„München ist ein gebremstes Dorf geworden“
Interview Der einstige Boulevardreporter Michael Graeter war Vorbild für Baby Schimmerlos in der TV-Serie „Kir Royal“. Ein Gespräch über das Partyleben, Polizisten und Politiker, die „mit Mistgabeln den Schmelz der Stadt herausstechen“
Herr Graeter, wo erreichen wir Sie? Michael Graeter: Ich sitze in der Nähe meines Lieblingsplatzes in München, dem Viktualienmarkt, wo ich mir täglich drei verschiedene Säfte gönne.
Früher haben Sie Kir Royal bevorzugt, heute Säfte. Was trinken Sie da? Graeter: In dem Saftladen sagen sie immer, er bestellt sich die Ampel: rot, gelb und grün. Rot für Granatapfel, gelb sind gelbe Rüben, die Preußen sagen dazu Karotten, und grün ist Spinat. So erspare ich mir das Gemüse beim Essen. Ich bin kein Gemüsefreund, aber der Körper braucht ja trotzdem die Vitamine. Ich trinke das jeden Tag. Das kostet neun Euro und hält mich fit.
Sie haben Ihre journalistische Laufbahn bei der „Augsburger Allgemeinen“begonnen, waren dann jahrzehntelang Starreporter und Kolumnist bei „Abendzeitung“, „Bild“und „Bunte“. Der legendäre Regisseur Helmut Dietl hat Ihnen sogar ein filmisches Denkmal gesetzt. Sie dienten quasi als Vorbild für Baby Schimmerlos in der unvergessenen Serie „Kir Royal“. Graeter: Stop, stop, stop! Da geht was durcheinander. Der Dietl war Stammgast in meinem damaligen Lokal. Da war er ausgebrannt nach der Serie „Monaco Franze“. So saß er da und wusste nicht, was er machen sollte. Und ich sagte zu ihm: Versuch es doch mit dem Berufsbild eines Klatschreporters. Er tat es. Die verfremdeten Geschichten aus „Kir Royal“sind im Kern tatsächlich von mir. Den Drehbüchern hat der Schriftsteller Patrick Süskind den Feinschliff gegeben. Hinterher gab es übrigens keine Klagen, wie vom Fernsehsender, dem WDR, zunächst befürchtet worden war. Im Gegenteil, ich bekam nur Post von denen, die nicht in der Serie vorkamen. Ich hätte ja auch noch Stoff für sechs weitere Folgen. Aber die kamen nicht mehr zustande.
Gab es auch den Klebstofffabrikanten Heinrich Haffenloher, von dem der wunderbare Satz stammt: „Ich scheiß’ dich zu mit meinem Geld!“?
Graeter: Natürlich. Das war in Wirklichkeit ein Lackfabrikant. Helmut Dietl gefiel aber der Klebstofffabrikant besser.
Fast 40 Jahre sind seitdem ins Land gegangen. Wie geht es Ihnen heute? Bei Wikipedia heißt es, Sie leben mit Ihrer Familie am Stadtrand von München. Graeter: Nein, nein, stimmt nicht. Ich bin seit sechs Jahren geschieden. Und ich bin stolz auf meinen Sohn, den ich auch meiner Frau zu verdanken habe. Sie ist übrigens eine Frau, die man riechen kann. Wenn man das Glück hat, eine Partnerin zu finden, die man riechen kann, ist das ein Göttergeschenk. Dann weiß man einfach, dass es grundsätzlich stimmt. Trotzdem kann eine Ehe auseinandergehen. Heute bin ich ein lebendiger Single, Sechzger-Fan und kann von einer Minute auf die andere entscheiden, was ich tun will. Das geht in einer Familie so nicht.
Sie sind gerade 80 Jahre alt geworden. Welche Bedeutung hat diese Zahl für Sie? Und wie haben Sie gefeiert? Graeter: Wer 5555 Partys in seinem Leben hatte, braucht keine mehr. Ich habe übrigens zehn Jahre lang 39. Geburtstag gefeiert, ohne dass das einer mitgekriegt hat. Diesmal bin ich mit meinem Sohn aufs Land gefahren, Bauernwirtschaft, schönes Essen, später gab es noch Kaffee und Kuchen. Da weiß ich auch eine gute Adresse. Am Ende ging es an den Tegernsee, da haben wir noch einen Freund besucht. Um drei Uhr war ich im Bett.
Wie sehen Sie das heutige München? Graeter: Es ist ein sehr gebremstes Dorf geworden. Es war in den 60er, 70er und 80er Jahren mal sexy. Anfang der 90er begann sich das langsam aufzulösen. Aber unsere Stadt wird ja von Leuten regiert, die mit Mistgabeln den Schmelz dieser Stadt herausstechen. Und überhaupt, diese Aktivisten heute. Wenn man gar nix kann, wird man Aktivist!
Was vermissen Sie in der Weltstadt mit Herz?
Graeter: Das fängt schon in der Gastronomie an, den Clubs etwa. Selbst die angesagten Discos haben nur noch Donnerstag, Freitag und Samstag auf. Als ob die Leute an den anderen Tagen tot sind. Ich habe Jahrzehnte erlebt, da war es von Montag bis Sonntag in den angesagten Locations voll. Ich verstehe das nicht. Heute gehören die Lokale ja nicht mehr einem Wirt, sondern haben drei bis fünf Besitzer. Als Cafetier war ich immer auf der Suche nach der Formel, was ein Lokal erfolgreich macht. Und ich fand heraus: Es kommt nicht auf die Lage an, sondern auf die Seele. Wenn die geteilt ist, geht sehr schnell nix mehr.
Sie sind auch ein Kenner der Schönen und Reichen der Stadt. Wie geht es der Schickeria in Corona-Zeiten? Es gab keine Events, keine Galas, nicht mal die Oper war geöffnet.
Graeter: Richtig. Dieser freie Strafvollzug namens Lockdown ist ja künstlich herbeigeführt worden. Man kann sagen: Das süße Leben wurde stillgelegt. Wenn Strauß noch am Leben wäre, hätte es nie so einen Lockdown gegeben. Nie!
Gibt es die Schönen und Reichen noch in der Stadt oder sind die nach Berlin, Dubai oder New York geflüchtet? Graeter: Nach Berlin flüchtet definitiv niemand! Es gibt die Reichen, Schönen und Scheinheiligen in München nach wie vor. Man geht gerne nach Salzburg oder aufs Land, an den Tegernsee.
Wo muss man hin in München, wenn man einen auf dicke Hose machen will? Graeter: Wenn man was machen will?
Einen auf dicke Hose machen. Graeter: Dicke Hose zieht in München nicht, denn die Reichen kennen sich. Man weiß, wer was hat.
Gibt es noch gute Lokale oder Bars? Graeter: Klar. Es gibt nach wie vor einen Drei-Sterne-Koch im Bayerischen Hof, der vorzüglich arbeitet. Dann haben wir auch bald ein Rosewood-Hotel, das hinter dem Bayerischen Hof entsteht. Da kommen dann noch zwei Lokale rein, die es zu Weltrang bringen können. Dazu fallen mir noch etwa zehn Ein-Sterne-Restaurants ein. Wir haben in München schon noch ein gutes Level für süßes Leben. In der Zeit meines Vaters war das noch anders. Die haben in München damals gegessen, um satt zu werden. Mit Eckart Witzigmann ist dann die feine Küche gekommen. Wäre der nicht aufgeschlagen, gäbe es vermutlich heute noch die Kartoffelkantine.
Aber insgesamt ist München doch biederer geworden im Vergleich zu den großen Jahren, oder?
Graeter: Na ja. Es wird eher wieder ein Millionendorf, weil die Stadtregierung immer mehr Fußgängerzonen und Radwege ausweist. Die sind dann auch noch so lieblos eingepflegt. Ich frage mich: Was haben die Leute gegen die Autos? Die sollen doch in die Wüste ziehen! Und die Stadtregierung soll lieber Bäche freilegen, die ungesehen unter München hindurchschießen. Da könnten sie sich dran abarbeiten. Da käme frisches Leben rein!
Leben und leben lassen war über Jahrzehnte eine Maxime in München. Wie steht es heute um die Toleranz? Graeter: Ja, die Toleranz ist, wie soll ich sagen? – eingeschlafen. Früher waren ja beispielsweise die Polizisten noch nicht präventiv unterwegs. Wenn da einer die Leopoldstraße in leichten Schlangenlinien entlanggefahren ist, wurde er angehalten. Zu dem sagten die Polizisten: ,Den Wagen kannst du dir morgen im Revier abholen!‘ Bei mir hat manchmal auch einer der Gesetzeshüter mein Auto nach Hause gefahren.
Wie bitte?
Graeter: Ja, das ist die Wahrheit! Das waren die Münchner Polizisten.
Und wie war das mit Ihrem persönlichen Tiefpunkt, als sie nicht unerheblichen Ärger mit der Justiz hatten und auch mal die Justizvollzugsanstalt Landsberg kennenlernten?
Graeter: Ich habe staatliche Fürsorge genießen dürfen, weil ich zu schnell gefahren bin und ein Wirtschaftsdelikt begangen habe, von dem eine Bewährungsstrafe offen war. So bekam ich acht Monate, von denen ich sieben absaß. Ich war damals beim Zu-schnell-Fahren zu meinem sterbenden Vater unterwegs. Da bin ich mit Tempo 200 auf der Autobahn gefahren und konnte meinen Vater gerade noch in den Arm nehmen, bevor er starb. Ich habe das nie verstanden, dass ich in diesem Fall verurteilt worden bin. Aber dadurch war die Bewährungsauflage dahin, und ich bekam die Einladung in die Justizvollzugsanstalt Landsberg.
Wie war das im Gefängnis?
Graeter: Ach ja, ich hatte Herzprobleme und kam wie Herr Hoeneß ins Hospital. Da gab es Fernsehen rund um die Uhr. Das hatte zur Folge, dass ich das erste Mal in meinem Leben richtig viel geglotzt habe. Allerdings wusste ich bald, das kannst du dir sparen. Immerhin bekam man auch die Betten gemacht, und ich konnte auch meinen Körper eincremen wie noch nie zuvor. Die Haut hat gejubelt. In Landsberg habe ich zudem den ersten Teil meiner Memoiren geschrieben.
Was haben Sie für Zukunftspläne? Graeter: Ich arbeite gerade an einer Doku, vier Filme. Und an einer zweiten, die danach kommen soll, da bin ich aber erst in Vertragsverhandlungen. Bei der anderen Sache beginnen die Dreharbeiten in München im nächsten Monat. Und ich arbeite an meinem letzten Buch. Das wird das härteste. Es geht um die ungeschminkte Wahrheit, um Unrechtsfälle wie den Karl-Heinz Wildmoser junior oder den Gustl Mollath.
Der gebürtige Münchner Michael Graeter, 80, war jahrzehntelang BoulevardJournalist und fast 20 Jah re lang auch Gastronom. Er ist ge schieden, hat einen Sohn und lebt in der Landeshauptstadt.