Mertens wehrt sich
Corona Während die Wissenschaft zögert, hat die Politik den Weg frei gemacht: Zwölf- bis 17-Jährige können geimpft werden. Die Folge ist allerdings, dass viele Familien sich schwertun, eine Entscheidung zu treffen. Warum das so ist
Als Chef der Ständigen Impfkommission musste Thomas Mertens viel Kritik aus der Politik einstecken. Jetzt wehrt er sich.
Donauwörth Kinderarzt Wolfgang Beck spürt die Ängste jeden Tag. Eltern, die ihm in seinem weiß gestrichenen Sprechzimmer gegenübersitzen und in einem Dilemma stecken. Eltern, die alles richtig und nichts falsch machen wollen. Eltern, die vor einer Entscheidung stehen: Soll ich mein Kind impfen lassen, oder schade ich ihm damit womöglich sogar?
Die Frage nach der Corona-Impfung für Kinder und Jugendliche ist geprägt von Unsicherheit. Viele Eltern dürften die unterschiedlichen Signale irritieren, die Politik und Wissenschaft aktuell aussenden. Alle 12- bis 17-Jährigen können bei ihren Hausärzten, in Schulen und Impfzentren gegen das Coronavirus geimpft werden, das haben die Gesundheitsminister von Bund und Ländern beschlossen. Es ist eine Entscheidung, mit dem sich die Politik über die Wissenschaft hinweggesetzt hat.
Denn die Ständige Impfkommission, kurz Stiko, legt die Impfung bislang nur bei Kindern und Jugendlichen mit bestimmten Vorerkrankungen nahe. Noch gibt es nur wenige Erhebungen zur Impfung von Zwölf- bis 17-Jährigen. Und so fällt es derzeit schwer, die wichtigste aller Fragen zu beantworten: Überwiegt der Nutzen einer Covid-Impfung deren Risiko? Mitte August, hatte Stiko-Chef Thomas Mertens unlängst angekündigt, wolle das Gremium seine Impfempfehlung überarbeiten. Wie genau, das sagte der Ulmer Virologe nicht.
Da ist auf der einen Seite der erlösende Schutz vor einer Infektion. Stetig und bedrohlich kündigt sich im Hintergrund die vierte CoronaWelle an, die Infektionszahlen steigen, wieder einmal. Ein Pieks brächte ein bisschen mehr Normalität, mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Gleichzeitig haben viele Erziehende Angst vor dem, was die Impfnadel im Arm ihres Kindes anrichten könnte. Denn am Ende sind sie es, die die Gesundheit ihres Nachwuchses verantworten.
Kinderarzt Beck aus Donauwörth kann indes nicht viel mehr tun, als Aufklärungsgespräche anzubieten. Er spricht dann über äußerst selten auftretende Herzmuskelentzündungen. Über die geringe Wahrscheinlichkeit, im Falle einer Infektion zu erkranken. Oder darüber, dass auch ein Zwölfjähriger sich durchaus selbst klare Gedanken dazu machen kann, ob er geimpft werden oder lieber noch abwarten möchte. Die Entscheidung kann Beck den Eltern in seinem Sprechzimmer aber nicht abnehmen.
Auch Isabell Vogl aus Aichach musste sich entscheiden. Ihr Sohn, 14, könnte gegen Corona geimpft werden. „Aber man hört ja immer wieder, dass eine Corona-Infektion bei Kindern in dieser Altersgruppe vergleichsweise glimpflich verläuft“, sagt Vogl. Andererseits habe man auch Verantwortung für andere, Stichwort Ansteckungsgefahr. „Aber in meinem Umfeld sind alle Risikopatienten jetzt geimpft.“Soschwer lange die Impfkommission ihre Einschätzung nicht anpasse und mögliche Langzeitfolgen weiter unklar blieben, betont Vogl, wolle sie ihren Sohn nicht impfen lassen.
Herta und Heiko Metz aus Augsburg haben sich ebenfalls Gedanken über eine Impfung ihrer Kinder gemacht. Ihre Tochter ist 18 Jahre und bereits geimpft. Bei der Abwägung, ob die beiden Söhne, 13 und 15, immunisiert werden sollen, spielte für die Eltern vor allem ein Aspekt eine Rolle: nämlich, ob ihr Nachwuchs das überhaupt möchte. „Wir haben die beiden gefragt, aktuell wollen sie noch nicht“, sagt Herta Metz. Solange es keine Stiko-Empfehlung gebe, treffe sie diese Entscheidung nicht für ihre Kinder. „Aber wenn die Stiko sagt, lasst eure Kinder impfen, dann mache ich das.“
Wie ihr Kollege in Donauwörth führt auch die Augsburger Kinderärztin Anke Steuerer aktuell viele
Viele blicken auf das Votum der Impfkommission
Aufklärungsgespräche mit besorgten Eltern. Dabei verfolgt sie jedoch noch einen anderen Ansatz. Sie nennt das eine „Kokon-Strategie“. Das Problem, erklärt sie, liege vor allem auch darin, dass unter ZwölfJährige voraussichtlich ungeimpft bleiben würden. „Aber auch bei ihnen gibt es vorerkrankte Kinder.“
Würden sich alle Menschen im Umfeld dieser Gruppe, ob privat oder beruflich, impfen lassen, sagt die Kinderärztin, dann baue sich eine Art Schutzwall auf, eben wie bei einem Kokon. In ihrer Praxis appelliere Steuerer deshalb aktuell immer: „Liebe Eltern, lasst euch um Himmels willen impfen, damit wir die Schulen und Kitas offen halten können.“Zu Beginn der Pandemie habe der Fokus vor allem auf den Älteren gelegen. Diese seien mittlerweile großteils geimpft. Jetzt seien es die Kinder, auf die Rücksicht genommen werden müsse.