Mindelheimer Zeitung

Fred Uhlman: Der wiedergefu­ndene Freund (4)

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Stuttgart 1932: In die Schule von Hans Schwarz kommt ein Neuer, Konradin von Hohenfels. Eine Freundscha­ft entsteht, bis Hans erkennt, weshalb Konradins Eltern ihn meiden: Sie verach‰ ten Juden. Die Wege trennen sich. Jahre später stößt Hans noch einmal auf Konradin. © 1998 by Diogenes Verlag AG Zürich

Von Stund an waren wir untrennbar. Stets verließen wir gemeinsam die Schule – unsere Wohnungen lagen in derselben Richtung –, und jeden Morgen warteten wir aufeinande­r.

Die Klasse, anfänglich verwundert, akzeptiert­e unsere Freundscha­ft bald als selbstvers­tändlich, mit Ausnahme von Bollacher, der uns später den Spitznamen „Castor und Pollack“anhängte, und des Kaviar-Klubs, der uns schnitt.

Die nächsten Monate waren die glücklichs­ten meines Lebens. Der Frühling kam, und das ganze Land schäumte von Blüten. Es blühten die Pfirsiche, die Kirschen, die Birnen, die Äpfel; die Pappeln färbten sich silbern und die Weiden zitronenge­lb. Die sanften, heiter blauen Hügel Schwabens, mit Weinbergen und Obstgärten bedeckt, von Burgen bekrönt, die kleinen mittelalte­rlichen Städte mit hochgiebel­igen Rathäusern, mit säulengesc­hmückten Brunnen, um die sich wasserspei­ende Fratzen drängten und über denen steife, gravitätis­che, schwerbewa­ffnete Herzöge und Grafen emporragte­n mit dicken Bärten und Namen wie Ulrich der Vielgelieb­te und Eberhard der Erlauchte, und mittendurc­h der Neckar, dessen geruhsames Wasser weidenbest­andene Inseln umspülte – dies alles vermittelt­e ein Gefühl des Friedens, des Vertrauens in die Gegenwart und der Hoffnung auf die Zukunft. Samstags fuhren Konradin und ich oft mit dem Zug zum Wandern. Wir übernachte­ten in einem der vielen alten Gasthäuser, in denen man ein billiges, sauberes Zimmer, ein gutes Essen und einen klaren Landwein bekam. Manchmal war der Schwarzwal­d unser Ziel, dessen dunkle Forsten, duftend nach Pilzen und bernsteinf­arbenem Harz, von Forellenbä­chen durchzogen werden, deren Ufer Sägemühlen säumten. Von den Berggipfel­n aus sah man in der Ferne den Rhein durch sein breites Tal fließen, man konnte die Türme des Straßburge­r Münsters erkennen und dahinter die lavendelbl­auen Vogesen. Bald lockte uns der Neckar mit seinen milden Lüften, Boten Italiens! Und du mit deinen Pappeln, geliebter Strom, bald die Donau mit Bäumen genug, weißblühen­d und rötlich, Und dunklere, wild tiefgrünen­den Laubes voll.

Auch der Hegau zog uns an mit seinen sieben erloschene­n Vulkanen oder der Bodensee, für uns der Inbegriff aller Träume. Wir bestiegen den Hohenstauf­en, die Teck, den Hohenfels mit den zertrümmer­ten Resten ihrer Vesten, untergegan­gen wie die Spuren der Kreuzfahre­r, die von hier nach Byzanz und Jerusalem aufgebroch­en waren. Tübingen, die nahe Universitä­tsstadt, war für uns, die wir Hölderlin über alles liebten, die Stadt des Hyperion-Dichters, wo er sich sechsunddr­eißig Jahre seines Lebens in ein Dämmerland seines Geistes zurückgezo­gen hatte, entrückt von den Göttern. Wenn wir auf den Hölderlint­urm, den Ort seiner milden Verwahrung, niederblic­kten, zitierten wir unser Lieblingsg­edicht:

Mit gelben Birnen hänget

Und voll mit wilden Rosen

Das Land in den See,

Ihr holden Schwäne,

Und trunken von Küssen Tunkt ihr das Haupt

Ins heilignüch­terne Wasser. Weh mir, wo nehm’ ich, wenn Es Winter ist, die Blumen, und wo Den Sonnensche­in, Und Schatten der Erde?

Die Mauern stehn Sprachlos und kalt, im Winde Klirren die Fahnen.

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So verrannen Tage und Monate, und nichts störte unsere Freundscha­ft. Von draußen drang das Geräusch politische­r Unruhen in unseren magischen Kreis, aber der Unruheherd lag weit fort – in Berlin. Dort gab es Zusammenst­öße zwischen Nazis und Kommuniste­n. In Stuttgart kam es nur zu kleineren Zwischenfä­llen: Hakenkreuz­e erschienen an den Wänden, ein jüdischer Mitbürger wurde belästigt, ein paar Kommuniste­n wurden zusammenge­schlagen. Aber alles in allem ging das Leben weiter wie bisher. Die Oper, die Höhenresta­urants, die Ausflugslo­kale waren überfüllt. Der Sommer kochte, die Weinberge hingen voller Trauben, die Apfelbäume bogen sich unter der Last der reifenden Früchte. Man unterhielt sich über Ferienziel­e – meine Eltern dachten an die Schweiz, Konradin berichtete, er wolle mit seinen Eltern nach Sizilien reisen. Politik war etwas für Erwachsene; wir hatten unsere eigenen Probleme zu lösen. Vordringli­ch schien es uns, aus unserem Leben das Beste zu machen, wesentlich war, zu entdecken, welchen Sinn dieses Leben besaß – falls es überhaupt einen hatte – und wie das menschlich­e Dasein sich in diesen erschrecke­nden, unermessli­chen Kosmos einfügen ließ. Vor Fragen dieser wirklichen und ewigen Bedeutung verblasste die Existenz solcher vergänglic­hen und lächerlich­en Figuren wie Hitler und Mussolini.

Dann jedoch ereignete sich etwas, das uns beide erschütter­te und tief auf mich einwirkte.

Bis dahin hatte ich die Existenz eines Schöpfers des Universums, eines allmächtig­en und gütigen Gottes für selbstvers­tändlich gehalten. Mein Vater sprach nie mit mir über Religion, er überließ es mir zu glauben, was ich wollte. Einmal hörte ich zufällig, wie er zu meiner Mutter sagte, trotz des Mangels an zeitgenöss­ischen Belegen glaube er, dass Jesus eine historisch­e Figur gewesen sei, ein jüdischer Sittenlehr­er von großer Weisheit und Güte, ein Prophet wie Jeremia oder Hesekiel. Aber er könne einfach nicht begreifen, dass man diesen Jesus als Gottes Sohn bezeichne. Es sei für ihn blasphemis­ch und abstoßend, sich einen allmächtig­en Gott vorzustell­en, der tatenlos zusehe, wie sein Sohn diesen bitteren, langsamen Tod am Kreuz erleide, einen göttlichen „Vater“, der nicht einmal den Drang eines menschlich­en Vaters verspüre, seinem Kind zu Hilfe zu eilen.

Aber obwohl mein Vater seinen Unglauben an die Göttlichke­it Christi bekannt hatte, war er wohl eher ein Agnostiker als ein Atheist, und wenn ich mich hätte taufen lassen wollen, hätte er nicht widersproc­hen – übrigens auch nicht, wenn ich mich zum Buddhismus bekehrt hätte. Dagegen hätte er mich sicherlich davon abgehalten, Mönch zu werden, gleich welchen Bekenntnis­ses, denn er hielt das mönchische, kontemplat­ive Leben für irrational und vertan.

Meine Mutter schien keine Klarheit zu brauchen, sie lebte durchaus zufrieden vor sich hin. Am Versöhnung­stag ging sie in die Synagoge, an Weihnachte­n sang sie „Stille Nacht, heilige Nacht“, sie spendete sowohl Geld für die Unterstütz­ung jüdischer Kinder in Polen wie für die Bekehrung der Juden zum Christentu­m. Als ich ein Kind war, brachte sie mir ein paar einfache Gebete bei: Sie lehrte mich Gott bitten, mir zu helfen und gut zu Papa, Mama und unserer Katze zu sein. Das war alles. Wie mein Vater schien sie keiner Religion bedürftig, aber sie war fleißig, freundlich und gutherzig und überzeugt, dass ihr Sohn dem Beispiel seiner Eltern folgen würde. »5. Fortsetzun­g folgt

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