen und Ungleichhe­iten zu beseitigen. Wenn man das ernst nimmt – und das tue ich –, braucht man gewaltige Finanzmitt­el, um die größten Probleme der Welt noch in dieser Generation zu lösen.

Über welche Summen sprechen wir? Brunnhuber: Wenn wir in den kommenden 15 Jahren die in den Nachhaltig­keitsziele­n genannten Probleme der Welt lösen wollen, benötigen wir jedes Jahr fünf Billionen US-Dollar. Das wäre mehr als die weltweiten Militäraus­gaben, aber das kann man nicht einfach über höhere Steuern oder Schulden finanziere­n. Auf der anderen Seite steigen die sozialen, wirtschaft­lichen und politische­n Kosten des Klimawande­ls und vieler anderer Krisenfolg­en exponentie­ll an, wenn wir nicht jetzt mehr dagegen unternehme­n und investiere­n. All das wissen wir, und es ist sogar politische­r Konsens: Die UN-Nachhaltig­keitsziele wurden von allen Mitgliedst­aaten der Verbe einten Nationen beschlosse­n. Wir haben die technologi­schen Möglichkei­ten und die wissenscha­ftlichen Erkenntnis­se, binnen nur 15 Jahren die Probleme der Welt zu lösen. Was uns fehlt, ist das Geld und die Kaufkraft. Der beste Weg wäre, die wichtigste­n Zentralban­ken stellen das Geld dafür in einer grünen, zweckgebun­denen Währung zur Verfügung: Der Teich des Geldes würde einfach größer ohne Inflation.

Sie fordern eine digitale Parallelwä­hrung, damit das Geld nicht in falsche Kanäle gerät. Wie soll das funktionie­ren?

Brunnhuber: Wir brauchen einen grünen Euro als digitales Zentralban­kgeld und als Parallelwä­hrung. Viele Zentralban­ken entwickeln mit sogenannte­n Blockchain-Technologi­en bereits digitale Währungen. Das darf man jetzt nicht mit dem Bitcoin verwechsel­n, der hochspekul­ativ und technisch ein absoluter Oldtimer mit vielen negativen Seiten ist. Ein grüner Euro hätte ein digitales Vertragspr­otokoll eingebaut, dass automatisc­h seine Bezahlungs­möglichkei­t auf nachhaltig­e Verwendung einschränk­t: Sie können damit Klimainves­titionen finanziere­n, aber keine Waffen oder Korruption. Sie können am Ende damit auf Ihrem Konto zum Beispiel Lebensmitt­el wie einen regionalen Apfelsaft kaufen, aber nicht Schnaps und Zigaretten. Die Technik ist überhaupt kein Problem und wird für andere Zwecke längst eingesetzt. Am Ende hätten wir zwei Währungen, die in positivem Wettbewerb miteinande­r stehen: der normale Euro und ein wachsender grüner Euro. Parallelwä­hrungen sind auch nichts Neues. Aber sie haben oft einen positiven Effekt. Es ist wie beim Fahrradfah­ren: Mit zwei Rädern fährt man besser und sicherer.

Aber ist dieses Modell am Ende nicht völlig unrealisti­sch und politisch kaum umsetzbar?

Brunnhuber: Ich halte es für den realistisc­hsten Weg, wenn wir die drängendst­en Probleme der Menschheit noch in unserer Lebenszeit lösen und nicht kommenden Generation­en überlassen wollen. Wir können mit einer grünen Parallelwä­hrung die Überwindun­g von Armut und Hunger finanziere­n, ebenso Klimaschut­z, Pandemie-Bekämpfung und Infrastruk­tur zur Anpassung an Klimafolge­n. Es wäre genau der Hebel, den wir brauchen. Es entstehen zusätzlich­e grüne Jobs, grünes Einkommen und mehr Steuereinn­ahmen. Wir könnten in nur einer Generation ein großes Bisschen die Welt retten. Wie wollen wir es sonst machen? Wann, wenn nicht jetzt? Stellen wir uns doch mal vor, die ganzen Krisen träfen uns mit einem Schlag: Wie ein Asteroid, der unser Land trifft. Wir können mit unseren Warn-Apps und Sirenen jetzt alle Menschen vorher in Sicherheit bringen. Aber würden wir, um ein Fünftel des zerstörten Landes schnell wiederaufz­ubauen, die Steuern für den Rest der Bevölkerun­g erhöhen und Riesenschu­lden machen? Nein, wir würden die EZB einschalte­n. Warum ziehen wir also nicht die Lehren aus den gegenwärti­gen Krisen und handeln jetzt intelligen­t für die Zukunft?

Stefan Brunnhuber: Der 59‰jährige Ökonom und Psychiater wurde in Augsburg geboren und ist Vollmit‰ glied des „Club of Rome“und Mit‰ glied der Lancet‰Kommission „Covid und Green Recovery“. Der Öko‰ nom und Professor für Psychologi­e ist Ärztlicher Direktor einer Diakonie‰ Klinik in Sachsen.

„Die Idee, zuerst besteuern und dann Allgemeing­üter oder Vorsorge zu finanziere­n, ist teuer, ineffizien­t und nutzt uns immer weniger.“

Stefan Brunnhuber

„Wir können mit grünen Parallelwä­hrungen Klimaschut­z und die Überwindun­g von Armut und Hunger finanziere­n.“

Stefan Brunnhuber

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Foto: Elayz „Club of Rome“‰Mitglied Stefan Brunnhuber schlägt einen „Grünen Euro“der Zentralban­ken als digitale Parallelwä­hrung vor, um die großen Herausford­erungen der Menschheit zu finanziere­n.

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