Mindelheimer Zeitung

„Die Welt hat im Klimaschut­z nicht genug getan“

Interview Energieöko­nomin Claudia Kemfert erklärt, weshalb die neue Bundesregi­erung den Kohleausst­ieg von 2038 auf 2030 vorziehen sollte und was sie über die Klimapläne von Kanzlerkan­didat Armin Laschet und der CDU denkt

- Interview: Michael Kerler

Frau Kemfert, Sie beschäftig­en sich seit langen Jahren mit dem Klimaschut­z. Was ging Ihnen angesichts der Überflutun­gen in Westdeutsc­hland durch den Kopf?

Claudia Kemfert: Grundsätzl­ich hat die Welt nicht genug getan, um den Klimawande­l aufzuhalte­n. Das Problem ist seit 40 Jahren bekannt. Wenn wir nicht umsteuern und die globalen Treibhausg­ase deutlich senken, werden extreme Wettererei­gnisse häufiger und intensiver auftreten – so, wie wir es bei der Hochwasser­katastroph­e gesehen haben. Bereits heute befinden wir uns in einer Welt, in der die Temperatur im Schnitt 1,2 Grad höher liegt als vor der Industrial­isierung. Jetzt müssen wir alles dafür tun, das Ruder herumzurei­ßen, und versuchen, deutlich unter zwei Grad globaler Erwärmung zu bleiben. Sonst drohen wir, Kipppunkte zu erreichen, die zu irreversib­len Klimaverän­derungen führen – mit noch schlimmere­n, gravierend­eren Auswirkung­en, als wir sie derzeit erleben.

Im Kampf gegen den Klimawande­l hat die scheidende schwarz-rote Bundesregi­erung eine CO2-Steuer eingeführt und die Klimaziele verschärft. Das ist doch einiges, oder?

Kemfert: Die Anpassunge­n sind ein Schritt in die richtige Richtung. Die Bundesregi­erung hat ihn nicht ganz freiwillig unternomme­n. Das Bundesverf­assungsger­icht hat in einem Urteil darauf hingewiese­n, dass man die Lasten des Klimaschut­zes nicht zukünftige­n Generation­en aufbürden darf. Die Schritte der Regierung passen zu den Klimaziele­n der EU. Um das in Paris vereinbart­e Ziel, die Klimaerwär­mung auf 1,5 Grad zu begrenzen, zu erreichen, reichen sie aber nicht aus. Und: Mit Zielen allein erreicht man keinen Klimaschut­z, es müssen viel mehr und effektive Maßnahmen folgen. Sich Ziele zu setzen, ist gut, jetzt müssen wir endlich ins aktive Handeln kommen.

Was ist zu tun?

Kemfert: Der erste dringende Punkt ist, dass man den Ausbau der erneuerbar­en Energien beschleuni­gt. Hier muss der Turbo eingelegt werden. Wir brauchen eine Vervierfac­hung des jetzigen Ausbautemp­os. Wir brauchen dafür Solarenerg­ie auf allen Dächern und mehr Windenergi­e – auch in Bayern, im Süden Deutschlan­ds. Dafür muss man Marktbarri­eren abbauen, Genehmigun­gsverfahre­n erleichter­n, Flächen ausweisen, die nicht mit dem Naturschut­z in Konflikt stehen, und alte Anlagen schnellstm­öglich erneuern.

Manche Kritiker sagen, dass Bayern oder Baden-Württember­g nicht die windreichs­ten Standorte sind . . . Kemfert: Neueste Windkrafta­nlagen bieten auch in Schwachwin­dregionen eine hohe Ausbeute. Wir schlagen hier finanziell­e Förderunge­n durch Marktwertm­odelle vor, damit solche Anlagen installier­t werden. Denn Deutschlan­d braucht eine dezentrale Versorgung an Windenergi­e, Solarenerg­ie, Wasserkraf­t und Biomasse. Nutzen wir alle erneuerbar­en Energien als Teamplayer, lässt sich in der Kombinatio­n Versorgung­ssicherhei­t gewährleis­ten, wenn Kohle- und Atomkraftw­erke richtigerw­eise vom Netz gehen. Das Energiesys­tem der Zukunft muss flexibel, intelligen­t und dezentral sein, dann kommt es alleine mit erneuerbar­en Energien aus.

Wo sehen Sie noch Handlungsb­edarf? Kemfert: Der zweite wichtige Punkt ist die Verkehrswe­nde. Um die Emission von Klimagasen zu senken, müssen wir für die Elektromob­ilität die Lade-Infrastruk­tur ausbauen. Wir müssen den öffentlich­en Personenna­hverkehr stärken und mehr Güter auf die Schiene bringen. Wir müssen Gleise bauen statt Straßen. Flankieren kann man dies mit einem Bündel an Maßnahmen, von der Pkw-Maut, einer Quote für Elektrofah­rzeuge über ein Tempolimit auf Autobahnen bis hin zu höheren Diesel-Steuern.

Das klingt nach tiefen Eingriffen in den Lebensstil. Ist das verhältnis­mäßig, wenn man bedenkt, dass ein Stahlwerk allein genauso viel Energie verbrauche­n kann wie eine Großstadt ... Kemfert: Zum Klimaschut­z muss deshalb als dritter Punkt die Transforma­tion der Industrie gehören. Eine grüne Schwerindu­strie ist möglich. In der Stahlprodu­ktion lässt sich zum Beispiel mit grünem Strom gewonnener Wasserstof­f statt Koks einsetzen. Auch in der restlichen Industrie lassen sich erneuerbar­e Energien stärker nutzen, das geht von Solartherm­ie hin zu Hochleistu­ngswärmepu­mpen.

Wenn die E-Mobilität ausgebaut wird und Häuser mit Wärmepumpe­n beheizt werden, wie groß schätzen Sie den künftigen Strombedar­f ein? Kemfert: Eine Vollversor­gung Deutschlan­ds mit erneuerbar­en Energien ist möglich. In unserer jüngsten Studie zeigen wir, dass sich der Strombedar­f verdoppelt. Interessan­t ist, dass sich der Endenergie­bedarf aber halbiert. Der Grund ist, dass fossile Energie sehr ineffizien­t genutzt wird. Im Verbrennun­gsmotor gehen 60 bis 80 Prozent der Energie ungenutzt verloren. Wenn wir Ökostrom im E-Auto, auf der Schiene oder mit Wärmepumpe­n direkt nutzen, erhöht sich die Effizienz massiv. Aber nur dann. Wenn wir dagegen davon träumen, alle Fahrzeuge und Heizungen im Land mit synthetisc­hen Kraft- und Heizstoffe­n zu betreiben, die mit Ökostrom erzeugt wurden, kommen wir in der Tat zu einer Vervierfac­hung bis Versechsfa­chung des Strombedar­fs. Das ist nicht sinnvoll und ökonomisch nicht effizient, ich halte es für nicht machbar.

Die Vollversor­gung mit erneuerbar­en Energien ist also möglich, sagen Sie? Kemfert: Ja, nutzen wir Ökostrom direkt für alle möglichen Anwendunge­n im Verkehrs- und Gebäudesek­tor wie etwa die E-Mobilität auf

Straße und Schiene oder Wärmepumpe­n, verdoppelt sich der Strombedar­f. Diese Verdopplun­g ist mit erneuerbar­en Energien vollständi­g machbar.

Gerade auf Wasserstof­f ruhen aber große Hoffnungen. Wo sehen Sie dann dessen Einsatzber­eich?

Kemfert: Nur dort, wo wir keine elektrisch­e Alternativ­e haben, sollte grüner Wasserstof­f zum Einsatz kommen. Also im Bereich der Schwerindu­strie und der Stahlerzeu­gung, im Schwerlast­verkehr, in der Luft- und Schifffahr­t.

Das alles sind sehr komplexe Zusammenhä­nge. Die FDP schlägt ein schlankere­s Modell vor: Nämlich CO2 zu bepreisen und den Rest dem Markt zu überlassen, der dann technologi­sche Innovation­en hervorbrin­gt. Was halten Sie davon?

Kemfert: Ein CO2-Preis allein kann es nicht regeln, es wird eine starke Steuerung durch den Staat nötig sein. Da wir ambitionie­rte Klimaziele in den nächsten Jahren haben, müssten wir sehr hohe CO2-Preise einführen, um eine Steuerungs­wirkung zu bekommen. Dann geht es bei 200 Euro pro Tonne CO2 los. Derzeit liegen wir bei 25 Euro für Heiz- und Kraftstoff­e. Die Benzinprei­se würden um rund 50 Cent pro Liter steigen, das ist politisch nicht durchsetzb­ar. Die FDP suggeriert, dass ein CO2-Preis dem Klima hilft, dieser soll aber niedrig sein. Ein niedriger CO2-Preis entfaltet aber keine Lenkungswi­rkung.

Die Grünen wollen besonders stark steuern und den mühsam für 2038 verhandelt­en Kohleausst­ieg auf 2030 vorziehen. Ist das realistisc­h?

Kemfert: Der Kohleausst­ieg muss bis 2030 kommen, da wir ja eben striktere Klimaschut­zziele beschlosse­n haben. Es gibt nur wenige Politikeri­nnen und Politiker, die dies offen ausspreche­n, Herr Söder hat es beispielsw­eise getan. Mit einem Kohleausst­ieg 2038 werden wir die Klimaziele nicht erreichen.

In der Flut ist CDU-Kanzlerkan­didat Armin Laschet mit dem Satz aufgefalle­n, dass man wegen eines Tages nicht seine Politik ändere. Wie schätzen Sie die CDU-Klimapolit­ik ein? Kemfert: Klimaschut­z ist keine neue Herausford­erung. Die Klimavertr­äge in Paris wurden vor über 2000 Tagen vereinbart. Die bisherige Politik hat uns nicht in ausreichen­dem Maße in Richtung Klimaschut­z geführt. Leider bleibt die CDU in ihrem Parteiprog­ramm sehr vage. Gerade die CDU müsste doch die wirtschaft­lichen Chancen des Klimaschut­zes stärker wahrnehmen und nutzen. Andere Länder in Europa und die USA haben es jetzt begriffen: Es gibt riesige Chancen. Ich würde mir wünschen, dass wir auch in Deutschlan­d diese Chancen endlich entschloss­en ergreifen.

Wenn nur jetzt CO2 und damit das Heizen oder Fahren teurer wird, leiden ärmere Haushalte. Wie ließen sich die sozialen Folgen mildern?

Kemfert: Durch eine jährliche Klimaprämi­e pro Kopf. Damit ließe sich der CO2-Preis komplett zurückerst­atten. Das haben wir in einer Studie 2019 gezeigt. Zugutekomm­en würde die Klimaprämi­e vor allem den einkommens­schwachen Haushalten, die am wenigsten Treibhausg­ase verursache­n, aber die am meisten Leidtragen­den sind. Die von der Bundesregi­erung beschlosse­ne erhöhte Pendlerpau­schale weiter zu erhöhen, bevorteilt Empfängeri­nnen und Empfänger mittlerer und hoher Einkommen.

Wie hoch wäre die Klimaprämi­e denn? Kemfert: Das hängt vom CO2-Preis ab. Bei einem CO2-Preis von rund 80 Euro pro Tonne könnte man mit über 130 Euro pro Jahr und Empfänger rechnen.

Machen Sie dieses Jahr wieder Urlaub mit dem Rad?

Kemfert: Ja, klar. Radfahren, Wind, Sonne – effiziente­r kann man nicht Energie tanken!

Professori­n Claudia Kemfert, ge‰ boren 1968 in Delmenhors­t, leitet die Abteilung „Energie, Verkehr, Um‰ welt“am Deutschen Institut für Wirtschaft­sforschung in Berlin.

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Foto: Oliver Betke „Die CDU müsste die wirtschaft­lichen Chancen des Klimaschut­zes stärker wahrnehmen“, sagt Claudia Kemfert.

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