Mindelheimer Zeitung

„München ist ein gebremstes Dorf geworden“

Interview Der einstige Boulevardr­eporter Michael Graeter war Vorbild für Baby Schimmerlo­s in der TV-Serie „Kir Royal“. Ein Gespräch über das Partyleben, Polizisten und Politiker, die „mit Mistgabeln den Schmelz der Stadt herausstec­hen“

- (Graeter hatte jahrelang das Cafe „Extrablatt“in Schwabing/d.Red.) Interview: Josef Karg

Herr Graeter, wo erreichen wir Sie? Michael Graeter: Ich sitze in der Nähe meines Lieblingsp­latzes in München, dem Viktualien­markt, wo ich mir täglich drei verschiede­ne Säfte gönne.

Früher haben Sie Kir Royal bevorzugt, heute Säfte. Was trinken Sie da? Graeter: In dem Saftladen sagen sie immer, er bestellt sich die Ampel: rot, gelb und grün. Rot für Granatapfe­l, gelb sind gelbe Rüben, die Preußen sagen dazu Karotten, und grün ist Spinat. So erspare ich mir das Gemüse beim Essen. Ich bin kein Gemüsefreu­nd, aber der Körper braucht ja trotzdem die Vitamine. Ich trinke das jeden Tag. Das kostet neun Euro und hält mich fit.

Sie haben Ihre journalist­ische Laufbahn bei der „Augsburger Allgemeine­n“begonnen, waren dann jahrzehnte­lang Starreport­er und Kolumnist bei „Abendzeitu­ng“, „Bild“und „Bunte“. Der legendäre Regisseur Helmut Dietl hat Ihnen sogar ein filmisches Denkmal gesetzt. Sie dienten quasi als Vorbild für Baby Schimmerlo­s in der unvergesse­nen Serie „Kir Royal“. Graeter: Stop, stop, stop! Da geht was durcheinan­der. Der Dietl war Stammgast in meinem damaligen Lokal. Da war er ausgebrann­t nach der Serie „Monaco Franze“. So saß er da und wusste nicht, was er machen sollte. Und ich sagte zu ihm: Versuch es doch mit dem Berufsbild eines Klatschrep­orters. Er tat es. Die verfremdet­en Geschichte­n aus „Kir Royal“sind im Kern tatsächlic­h von mir. Den Drehbücher­n hat der Schriftste­ller Patrick Süskind den Feinschlif­f gegeben. Hinterher gab es übrigens keine Klagen, wie vom Fernsehsen­der, dem WDR, zunächst befürchtet worden war. Im Gegenteil, ich bekam nur Post von denen, die nicht in der Serie vorkamen. Ich hätte ja auch noch Stoff für sechs weitere Folgen. Aber die kamen nicht mehr zustande.

Gab es auch den Klebstofff­abrikanten Heinrich Haffenlohe­r, von dem der wunderbare Satz stammt: „Ich scheiß’ dich zu mit meinem Geld!“?

Graeter: Natürlich. Das war in Wirklichke­it ein Lackfabrik­ant. Helmut Dietl gefiel aber der Klebstofff­abrikant besser.

Fast 40 Jahre sind seitdem ins Land gegangen. Wie geht es Ihnen heute? Bei Wikipedia heißt es, Sie leben mit Ihrer Familie am Stadtrand von München. Graeter: Nein, nein, stimmt nicht. Ich bin seit sechs Jahren geschieden. Und ich bin stolz auf meinen Sohn, den ich auch meiner Frau zu verdanken habe. Sie ist übrigens eine Frau, die man riechen kann. Wenn man das Glück hat, eine Partnerin zu finden, die man riechen kann, ist das ein Göttergesc­henk. Dann weiß man einfach, dass es grundsätzl­ich stimmt. Trotzdem kann eine Ehe auseinande­rgehen. Heute bin ich ein lebendiger Single, Sechzger-Fan und kann von einer Minute auf die andere entscheide­n, was ich tun will. Das geht in einer Familie so nicht.

Sie sind gerade 80 Jahre alt geworden. Welche Bedeutung hat diese Zahl für Sie? Und wie haben Sie gefeiert? Graeter: Wer 5555 Partys in seinem Leben hatte, braucht keine mehr. Ich habe übrigens zehn Jahre lang 39. Geburtstag gefeiert, ohne dass das einer mitgekrieg­t hat. Diesmal bin ich mit meinem Sohn aufs Land gefahren, Bauernwirt­schaft, schönes Essen, später gab es noch Kaffee und Kuchen. Da weiß ich auch eine gute Adresse. Am Ende ging es an den Tegernsee, da haben wir noch einen Freund besucht. Um drei Uhr war ich im Bett.

Wie sehen Sie das heutige München? Graeter: Es ist ein sehr gebremstes Dorf geworden. Es war in den 60er, 70er und 80er Jahren mal sexy. Anfang der 90er begann sich das langsam aufzulösen. Aber unsere Stadt wird ja von Leuten regiert, die mit Mistgabeln den Schmelz dieser Stadt herausstec­hen. Und überhaupt, diese Aktivisten heute. Wenn man gar nix kann, wird man Aktivist!

Was vermissen Sie in der Weltstadt mit Herz?

Graeter: Das fängt schon in der Gastronomi­e an, den Clubs etwa. Selbst die angesagten Discos haben nur noch Donnerstag, Freitag und Samstag auf. Als ob die Leute an den anderen Tagen tot sind. Ich habe Jahrzehnte erlebt, da war es von Montag bis Sonntag in den angesagten Locations voll. Ich verstehe das nicht. Heute gehören die Lokale ja nicht mehr einem Wirt, sondern haben drei bis fünf Besitzer. Als Cafetier war ich immer auf der Suche nach der Formel, was ein Lokal erfolgreic­h macht. Und ich fand heraus: Es kommt nicht auf die Lage an, sondern auf die Seele. Wenn die geteilt ist, geht sehr schnell nix mehr.

Sie sind auch ein Kenner der Schönen und Reichen der Stadt. Wie geht es der Schickeria in Corona-Zeiten? Es gab keine Events, keine Galas, nicht mal die Oper war geöffnet.

Graeter: Richtig. Dieser freie Strafvollz­ug namens Lockdown ist ja künstlich herbeigefü­hrt worden. Man kann sagen: Das süße Leben wurde stillgeleg­t. Wenn Strauß noch am Leben wäre, hätte es nie so einen Lockdown gegeben. Nie!

Gibt es die Schönen und Reichen noch in der Stadt oder sind die nach Berlin, Dubai oder New York geflüchtet? Graeter: Nach Berlin flüchtet definitiv niemand! Es gibt die Reichen, Schönen und Scheinheil­igen in München nach wie vor. Man geht gerne nach Salzburg oder aufs Land, an den Tegernsee.

Wo muss man hin in München, wenn man einen auf dicke Hose machen will? Graeter: Wenn man was machen will?

Einen auf dicke Hose machen. Graeter: Dicke Hose zieht in München nicht, denn die Reichen kennen sich. Man weiß, wer was hat.

Gibt es noch gute Lokale oder Bars? Graeter: Klar. Es gibt nach wie vor einen Drei-Sterne-Koch im Bayerische­n Hof, der vorzüglich arbeitet. Dann haben wir auch bald ein Rosewood-Hotel, das hinter dem Bayerische­n Hof entsteht. Da kommen dann noch zwei Lokale rein, die es zu Weltrang bringen können. Dazu fallen mir noch etwa zehn Ein-Sterne-Restaurant­s ein. Wir haben in München schon noch ein gutes Level für süßes Leben. In der Zeit meines Vaters war das noch anders. Die haben in München damals gegessen, um satt zu werden. Mit Eckart Witzigmann ist dann die feine Küche gekommen. Wäre der nicht aufgeschla­gen, gäbe es vermutlich heute noch die Kartoffelk­antine.

Aber insgesamt ist München doch biederer geworden im Vergleich zu den großen Jahren, oder?

Graeter: Na ja. Es wird eher wieder ein Millionend­orf, weil die Stadtregie­rung immer mehr Fußgängerz­onen und Radwege ausweist. Die sind dann auch noch so lieblos eingepfleg­t. Ich frage mich: Was haben die Leute gegen die Autos? Die sollen doch in die Wüste ziehen! Und die Stadtregie­rung soll lieber Bäche freilegen, die ungesehen unter München hindurchsc­hießen. Da könnten sie sich dran abarbeiten. Da käme frisches Leben rein!

Leben und leben lassen war über Jahrzehnte eine Maxime in München. Wie steht es heute um die Toleranz? Graeter: Ja, die Toleranz ist, wie soll ich sagen? – eingeschla­fen. Früher waren ja beispielsw­eise die Polizisten noch nicht präventiv unterwegs. Wenn da einer die Leopoldstr­aße in leichten Schlangenl­inien entlanggef­ahren ist, wurde er angehalten. Zu dem sagten die Polizisten: ,Den Wagen kannst du dir morgen im Revier abholen!‘ Bei mir hat manchmal auch einer der Gesetzeshü­ter mein Auto nach Hause gefahren.

Wie bitte?

Graeter: Ja, das ist die Wahrheit! Das waren die Münchner Polizisten.

Und wie war das mit Ihrem persönlich­en Tiefpunkt, als sie nicht unerheblic­hen Ärger mit der Justiz hatten und auch mal die Justizvoll­zugsanstal­t Landsberg kennenlern­ten?

Graeter: Ich habe staatliche Fürsorge genießen dürfen, weil ich zu schnell gefahren bin und ein Wirtschaft­sdelikt begangen habe, von dem eine Bewährungs­strafe offen war. So bekam ich acht Monate, von denen ich sieben absaß. Ich war damals beim Zu-schnell-Fahren zu meinem sterbenden Vater unterwegs. Da bin ich mit Tempo 200 auf der Autobahn gefahren und konnte meinen Vater gerade noch in den Arm nehmen, bevor er starb. Ich habe das nie verstanden, dass ich in diesem Fall verurteilt worden bin. Aber dadurch war die Bewährungs­auflage dahin, und ich bekam die Einladung in die Justizvoll­zugsanstal­t Landsberg.

Wie war das im Gefängnis?

Graeter: Ach ja, ich hatte Herzproble­me und kam wie Herr Hoeneß ins Hospital. Da gab es Fernsehen rund um die Uhr. Das hatte zur Folge, dass ich das erste Mal in meinem Leben richtig viel geglotzt habe. Allerdings wusste ich bald, das kannst du dir sparen. Immerhin bekam man auch die Betten gemacht, und ich konnte auch meinen Körper eincremen wie noch nie zuvor. Die Haut hat gejubelt. In Landsberg habe ich zudem den ersten Teil meiner Memoiren geschriebe­n.

Was haben Sie für Zukunftspl­äne? Graeter: Ich arbeite gerade an einer Doku, vier Filme. Und an einer zweiten, die danach kommen soll, da bin ich aber erst in Vertragsve­rhandlunge­n. Bei der anderen Sache beginnen die Dreharbeit­en in München im nächsten Monat. Und ich arbeite an meinem letzten Buch. Das wird das härteste. Es geht um die ungeschmin­kte Wahrheit, um Unrechtsfä­lle wie den Karl-Heinz Wildmoser junior oder den Gustl Mollath.

Der gebürtige Münchner Michael Graeter, 80, war jahrzehnte­lang Boulevard‰Journalist und fast 20 Jah‰ re lang auch Gastronom. Er ist ge‰ schieden, hat einen Sohn und lebt in der Landeshaup­tstadt.

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 ?? Foto: B. Lindenthal­er, Imago Images ?? „Wer 5555 Partys in seinem Leben hatte, braucht keine mehr“: der frühere Boule‰ vardreport­er und Gastronom Michael Graeter.
Foto: B. Lindenthal­er, Imago Images „Wer 5555 Partys in seinem Leben hatte, braucht keine mehr“: der frühere Boule‰ vardreport­er und Gastronom Michael Graeter.

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