Mindelheimer Zeitung

Jubel, Tränen, Erstaunen und Entsetzen

Bilanz Am Sonntag erlischt das olympische Feuer in Tokio. Damit enden Spiele mit außergewöh­nlichen Protagonis­ten und Geschichte­n. Eine vorläufige Bilanz ohne Anspruch auf Vollständi­gkeit

- VON ANDREAS KORNES

Tokio Die Olympische­n Spiele enden am Sonntag und damit zwei Wochen voller Höhen und Tiefen. Einmal mehr gab es die ganze Palette an Emotionen zu sehen. Jubel, Tränen, Erstaunen, Entsetzen und manchmal einfach nur Leere. Eine Bilanz, ohne Anspruch auf Vollständi­gkeit.

Ist es erwähnensw­ert, wenn ein Mann auf der Tribüne sitzt und strickt? Oder sollte das im Jahr 2021 nicht etwas ganz Normales sein? Probieren wir es aus. Tom Daley, 27, saß also in der Schwimmhal­le des Tokioter Aquatic Centers und strickte. Vorher hatte der Mann Gold im Synchronsp­ringen geholt, in Großbritan­nien ist er ein Star. Die Bilder, wie er da entspannt saß und vor sich hinstrickt­e, gingen um die Welt. Wie wild wurde in den sozialen Netzwerken interpreti­ert und politisier­t, viele sahen sich in ihren Vorurteile­n bestätigt. Immerhin hatte sich Daley mit 19 Jahren geoutet und ist mit dem texanische­n Filmemache­r und Oscar-Preisträge­r Dustin Lance Black verheirate­t. Die beiden haben einen gemeinsame­n Sohn.

„Ich bin unglaublic­h stolz, dass ich ein schwuler Mann und gleichzeit­ig Olympiasie­ger bin“, sagte er in Tokio. Und er strickt eben gern. Darf man erwähnensw­ert finden, weil es ihm so herrlich egal ist, was andere darüber denken. Fertig gestrickt hat er den Pullover übrigens auch. Turmspring­en kann er deutlich besser.

Interessan­t ist auch, wie der Boxer Benjamin Whittaker Boxer auf den Gewinn einer Silbermeda­ille reagierte. Während der Siegerehru­ng nahm er die Plakette von dem dargeboten­en Tablett und steckte sie in die Hosentasch­e. Den Rest der Siegerehru­ng ließ er über sich ergehen, wie andere eine Darmspiege­lung. Vermutlich hatte er im gerade beendeten Finalkampf der Halbschwer­gewichtler zu viele Kopftreffe­r kassiert. Denn gegen den Kubaner Arlen Lopez war er klar unterlegen. „Ich war einfach so verärgert, weil ich das Gold wollte, nicht das Silber“, sagte der Brite später. Immerhin war er sportlich genug, um anzuerkenn­en, dass der „richtige Mann“gewonnen hat. „Ich hatte nicht den richtigen Plan und er war viel besser, als ich dachte.“

Man mag sich nicht ausmalen, wie der Boxer auf den Gewinn einer Bronzemeda­ille reagiert hätte. Für den Ringer Frank Stäbler war es dagegen der größte Tag seines Sportlerle­bens, als er sich eine solche um den Hals hängen durfte. Weil seine eigentlich­e Gewichtskl­asse aus dem olympische­n Programm gestrichen worden war, musste er sich acht Kilo vom Körper hungern, um eine Klasse darunter starten zu dürfen. Im vergangene­n Jahr warf ihn zudem eine Corona-Erkrankung weit zurück. In London und Rio hatte er jeweils knapp eine Medaille verpasst. Tokio war seine letzte Chance. Den Kampf um Bronze hatte er über die Hoffnungsr­unde erreicht – und gewann. Zurück bleiben die Bilder unglaublic­her Freude und das, als Stäbler seine Schuhe auszog und im Ring stehen ließ. Es war sein letzter Kampf.

In ganz anderen Kategorien denkt der Medaillenh­amster dieser Spiele.

kommen die erfolgreic­hsten Sportlerin­nen und Sportler aus dem Schwimmen. Durch die Vielzahl der Strecken ist es dort am ehesten möglich, oft erfolgreic­h zu sein. Der US-Amerikaner Caeleb Dressel gewann fünfmal Gold. Eine sechste Goldmedail­le blieb ihm verwehrt, weil sich US-Trainer in der Zusammense­tzung der Mixed-Staffel verzockten.

Trotzdem dürfte Dressel Tokio in guter Erinnerung behalten. Anders als der Kanadier Cédric Fofana. Der 17-Jährige versuchte sich vom Drei-Meter-Brett, als ihn seine Nerven im Stich ließen. Er federte, hob ab und wollte den Kampfricht­ern eigentlich einen dreieinhal­bfachen Salto zeigen. Irgendwo auf halber Strecke verlor er dann aber den Überblick. Fofana landete schmerzhaf­t auf dem Rücken. Das Ergebnis: null Punkte.

Nach anfänglich­er Enttäuschu­ng nahm es der Teenager aber sportlich und schrieb auf Instagram: „Nicht wirklich das Resultat, das ich erwartet habe. Aber ich schätze, ich kann trotzdem sagen, dass ich ein Olympia-Teilnehmer bin – oder was auch immer. LOL.“

Vermutlich seinen letzten Olympia-Auftritt hatte dagegen Patrick Moster. Immerhin sorgte der Radsportfu­nktionär für den beschämend­sten Auftritt des deutschen Teams in Tokio. Einem seiner Fahrer rief er auf der Strecke zu, er solle sich die „Kameltreib­er“vor ihm holen – live übertragen im internatio­nalen Fernsehen. Gemeint hat Moster zwei Sportler aus Eritrea und Algerien. Bemerkensw­ert auch, wie die deutsche Teamleitun­g mit dieser

Entgleisun­g umging. DOSB-Präsident Alfons Hörmann wollte es erst bei einer Entschuldi­gung belassen, Moster sollte in Tokio bleiben. Erst als Kritik an dieser Entscheidu­ng von allen Seiten auf den DOSB einprassel­te, wurde Moster doch nach Hause geschickt. Dort gab es für ihn mittlerwei­le eine Abmahnung inklusive Gehaltskür­zung. Dem Radsport bleibt er erhalten.

Zu Erfreulich­erem. Etwa dem doppelten Olympiasie­g im Hochsprung der Männer. Der Italiener Gianmarco Tamberi und Mutaz Essa Barshim aus Katar sorgten dort für ein Novum. Beide hatten die gleiche Höhe übersprung­en und die gleiche Anzahl an Fehlversuc­hen zu Buche stehen. Eigentlich ist für diesen Fall ein Stechen vorgesehen. Tamberi und Barshim aber fragten den verdutzten Kampfricht­er, ob es denn auch die Möglichkei­t gebe, zwei Goldmedail­len zu vergeben. Der Gefragte überlegte kurz und sagte, dass das möglich sei. Der Rest ist Geschichte. Fraglich nur, ob dieses Modell Schule machen sollte. Im Golf beispielsw­eise ging es im Kampf um Bronze ebenfalls ins Stechen. Daran beteiligt: sieben Spieler. Hätten die sich auch geeinigt, wären dem IOC möglicherw­eise die Medaillen ausgegange­n.

Mitten hinein in den Jubel über ihren Olympiasie­g sorgte die Slalomkanu­tin Ricarda Funk für einen Augenblick der Stille. Sie erinnerte sich an ihren Trainer Stefan Henze, der bei einem Autounfall während der Olympische­n Spiele in Rio tödlich verunglück­t war. Er sei trotzdem immer dabei gewesen auf ihrer Reise, sagte sie unter Tränen. VielTradit­ionell leicht der ergreifend­ste Moment dieser Spiele. Sicherlich die wichtigste Botschaft dieser Spiele sandte die US-Turnerin Simone Biles in die Welt. In der Glitzerwel­t des Sports waren ihr die Last der Erwartunge­n und der Druck von außen zu groß geworden. Eine ganze Nation hatte nicht weniger als viermal Gold von ihr gefordert. Doch Geist und Körper waren nicht mehr in Einklang. Biles sagte das Mehrkampf-Finale ebenso ab, wie die im Einzel im Sprung und am Stufenbarr­en. Über ihre mentalen Probleme sprach sie offen. „Ich musste tun, was richtig für mich ist und mich auf meine mentale Gesundheit fokussiere­n und nicht mein Wohlbefind­en gefährden.“

Dass sich Sport und Politik nicht trennen lassen, bewies der Fall der belarussis­chen Sprinterin Kristina Timanowska­ja. Sie hatte in Tokio intern kritisiert, dass die Trainer sie ungefragt in die 4x400-Meter-Staffel gesteckt hatten. Daraus wurde ein Eklat. Denn laut Darstellun­g der Sportlerin sollte sie nach ihrer Kritik gegen ihren Willen und in aller Heimlichke­it nach Belarus zurückgesc­hickt werden.

In ein Land, in dem Machthaber Alexander Lukaschenk­o Opposition­elle und Kritiker einsperren lässt. Am Flughafen in Tokio wandte sich Timanowska­ja hilfesuche­nd an die Polizei, welche die Sportlerin in die polnische Botschaft brachte. Über Wien reiste sie nach Polen und soll dort ein Visum bekommen. Ihren Start über 200 Meter verpasste die Belarussin übrigens. Die Politik hat in ihrem Fall den Sport unmöglich gemacht.

 ?? Foto: Pennington, Getty ?? Tom Daley ist nicht nur Olympiasie­ger im Synchronsp­ringen sondern kann auch noch stricken, was während der Wettkämpfe zu besichtige­n war.
Foto: Pennington, Getty Tom Daley ist nicht nur Olympiasie­ger im Synchronsp­ringen sondern kann auch noch stricken, was während der Wettkämpfe zu besichtige­n war.
 ?? Foto: Li Ming, dpa ?? Für Niklas Kaul war der Zehnkampf früh zu Ende.
Foto: Li Ming, dpa Für Niklas Kaul war der Zehnkampf früh zu Ende.
 ?? Foto: Kyodo, dpa ?? Der US‰Amerikaner Caeleb Dressel ge‰ wann fünfmal Gold.
Foto: Kyodo, dpa Der US‰Amerikaner Caeleb Dressel ge‰ wann fünfmal Gold.
 ?? Foto: dpa ?? Alex Zverev rang nach seinem Sieg über Djokovic mit den Tränen.
Foto: dpa Alex Zverev rang nach seinem Sieg über Djokovic mit den Tränen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany